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Das Hitlersyndrom

Das Hitlersyndrom

Deutschland ist auch 80 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur geistig ein Gefangener des ehemaligen „Führers“ geblieben. Symptom dieser Fixierung ist die verkrampfte Abwehr alles „Irrationalen“.

Das Gespenst des Irrationalismus

Wer Tiefe und Breite der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus an der Zahl der seit 1945 erschienenen Veröffentlichungen misst, und diese ist Legion, wird leicht ein falsches Bild bekommen. Misstrauisch beäugt vom Ausland, haben sich die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg daran gemacht, die eigene Vergangenheit loszuwerden, sie abzuschütteln und zu verdrängen und sich als gelehrige Schüler der Alliierten zu erweisen.

Der Nationalsozialismus hatte sich als die Vollendung der deutschen Geschichte ausgegeben, als die Erfüllung aller deutschen Hoffnungen, Mythen, schöpferischen Irrationalismen, als die Vereinigung von Kunst und Macht, Geist und Staat.

Der beispiellose Trümmerhaufen, den das niedergezwungene Dritte Reich hinterließ, hatte auch das Ideengut ganzer Epochen der deutschen Geistesgeschichte unter sich begraben; Motive, Bilder und Mythologeme nationaler Prägung waren vom Nationalsozialismus konsequent vereinnahmt, pervertiert, besudelt worden.

Die materiellen Trümmer wurden im Laufe der Jahrzehnte beseitigt, doch die seelisch-geistigen Verwüstungen, die der Verlust der nationalen Identität und der schöpferisch irrationalen Komponente im deutschen Geist verursacht hat, sind bis heute immens geblieben.

Sicher hängt dies auch mit jener von Hans Jürgen Syberberg leidenschaftlich beklagten „materialistischen Pseudo-Aufklärung“ im Nachkriegsdeutschland zusammen, mit der „verkrampften deutschen Rationalität“ (1), die seitdem vielfach zu beobachten ist und nur auf dem Hintergrund des exzessiven Nazi-Irrationalismus begreifbar wird. Hieraus ist eine Verteufelung des Irrationalen schlechthin erwachsen, die beträchtliche Breitenwirkung gewonnen hat. „Irrationalismus“ ist nachgerade zum Schmähwort geworden, zum Synonym alles dessen, was gleichsam notwendig zum Faschismus, zur Barbarei und zum Völkermord führt. Das hat deutsche Tradition. Schon Klaus Mann schreibt in seinem berühmten Brief an Gottfried Benn vom 9. Mai 1933:

„Es scheint ja heute ein beinah zwangsläufiges Gesetz, dass eine zu starke Sympathie mit dem Irrationalen zur politischen Reaktion führt, wenn man nicht höllisch genau achtgibt. Erst die große Gebärde gegen die ‚Zivilisation’ — eine Gebärde, die, wie ich weiß, den geistigen Menschen nur zu stark anzieht—; plötzlich ist man beim Kultus der Gewalt, und dann schon beim Adolf Hitler“ (2).

Ein Beispiel aus den letzten Jahren: Im Frühjahr 1981 schreibt Rudolf Augstein in seiner Titelgeschichte des Spiegel über Nietzsche und Hitler:

„Steht Deutschland eine Nietzsche-Renaissance bevor? Ganz gewiss, wenn die Vernunft zertrümmert, wenn der heilige Irrationalismus gepriesen wird“ (3).

Für Augstein ist Nietzsche „der Zertrümmerer jeglicher Vernunft“ (4), und ganz unverkennbar neigt er der Lukacs-These von Hitler als dem „Testamentsvollstrecker Nietzsches“ zu. Gleichwohl bestreitet er jeden nachweisbaren Kausalzusammenhang zwischen Nietzsche und Hitler.

Auch wer, wie Syberberg, ausdrücklich vom schöpferischen Irrationalismus der Deutschen spricht, den es wiederzugewinnen gelte, sieht sich schnell verunglimpft und mit trüben Verdächtigungen bedacht. Auf Schulen und Universitäten wird mehr als je zuvor die Behauptung verbreitet, der „deutsche Irrationalismus“, was immer damit gemeint ist, sei zumindest potentiell faschistisch; dagegen werden Ratio und Humanität beinahe als austauschbare Begriffe behandelt. Diese Gleichsetzung entstammt der Aufklärungsepoche, hat aber im Deutschland nach 1945 eine bedenkliche Dogmatisierung erfahren. Und die Hilflosigkeit in der adäquaten Auseinandersetzung mit Wirklichkeitsbereichen außerhalb der engen Grenzen der Ratio ist allenthalben spürbar. Dies hat zu einer beachtenswerten Verarmung der Sprache geführt, die wiederum mit seelisch-geistiger und ästhetischer Verkümmerung verbunden ist.

