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Das Lebensschiff besteigen

Das Lebensschiff besteigen

Die derzeitige Krise birgt eine Chance für jeden Einzelnen. Exklusivabdruck aus „Die Enthüllung.”

In dem Glauben, die Dinge müssten so sein und es ginge nicht anders, verbringen viele von uns ihr Leben damit, das Gegenteil von dem zu tun, was sie eigentlich wollen, fühlen und denken. Da kann man nichts machen. Wir haben uns darauf trimmen lassen, Ja zu sagen, auch wenn wir Nein denken. Kopf, Herz, Bauch und Hand wurden buchstäblich voneinander getrennt.

Wir haben uns zerreißen lassen und uns mit allen möglichen Mitteln betäubt, um den Schmerz nicht zu spüren. Wir verrichten sinnlose Jobs und Tätigkeiten, bei denen wir verblöden, ertragen Situationen und Menschen, die uns nicht guttun, und geben uns dabei so, als sei alles in Ordnung. Es machen ja alle. Dann muss es wohl normal sein.

Die Corona-Situation führt uns heute vor Augen, dass nichts in Ordnung ist. Das alte Haus zerfällt. Inmitten des Chaos beginnen einige, ein neues Haus zu planen. Viele Fragen gibt es zu klären. Wie ist das Fundament beschaffen? Wie sollen die Räume aussehen? Wie das Dach? Hier überlassen wir nichts dem Zufall. Es soll nicht irgendwie zusammengeschustert werden und auch Unwetter überstehen können. Wir tragen Sorge dafür, dass es möglichst stabil wird. Wir entwickeln und verwerfen Ideen, zeichnen Pläne, bauen Modelle und setzen schließlich das Entworfene um.

Wenn wir uns keine Gedanken gemacht hätten, wäre kein Haus entstanden. Es musste zunächst in unserer Vorstellung existieren, bevor es zur Realität wurde. Der Form ging eine Idee voraus.

Mit unserem Universum, so die weitläufige Meinung, verhalte es sich genau andersherum. Hier gab es einen zufälligen Knall, aus dem heraus sich zufällig irgendwelche Lebensformen entwickelt haben. Die Billion Galaxien der heute beobachtbaren Universen haben sich irgendwie gebildet. Zufällig entstand irgendwann auch die Erde und zufällig kamen hier genau die Bedingungen zustande, die wir zum Leben brauchen. Ein winziger Hauch nur, ein paar Millimeter, und alles wäre nicht möglich gewesen.

Der Zufall — so beschrieb es der französische Forscher Jean-Marie Pelt — ist so groß, als schösse man mit einem Bogen einen Pfeil ab, der nach Lichtjahren ein Nadelöhr trifft. In dieser Beliebigkeit hat sich schließlich auch der Mensch entwickelt, der zufällig als einziges der irdischen Lebewesen die Fähigkeit hat, seine Ideen in die Realität umzusetzen und Häuser zu bauen.

Wer seine Gedanken ein wenig schweifen lässt, der fragt sich vielleicht, ob es sich denn tatsächlich so verhalten kann, wie gemeinhin gesagt wird. Ist alles wirklich nichts als Zufall? Hat sich das hochkomplexe, vielschichtige Netzwerk des Lebens mit seinen wiederkehrenden Mustern, Formen, Zyklen, Rhythmen und Gesetzen tatsächlich zufällig gebildet?

Wie sieht es mit uns aus? Was wäre passiert, wenn unsere Mutter — obwohl sie Kopfschmerzen hatte, weil sie gerade so viel für ihr Examen büffeln musste und schon einmal durchgefallen war — nicht auf diese Party ihrer Freundin gegangen wäre (die sie in der heimischen Supermarktschlange stehen sah, obwohl sie doch eigentlich für ihr Praktikum in Australien sein sollte)? Doch sie traf unseren Vater — der an diesem Abend eigentlich etwas ganz anderes vorhatte und sich nur von einem Freund hatte mitschleppen lassen. Nicht auszudenken, was nicht passiert wäre, wenn sie das Papier, auf das er seine Telefonnummer kritzelte, verloren hätte!