Dass der Nationalsozialismus im letzten aus politischen, ökonomischen und sozialen Ursachen heraus zu erklären sein müsse, ist die kaum ernsthaft angezweifelte Prämisse sowohl akademischer als auch journalistischer Bemühungen. Man gibt sich rational, realitätsbewusst und, je nach Standort, sozialistisch oder bürgerlich-humanistisch. Nur selten werden tiefenpsychologische, mythen- und religionsgeschichtliche oder anthropologische Forschungsergebnisse in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus integriert. Die Sphäre der Metaphysik — oder was man darunter versteht — wird fast ausschließlich in den Bereich der Ideologie, der ideologischen Verschleierung oder Absicherung von Herrschaft verwiesen. Die damit verbundene Vereinseitigung der Perspektive ist offenkundig ein Symptom der erwähnten Verkümmerung und Verarmung.

Der deutsche Geist unserer Tage ist in ein enges Korsett eingeschnürt, was seiner Produktivität nicht eben förderlich ist. Überall beobachtbar sind die Zeichen der Lohndienerei dem angeblichen Zeitgeist gegenüber, der Korrumpierung und rechthaberischen Verbissenheit.

Wer mit eigenen Arbeiten hervortritt, tut dies häufig genug mit ängstlichem Blick auf die zu erwartende Resonanz bei jenen Persönlichkeiten und Institutionen, die das Meinungsbild der Öffentlichkeit — die Summe der herrschenden Vorurteile — maßgebend beeinflussen. Mehr als bei anderen Themen gilt dies beim Thema Nationalsozialismus, wo der Boden voller Fußangeln steckt und „Beifall von der falschen Seite“ genauso unliebsam ist wie der öffentliche Verriss, die politisch-moralische Verurteilung. Es ist schwer, sich dabei ein gewisses Maß an geistiger Unkorrumpiertheit zu erhalten.

Hitler-Syndrom im deutschen Geist?

Wie war Hitler möglich? Genauer: Wie war Hitler in Deutschland möglich? Es scheint, als ob diese Frage bis heute nicht wirklich überzeugend beantwortet zu werden vermochte. Die unüberschaubare Flut der Veröffentlichungen zum Nationalsozialismus und zu Hitler kann darüber keineswegs hinwegtäuschen. Hitler ist ein psychologisches Rätsel und ein abschreckendes Faszinosum geblieben, ebenso seine beispiellosen Erfolge in der Erzeugung massenhysterischen Jubels, pseudoreligiöser Begeisterung und Heilserwartung. Zuweilen drängt sich der Eindruck auf, als sei er auch Jahrzehnte nach seinem Tode noch immer die gleichsam willkommene Projektionsfigur für alle Negativtendenzen des Jahrhunderts; Hitler als „Inkarnation des Bösen“: das enthebt aller geschichtlich-psychologischen Ursachenforschung genauso wie die These von Hitler als einer „Marionette des Großkapitals“ oder ähnliches.

Mehr denn je erscheint es geboten, nicht auf der Stufe moralischer Empörung stehenzubleiben; und das berechtigte Erschrecken über die Dimensionalität der begangenen Verbrechen sollte keine Alibifunktion haben für nicht geleistete innere „Bewältigung“.

Sich existentiell als Deutscher auf Hitler und das durch ihn Ausgelöste einzulassen, ist ein schmerzhafter Prozess. Auch hat Hitler, wie Sebastian Haffner mit Recht hervorhebt, langfristig keinem Volk mehr geschadet als dem deutschen. Das nahezu hoffnungslos gestörte Verhältnis der heutigen Deutschen zu sich selbst und zur eigenen Geschichte hängt damit zusammen. Und die durch Hitler bewirkten Pathologien und Verkrampfungen im deutschen Bewusstsein sind nur mit Mühe auszuloten; sie werden auch an der Wirkung des vorliegenden Buches ablesbar sein.

Nietzsche, Hitler und die Deutschen: das ist zunächst ein Beitrag zu der Frage, wie Hitler in Deutschland möglich war. Was ich darzustellen versuche, ist ein Stück Bewusstseinsgeschichte der Deutschen, die zugleich ein Stück „Archetypen-Geschichte“ ist. Als Deutscher bin ich selbst in diese Geschichte verwoben, und es wäre unredlich, dies geringzuachten oder gar zu leugnen. Es gibt keinen archimedischen Punkt, der es mir ermöglichte, Vorgeschichte und Geschichte des Nationalsozialismus mit dem nüchternen Auge desjenigen zu betrachten, der existentiell nicht betroffen ist. Nietzsche, Hitler und die Deutschen: das ist auch die Frage nach dem Hitler-Syndrom im deutschen Geist.

Pervertierter Aufstand, pervertierte Vision

Der vorliegende Versuch basiert im Kern auf einer zentralen These, einer Grundannahme: Der Nationalsozialismus war die Perversion einer Revolte gegen den Nihilismus und die lebensfeindliche Grundtendenz des modernen Industriesystems, ein verhunzter und darum gescheiterter Versuch, den Ausrottungsfeldzug gegen die Natur zu stoppen, der sich schon damals abzeichnete. Diese Revolte gegen den Nihilismus stand im Zeichen der Vision eines Neuen Zeitalters, einer anthropologischen Wende, eines weltgeschichtlichen Umbruchs in Richtung auf die Versöhnung von Natur und Geist, auf ein neues, nicht-entfremdetes Naturverständnis.

Der Nationalsozialismus war verhunzter Weltheilungsversuch, verhunzter Messianismus, monströs verzerrtes Bemühen, Macht zu sakralisieren und Politik spirituell zu begründen. Er war ein Stück weit vulgarisierte Lebensphilosophie als Polit-Religion oder Polit-Sekte mit Hitler als Guru.

Zugleich war er pervertierter Aufstand des Mythos gegen die lebensfernen Abstraktionen und Projektionen eines eindimensionalen, mechanistischen Denkens. Dieser so zum Scheitern verurteilte Aufstand machte archetypische und spirituelle Seelenenergien zu Dominanten des kollektiven Bewusstseins und trug derart zu jener Besudelung des Mythischen bei, die bis heute nicht überwunden wurde.

Der Nationalsozialismus war die Zerrform einer in der Substanz berechtigten deutschen Visionssuche, die wir zunächst einmal als solche begreifen müssen, um an Tiefenschichten unseres Bewusstseins heranzukommen. Diese Tiefenschichten können zum schöpferischen Kraftquell werden. Die Suche nach einer neuen Vision heute bedarf der gereinigten, bewusstgemachten und weisheitsvoll eingesetzten Energien: der „umgepolten“ Tiefenkräfte von damals.

Zunächst bedarf es grundsätzlicher Klärungen: Was heißt Nihilismus?

Und: Was hat es auf sich mit jenen archetypischen Kräften, die den „Aufstand des Mythos“ in dem angedeuteten Sinne bestimmten?

Im abendländischen Nihilismus des 19. und 20. Jahrhunderts sind vier Komponenten vereint:

  1. Die Entwertung oder „Ver-Nichtsung“ aller metaphysischen und religiösen Werte. Ernst Jünger: „Leon Bloys ‚Dieu se retire‘ bezeichnet besser die große Wandlung als Nietzsches ‚Gott ist tot‘“ (6).
  2. Das zunehmend bedrohlicher werdende Gefühl der kosmischen Verlorenheit des Menschen als Konsequenz der Überwindung des geozentrischen Weltbildes — der Mittelpunktstellung der Erde —, das Grauen vor der Leere des unendlichen Raumes, der des Göttlichen nicht mehr bedarf und dem Menschen seine metaphysische Würde raubt. Der Raum wird zum Nichts, der Mensch zum kosmisch bedeutungslosen Wesen an der Schwelle des Nichts.
  3. Der globale Siegeszug der entgöttlichten Zahl, der mathematischen Abstraktion, der zunehmenden Mathematisierung der Welt. „Die Zahl als Ziffer ist den Göttern feindlich, und ihr Triumph bedeutet deren Sturz.“ (7) In dem Essay „Zahlen und Götter“ spricht Jünger von der „ununterbrochenen Abstrahlung von Systemen, die mit der denaturierten oder im pythagoräischen Sinne entgöttlichten Zahl arbeiten“. „Sie lässt nur Funktionen, nicht aber Bilder, seien es Ideen oder Gestalten, durchdringen.“ (8) Der Siegeszug der mathematischen Zahl, der sich auch in der privat- und staatskapitalistischen Quantifizierung des Güterwertes manifestiert, ist zugleich der Siegeszug des vom Lebendigen losgelösten Intellekts.
  4. Die Möglichkeit der „Ver-Nichtsung“ des Lebens — als „aktiver Nihilismus“, wie Nietzsche sagt, als „Wille zum Nichts“. „Lieber will noch der Mensch das Nichts wollen als nicht wollen.“ (9) Die Totalmathematisierung macht die Welt nicht nur sinnlos, sondern auch zerstörbar. Die Atombombe ist der Ausdruck des meist unbewussten Willens zur „Ver-Nichtsung“ des Lebendigen, des „nihilistischen Willens zur Macht“.