Allein die Ereignisse, die zu unserer Geburt führten, sind ungeheuer komplex und nicht zu durchschauen. Wir machen es uns einfach, wenn wir die Zusammenhänge, die wir in unserer Welt nicht begreifen, Zufall nennen. Wenn wir heute glauben, unser Universum sei irgendwie zufällig entstanden, dann zeigt uns das vor allem eines: Wir verstehen unsere Welt nicht. Wir haben keine Ahnung davon, was sie zusammenhält. Nur wenn wir das Verbindende wieder ins Leben integrieren, werden wir seine Gesetze und Regeln erkennen können. Wir werden dann nicht mehr denken, dass wir beliebig mitmischen können, da ja sowieso alles Zufall und somit egal ist.

In dem Bewusstsein, dass alles, was wir erleben, mit uns zusammenhängt und uns selbst reflektiert, werden wir uns in Dankbarkeit und Bewunderung vor dem Leben verbeugen.

Wir nehmen wieder wahr, was einen Bezug zu uns hat. „Das Auge, mit dem dich Gott ansieht“, so formulierte es Meister Eckhart, Theologe und Philosoph des späten Mittelalters, „ist dasselbe Auge, mit dem du Gott ansiehst.“ Wir sind gleichzeitig Betrachter und Betrachtetes, verschieden und eins. Wir sind Natur, wir sind Universum, wir sind Gott. Wir sind alles, was ist. Gleichzeitig berauscht und entsetzt stehen wir vor der Erkenntnis unserer Verantwortung.

Wir sehen: Es gibt nichts zu bekämpfen — es gibt nur Facetten von uns, die wir noch im Dunkeln gelassen haben und nicht erkennen. Solange noch Teile von uns abgespalten sind, können wir nicht heilen, kann auch das Gesamte nicht heilen. Es ist unsere Lebensaufgabe, das Versprengte zu integrieren und sozusagen nach Hause zurückzuholen. Das ist es, was gerade passiert: Unsere Seelen sind dabei, wieder ganz zu werden.

Nur wenn es uns gelingt, unsere innere Einheit wiederherzustellen, können wir in Frieden die Vielfalt leben. Die äußere Harmonie wird ein frommer Wunsch bleiben, wenn wir das Mosaik in uns selbst nicht zusammensetzen. In Vielfalt vereint — das Motto, das die Europäische Union zur Jahrtausendwende wählte, wird niemals Realität werden, wenn nicht jedes einzelne ihrer Mitglieder bereit dazu ist, in seinem Inneren für Harmonie zu sorgen. Hiervon hängt unser aller Leben ab.

Die Erfahrung ist erschütternd: Immer wieder richtet sich der Zeigefinger auf uns selbst. Wir können keinen Krieg führen gegen die, die es anders sehen und sich nicht auf den Weg machen. Jede Gewalthandlung würde uns vom Ziel der Einheit entfernen. Wir können nur feststellen: In den letzten Jahrtausenden haben wir es nicht geschafft, langfristig in Frieden zusammenzuleben. Wir haben uns in der Welt der Dualität verirrt. Bis an die äußersten Grenzen haben wir uns von der ursprünglichen Quelle, in der alles eins ist, entfernt. So weit sind wir vorgedrungen, dass wir heute vor unserer eigenen Auslöschung stehen. Hier geht es um eine Entscheidung von höchster Bedeutung: Lassen wir uns in die schwarze Leere fallen oder versuchen wir, wieder ins Zentrum zurückzukommen?

Opfern wir unser Menschsein der bis aufs Äußerste ausgekosteten Dualität oder nutzen wir die Situation, um auf eine höhere Bewusstseinsebene zu gelangen?

Versinken in den niederen Schichten des Seins, oder schwingen wir uns empor zum göttlichen Bewusstsein? Schlafen wir weiter oder wachen wir auf? Machen wir uns an die Arbeit oder lassen wir uns gehen?