Der stark von Nietzsche beeinflusste Ludwig Klages schreibt schon im Jahre 1913:

„Wir täuschten uns nicht, als wir den ‚Fortschritt‘ leerer Machtgelüste verdächtig fanden, und wir sehen, da Methode im Wahnwitz der Zerstörung steckt. Unter den Vorwänden von ‚Nutzen‘, ‚wirtschaftlicher Entwicklung‘, ‚Kultur‘ geht er in Wahrheiten auf *Vernichtung des Lebens aus“ (10).

Die Revolte gegen den Nihilismus zielt darauf ab — bewusst oder unbewusst —, das Göttliche oder die Götter „zurückzurufen“, was zugleich eine Wiederbelebung des Mythos bedeutet, die Zahl wieder zu „vergöttlichen“, das heißt ihrer todbringenden Abstraktion zu entkleiden. Dies geschieht primär im orphisch-pythagoreischen Klangzauber der Musik. Gleichzeitig soll die Natur vom „Gitterwerk der Abstraktion“ erlöst werden.

Die Revolte gegen den Nihilismus ist auch eine Revolte gegen die Hypertrophierung des Intellekts, die Tyrannei verstandesmäßiger Abstraktion. Nietzsche, der große Diagnostiker des Nihilismus und der modernen Seele, leitet die letzte, entscheidende Phase der Revolte ein: Er radikalisiert den nachkopernikanischen Nihilismus der kosmischen Verlorenheit und Winzigkeit des Menschen und versucht ihn zugleich ekstatisch und mit der Magie seines künstlerisch-philosophischen Machtwillens zu überwinden.

In den drei bis vier Jahrzehnten vor der sogenannten Machtergreifung durch Hitler wirken Nietzsches Gedankenimpulse als starke Prägekräfte im Bewusstsein der deutschen Intelligenz; hinzu kommt die Wirksamkeit des „Prinzips Bayreuth“, des Wagner-Erbes, auf das sich auch rassistische Sektierer berufen, sowie ein vages Umbruchs-, ja Endzeitbewusstsein. Der antinihilistische Impuls erfahrt durch Nietzsche eine antisokratische, antichristliche und durch Richard Wagner eine antisemitische Stoßrichtung, die sich auf den verschiedensten Bewusstseinsebenen auswirkt.

Nur selten werden Antisemitismus und Anti-Christentum so unverhüllt als Einheit aufgefasst wie im Werk von Ludwig Klages. Verstecktere Gleichsetzungen sind schon erheblich häufiger. Mit Blick auf die „deutsche nationalsozialistische Revolution“ stellt Sigmund Freud 1939 die These auf, dass der europäische Judenhass „im Grunde Christenhass“ sei, Antisemitismus und Anti-Christentum also aufs engste zusammengehörten (11). Auch hierfür haben nicht zuletzt Nietzsche und Wagner als Impulsgeber gewirkt: Nietzsche, der den Antisemitismus verbal mit Verachtung bedenkt, sieht doch im Christentum und den „modernen Ideen“ die letzte Konsequenz des durch die Juden eingeleiteten „Sklavenaufstands in der Moral“ gegen die aristokratische Grundordnung der Natur und die „vornehmen“ Werte. In der „Genealogie der Moral“ heißt es:

„... die Juden, jenes priesterliche Volk, das sich an seinen Feinden und Überwältigern zuletzt nur durch eine radikale Umwertung von deren Werten, also durch einen Akt der geistigen Rache Genugtuung zu schaffen wusste. So allein war es eben einem priesterlichen Volke gemäß, dem Volke der zurückgetretensten priesterlichen Rachsucht. (...) Man weiß, wer die Erbschaft dieser jüdischen Umwertung gemacht hat... Dieser Jesus von Nazareth ... war er nicht gerade die Verführung in ihrer unheimlichsten und unwiderstehlichsten Form, die Verführung und der Umweg zu ebenjenen jüdischen Werten und Neuerungen des Ideals? Hat Israel nicht gerade auf dem Umwege dieses ‚Erlösers’, dieses scheinbaren Widersachers und Auflösers Israels, das letzte Ziel seiner sublimen Rachsucht erreicht?“ (12).

Richard Wagner, seit der Jahrhundertmitte prononcierter Antisemit, will Jesus „entjudaisieren“, will den eigentlichen Kern des Christentums vom Judentum erlösen — eine der Bedeutungsschichten seines „Parsifal“. — Die Nationalsozialisten übernehmen wesentliche Elemente dieser Revolte, vereinnahmen sie und tragen zunehmend zu deren Pervertierung und Verhunzung bei.

In Hitler und Himmler erreicht die Perversion ihren Gipfelpunkt und führt zur menschenverachtenden Barbarei unvorstellbaren Ausmaßes. Hitler wird zum Erfüllungsgehilfen derjenigen Kräfte, die er zu bekämpfen vorgibt. Und erst nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches entfaltet der Nihilismus der mathematischen Naturwissenschaft seine größte Wirkungsmächtigkeit. Der Kosmos als Integral alles Lebendigen rückt in äußerste Feme, und das Leben auf dem Planeten Erde ist nunmehr als Ganzes bedroht.

Archetypen und mythische Realitäten

Ich sprach vom „Aufstand des Mythos“ und den hierin wirksam gewordenen archetypischen Energien als einer wichtigen Komponente des antinihilistischen Impulses. Dass überhaupt archetypische Prägekräfte, also Urbilder in überindividuellen Tiefenschichten der Psyche, in einem derartigen Ausmaß zur Geschichtswirksamkeit zu gelangen vermochten, wie dies in Deutschland in Form einer kollektiven Neurose geschah, hat auch zu tun mit jenem Bemühen, der Sogkraft des politischen und geistigen Vakuums, der Fundamentalkrise des europäischen Geistes nach 1918 entgegenzuwirken, den Nihilismus zu überwinden.

Es war zugleich die Selbstzurücknahme, Selbstauflösung oder Resignation des Geistes überhaupt — eine Art „Flucht in die Archetypen“ als Ausweg aus der Krise. Der deutsche Geist stürzte gleichsam in seinen eigenen Abgrund; er, dem man einen vergrübelten Hang zu den lichtfernen Tiefen des Seins nachsagte, zur „Irrationalität“, und damit — nach Maßgabe rationalen Wirklichkeitsverständnisses — zur Realitätsferne, zur „mythischen Politikfremdheit“ (13). Der „Ausweg aus der Krise“ enthüllte sich als einer der schauerlichsten Irrtümer der neueren Geschichte.

In C. G. Jungs „Wotan“-Aufsatz von 1936 wird die religiöse oder quasireligiöse Dimension des Nationalsozialismus ernstgenommen und dieser erstmalig tiefenpsychologisch als massenneurotisches Phänomen gedeutet. Dass man dieser Deutung zuweilen selbst den Vorwurf des „Irrationalen“, ja Faschistoiden gemacht hat, sei hier in Parenthese vermerkt. Jung schreibt: „Wo nicht der einzelne, sondern die Masse sich bewegt, da hört menschliche Regulierung auf, und die Archetypen fangen an zu wirken, wie es auch im Leben des Individuums geschieht, wenn es sich Situationen gegenübersieht, welche mit den bekannten Kategorien nicht mehr zu bewältigen sind.“ (14) Jung wertet die Wirksamkeit archetypischer Bestimmungsfaktoren primär als Regression, als krisengeborenen Rückfall in archaische, vorrationale Seelenschichten.