Es liegt allein an uns. Niemand wird sich vom Himmel herabschwingen, um uns zu erlösen. Niemand wird sich für uns auf den Weg machen. Kein Priester, kein Schamane, kein Magier, kein Experte wird die Arbeit an unserer statt verrichten. Wir müssen es tun. Und wir können es. Wir können die Schleier beiseiteschieben, wir können uns Klarheit verschaffen, wir können uns für die Einheit und die Liebe entscheiden und symbolhaft das Boot des Lebens besteigen, das seit Jahrtausenden in verschiedenen Kulturen immer wieder auftaucht: das Sonnenschiff des alten Ägyptens, das Lichtschiff der Katharer, das mit dem Drachenkopf verzierte Schiff der Wikinger. Sie erinnern uns an die Traditionen, in denen die Erde ein Mutterschiff war und das Leben eine Reise. Wir können heute das Steuer unseres freien Willens in die Hand nehmen. Unsere Seele ist das Segel, die aufgehende Sonne unsere Orientierung und die Sterne sind unsere Wegweiser.

So treten wir heraus aus Beliebigkeit, Gleichgültigkeit und Fatalismus und erkennen wieder die in den Ereignissen wirkende Intelligenz. Karma heißt in den indischen Religionen das spirituelle Konzept, nach dem jede Handlung eine Konsequenz hat. Alles, was wir denken, fühlen und tun, hat Auswirkungen auf unsere Umgebung und kommt früher oder später zu uns selbst zurück. In der christlichen Mythologie heißt der Spielverderber Satan.

Während Luzifer die räumliche Loslösung vom Göttlichen bedeutet, steht Satan für die Zeit, die zwischen einer Tat und deren Folgen vergeht. „Du kannst später zahlen. Bei mir bekommst du Kredit“, bietet er uns an. Der Schmerz, den wir einem anderen Wesen zugefügt haben, kommt nicht sofort zu uns zurück, sondern mit Zinsen: dann, wenn wir vielleicht nicht mehr damit rechnen. In keinem Fall kommen wir um das Bezahlen herum. Ob früher oder später — die kosmischen Gesetzmäßigkeiten sorgen für Ausgleich. Wir nennen diesen Ausgleich Gerechtigkeit. Hierum müssen wir uns nicht kümmern. So haben wir die Hände frei, uns um unser eigenes Verhalten zu kümmern und an unserem Lebensschiff zu bauen.

Falsch verstanden führt die Karmalehre zu der Folgerung, dass die heutigen Opfer die früheren Täter waren — dass also ihr Leiden gerechtfertigt ist. So wie die monotheistischen Religionen Gewalt immer wieder mit dem Willen Gottes rechtfertigten, wird die Karmalehre dazu missbraucht, dass wir heute Kinder verhungern und Menschen von Bomben zerreißen lassen: Sicher zahlen sie für ihre Irrtümer in einem vergangenen Leben. Da sollte man sich nicht einmischen. Ist denn nicht alles eins? Wenn alles sowieso darauf hinausläuft, ist dann nicht irgendwie auch alles egal? Wenn das höchste Prinzip die Liebe ist und Gott allmächtig, geschieht dann nicht jedes Grauen irgendwie auch aus Liebe, sozusagen, um uns auf den richtigen Weg zurückzubringen? Haben Kriege dann nicht ihre Berechtigung, weil sie ja die Dinge irgendwie auch geraderücken?

Der Grat zwischen Verwirrung und Wahrheit ist hier scharf wie eine Rasierklinge. Auch in der Vorstellung Gott ist Einheit gibt es unzählige Möglichkeiten, immer wieder von unserer eigenen Verantwortung abzulenken. Es kann doch nicht sein, dass der schwarze Peter immer wieder in unsere Hände fällt! Immer wieder versuchen wir, uns das Unrecht auf der Welt ohne uns zu erklären. So bleiben die Verbindungen unterbrochen — und wir bleiben in unserer Machtlosigkeit. Bis heute haben wir die Frucht, die wir vom Baum der Erkenntnis pflückten, nicht verdaut. Schwer liegt sie uns immer noch im Magen. So bleibt uns die Tür zum Paradies weiterhin versperrt. Denn die höchste vereinende Kraft, die es in unserem Universum gibt, wartet noch darauf, dass wir sie hineinlassen: die Liebe.



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