Archetypen sind nach Jung und seiner Schule eigenständige seelische Realitäten, dynamische Faktoren im Kollektiven Unbewussten, die sich in Riten, Mythen und Symbolen der Frühgeschichte genauso nachweisen lassen „wie in Träumen, Phantasien und schöpferischen Gestaltungen des gesunden und kranken Menschen unserer Zeit“. Die Wirkung der Archetypen oder eines bestimmten Archetypus „erscheint in positiven und negativen Emotionen, in Faszinationen und Projektionen, aber auch in Angst, dem Gefühl des Überwältigtseins des Ich und in manischen Erhobenheits- ebenso wie in Depressionszuständen“.

„Jede die Gesamtheit der Persönlichkeit erfassende Stimmung ist Ausdruck der dynamischen Wirkung eines Archetyps, unabhängig davon, ob diese vom Bewusstsein des Menschen angenommen oder abgelehnt wird, ob sie unbewusst bleibt oder das Bewusstsein ergreift“ (15).

Der Jungsche Begriff des Kollektiven Unbewussten, wiewohl von großem heuristischem Wert, ist insofern ergänzungsbedürftig, als in ihm das regressive Element der Archetypen zu einseitig betont wird, das der klaren Bewusstheit des einzelnen und der Eigenverantwortung entgegensteht. Umhissender und somit wirklichkeitsnäher erscheint mir der Begriff des „universellen Tiefenbewusstseins“ in der tantrisch-buddhistischen Philosophie, welcher das Kollektive Unbewusste genauso umspannt wie eine Art Überbewusstsein, das nur der höchsten Individualisierung sich erschließt (16).

Neben die Komponente der Regression, und zuweilen auf eine schwer entwirrbare Weise mit ihr verzahnt, tritt jene Aufnahmebereitschaft und innere Öffnung für den Mythos, die gerade das Zeichen gesteigerter Wachheit, Reife und Bewusstheit ist. Die Symbiose beider Elemente ist besonders eindrucksvoll im musikdramatischen Werk Richard Wagners, das nicht ohne Einfluss auf Hitler geblieben ist.

Der Nationalsozialismus war eine zuhöchst komplizierte, vielschichtige Erscheinung, und man tut gut daran, dies stets im Auge zu behalten. — Und wenn Thomas Mann in seinem Vortrag „Freud und die Zukunft“ im Jahr 1936 hervorhebt, dass das Mythische im Leben der Menschheit „zwar eine frühe und primitive Stufe“ darstelle, „im Leben des einzelnen aber eine späte und reife“ (17), so klingt etwas von dem erwähnten Neben- und Ineinander zweier Stufen — Regression und Reife — im Mythischen an. Rückfall ins Archaisch-Frühgeschichtliche und Reife können in einem einzelnen zugleich anzutreffen sein, auch in einer Epoche. Und gerade hier liegen höchste Gefährdung und Versuchung beschlossen.

Der „Verrat am Mythos“ wird aus dem Übergewicht der regressiven Komponente geboren, aus dem Unvermögen, sich der Herausforderung des Mythos von innen her wirklich zu stellen — aus der Unreife des Seelisch-Geistigen. Dies — und nur dies — führt zum „Teufelspakt“ des deutschen Geistes, zu dessen „tödlichem Versagen“ und zur Barbarei.

Der Mythenforscher Karl Kerenyi begrüßt in einem Brief an Thomas Mann aus dem Jahre 1934, bezugnehmend auf dessen Werk, speziell die Josephs-Romane, „die Rückkehr des europäischen Geistes zu den höchsten, den mythischen Realitäten“. (18) Eine zweifellos bemerkenswerte Aussage. Sicher dürfte Kerenyi hierbei kaum an den Nationalsozialismus gedacht haben, kaum an Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts“, erschienen 1930. Und doch bestehen hier Zusammenhänge.

In seinem Aufsatz „Bruder Hitler“ von 1939 beschreibt Thomas Mann den deutschen Kanzler als den Bruder des Künstlers, als die pervertierte Erscheinungsform des künstlerischen Genies. „Ohne die entsetzlichen Opfer, welche unausgesetzt dem fatalen Seelenleben dieses Menschen fallen, ohne die umfassenden moralischen Verwüstungen, die davon ausgehen, fiele es leichter, zu gestehen, dass man sein Lebensphänomen fesselnd findet.“ „Der Bursche ist eine Katastrophe; das ist kein Grund, ihn als Charakter und Schicksal nicht interessant zu finden“ (19). Und:

„Märchenzüge sind darin kenntlich, wenn auch verhunzt, das Motiv der Verhunzung und der Herunteigekommenheit spielt eine große Rolle im gegenwärtigen europäischen Leben... Wagnerisch, auf der Stufe der Verhunzung, ist das Ganze“ (20).

Die Grenzen zwischen „Märchen“ und „Mythos“ sind fließend; „Märchenzüge“ — das kann auch heißen: Züge des Mythischen. — Was hat es auf sich mit der Realität des Mythos, mit seiner geschichtsmächtigen Prägekraft noch „auf der Stufe der Verhunzung“?

In bewusster Abgrenzung zur Annahme vom „dichterischen“ Charakter der griechischen Mythen vertritt Walter F. Otto die Auflassung von der Realität und Wahrheit des Mythos. Mythen seien mehr als bloße Bilder und dichterische Gleichnisse für Erfahrungen, sie seien „Seinsoffenbarungen, die einer eigenen Weltstunde Vorbehalten sind“ (21). „Mythos“ heißt zunächst nichts anderes als „Wort“, „ursprünglich gerade nicht das Wort vom Gedachten, sondern vom Tatsächlichen“.

„Aber diese alten Mythen mussten den späteren Zeiten so unglaubwürdig erscheinen, dass man nur die Wahl hatte, sie für absurd zu erklären, oder ... einer tiefsinnigen Phantasie zuzuschreiben“ (22).

Heute ist mythisch beinahe gleichbedeutend mit unwirklich oder fiktiv. Wer vom „Führer-Mythos“ oder vom „Mythos der Stunde Null“ oder ähnlich spricht, will die Lüge darin bezeichnen, die als Wahrheit auftritt. Und in der Tat ist unsere Zeit reich an künstlichen Mythen, obwohl auch diese zumeist ihre versteckten Verbindungen haben zum „echten“ Mythos.

Joachim Fest schreibt, Hitler habe „in seinen impulsiven Eingebungen ... durchweg mythisch, ästhetisch, realitätsfern, kurzum unpolitisch gedacht“ (23). Er sei stets bemüht gewesen, die eigene Existenz zu mythologisieren (24).

Diese Mythologisierungsbemühungen werden von Fest als theaterhafte Selbststilisierungen des „Führers“ gewertet, was sicher eine Teilwahrheit umschreibt. Nur wird in dieser Sichtweise die eigenständige seelische Wirklichkeit und damit Wirksamkeit der mythischen Bilder unberücksichtigt gelassen. Dem Mythos — zumindest den großen geschichtsmächtigen Mythologemen — scheint eine eigene Seinsrealität innezuwohnen, die auf eine schwer definierbare Weise geschichtlich und übergeschichtlich zugleich ist: Zwar ist die Wirksamkeit des Mythischen an eine bestimmte historische Situation geknüpft, aber der Mythos selbst entzieht sich einer restlosen historischen Relativierung. Dies hat er mit großer Kunst, großer Musik, großer Dichtung gemein.

Er reicht in die „Urgründe der Menschenseele“ und zugleich in die „Urzeit“, die „Brunnentiefe der Zeiten“ hinab, wo die „Urnormen, Urformen des Lebens“ gegründet sind, wie Thomas Mann sagt (25). Die Mythengeschichte der Völker und Kulturen ist nach Schelling die Wiederholung der Weltenwerdung und der Naturgeschichte im menschlichen Bewusstsein; Mythen spiegeln die Kämpfe der Weltenwerdung und setzen sie zugleich fort. Die verblüffende Ähnlichkeit von Göttern, Formen und Motiven in den Mythen der Kulturvölker ist nur mit ihrem gemeinsamen Ursprung zu erklären. Allen gemeinsam sind ungeheure Kampfvorgänge, gigantische Schlachten zwischen Göttern und Gegen-Göttern: Widerspiegelung realer seelischer Prozesse.

Von der Weisheit des Mythos kann nicht nur der Künstler unaufhörlich lernen, sondern auch der Philosoph. Was in den Mythen geschildert wird, ist alles andere als „human“ im Sinne bürgerlicher oder sozialistischer Wertvorstellungen. Friedlich geht es nicht zu, weder in der indischen noch in der griechischen oder germanischen Mythologie. „Mythos“ und „Mythologie“ werden meist als Synonyme verwendet; eigentlich bezieht sich „mythologia“ auf jene Sphäre des Dichterischen, innerhalb derer der Mythos selbst vorausgesetzt wird, während er zugleich der künstlerisch-bewussten Weiterführung und Gestaltung unterliegt.

Mythengeschichte ist stets ein Stück Bewusstwerdung der Menschheitspsyche. Die unauflösbare Einheit von Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit im Mythos bedingt dessen eigentümlich „prophetische“ Komponente: Er spricht das aus, was geschah, geschieht und auch geschehen wird, zumindest geschehen könnte. Hier treten Verbindungen zutage, die nichts zu tun haben mit deterministisch verstandener Kausalität.

Der Mythos enthält archetypische „Rollen“, verkörpert in Göttergestalten oder herausgehobenen Menschen, in denen bestimmte außergewöhnliche Eigenschaften oder Fähigkeiten konzentriert sind.

Diese Rollen gehen offensichtlich über das hinaus, was C. G. Jung als Archetypen (Urbilder) des Kollektiven Unbewussten bezeichnet. Eher lassen sie sich als Faktoren innerhalb des „universellen Tiefenbewusstseins“ — vielleicht auch des Überbewusstseins — begreifen. Sie gleichen Wirkungsbündeln seelisch-geistiger Energien, die ihrerseits Bewusstwerdungsprozesse zu beeinflussen und auszurichten vermögen. Die einzelne Persönlichkeit kann gleichsam in ein derartiges Energiefeld hineingeraten, hineingedrückt werden, sodass vorübergehend die Trennung von personalem So-Sein und archetypischer Rolle aufgehoben scheint.

Etwas von dem hier Ausgesprochenen klingt in Thomas Manns Freud- Vortrag an:

„Wie aber nun, wenn der mythische Aspekt sich subjektivierte, ins agierende Ich selber einginge und darin wach wäre, so dass es mit freudigem oder düsterem Stolze sich seiner ‚Wiederkehr’, seiner Typik bewusst wäre, seine Rolle auf Erden zelebrierte und seine Würde ausschließlich in dem Wissen fände, das Gegründete im Fleisch wieder vorzustellen, es wieder zu verkörpern? Erst das, kann man sagen, wäre ‚gelebter Mythus‘“ (26).

Jochen Kirchhoffs Buch „Nietzsche, Hitler und die Deutschen“ wird im Herbst 2024 als Book on Demand erscheinen.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Syberberg, Hans Jürgen: Hitler, ein Film aus Deutschland,
Reinbek 1978, S. 33
(2) Benn, Gottfried: Gesammelte Werke in vier Bänden, Wiesbaden 1959-1961, S. 76, 77
(3) „Spiegel“ 1981/24, S. 156
(4) „Spiegel“, a.a.O.
(5) Weizsäcker, Carl Friedrich von: Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie, München 1977, S. 93
(6) Jünger, Ernst: Zahlen und Götter. Philemon und Baucis. Zwei Essays, Stuttgart 1974, S. 104
(7) Jünger, a.a.O., S. 94
(8) Jünger, a.a.O.
(9) KSA 5, S. 412
(10) Klages, Ludwig: Mensch und Erde, Jena 1937, S.25
(11) Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Frankfurt/M. 1970, S. 120
(12) KSA 5, S. 267,68
(13) Mann, Zu Wagners Verteidigung. In: Musik-Konzepte 5, S. 33
(14) Zit. bei Doucet, Friedrich W.: Im Banne des Mythos. Die Psychologie des Dritten Reiches, Esslingen 1979, S. 217
(15) Neumann, Erich: Die große Mutter. Eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltungen des Unbewussten, Olten 1974, S. 19
(16) Govinda, Lama Anagarika: Schöpferische Meditation und multidimensionales Bewusstsein, Freiburg, S. 109, S. 302
(17) Mann, Schriften zur Literatur 2, S. 225
(18) Karl Kerenyi — Thomas Mann: Gespräch in Briefen, Zürich 1960, S. 39
(19) Mann, Pol. Schriften3, S. 53,54
(20) Mann, a.a.O., S. 55
(21) Otto, Walter F.: Theophania. Der Geist der altgriechischen Religion, Hamburg 1959, S. 12
(22) Otto, a.a.O., S. 13
(23) Fest, Joachim C.: Hitler. Eine Biographie, Berlin 1976, S. 525
(24) Fest, a.a.O., S. 713
(25) Mann, Schriften zur Lit. 2, S. 225
(26) Mann, a.a.O., S. 226

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