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Das Recht auf Selbstbestimmung

Das Recht auf Selbstbestimmung

Wladimir Putin und Xi Jingping veröffentlichten eine gemeinsame Erklärung, die der Einmischung des Westens in Angelegenheiten anderer Länder Grenzen setzen will. Teil 4/4.

Geopolitische Veränderungen

Lange Zeit zweifelte niemand daran, dass sich die globale Dominanz des westlichen Systems noch lange Zeit halten würde. Insbesondere die führende Rolle der USA galt als unantastbar. Nun allerdings verändern sich die geopolitischen Verhältnisse in der Welt in rasantem Tempo. Allein im Zeitraum nach der gemeinsamen Erklärung von Putin und Xi vom 4. Februar 2022 bis heute zeigen sich in der ganzen Welt deutliche Veränderungen, und es scheint fast, als wäre mit dieser Erklärung ein Startsignal gegeben worden.

Die Kräfteverhältnisse sind dabei, sich zu verschieben, und es sind nicht mehr die traditionalen Kolonialgroßmächte, die das Schicksal der Welt allein entscheiden. Die Länder der sogenannten Dritten Welt, Länder in Asien, Südamerika und Afrika, werden zunehmend stärker und selbstbewusster und wehren sich gegen Unterdrückung und Ausbeutung durch den „Westen“ und dessen neokoloniale Politik. Hierzu schaffen sie starke Bündnisse und gehen Partnerschaften ein, die ihrer souveränen Entwicklung dienen.

Auf diesem Entwicklungsweg können sie mit China und Russland auf solide Partner bauen, die sich beide seit Langem als politisch/wirtschaftpolitisch glaubwürdige und faire Partner der Entwicklungsländer gezeigt haben. Zudem sind beide Länder inzwischen wirtschaftlich und geopolitisch ausreichend stark geworden sind, um sich gegen die bis dahin weltbeherrschenden Großmächte zu stellen. Denn sowohl Russland als auch China haben sich nun, nicht nur aufgrund der eigenen bitteren Geschichte, sondern insbesondere infolge der aktuellen Erfahrungen, dahingehend entschieden, sich nicht mehr dem globalen Westen anzupassen beziehungsweise dessen Ansprüchen unterzuordnen.

Der russische Präsident Putin positionierte sich diesbezüglich in dem von ihm am 31. März 2023 verabschiedeten neuen außenpolitischen Konzept (1) der Russischen Föderation. Hier stellte er klar, dass Russland den Eurozentrismus ebenso wie die westliche Hegemonie ablehnt:

„Das unausgeglichene Modell der internationalen Entwicklung, das jahrhundertelang intensives Wirtschaftswachstum der Kolonialmächte ermöglichte, die sich die Ressourcen der abhängigen Territorien und Staaten in Asien, Afrika und in der Westlichen Halbkugel aneigneten, gehört endgültig der Vergangenheit an.“ (2)

Das Zentrum der Menschheit, so Putin, verlagere sich stetig in nichtwestliche Regionen des Planeten — Asien, Eurasien, Afrika und Lateinamerika —, und die Herausbildung einer gerechteren, multipolaren Welt schreite voran.

Putin benennt die Entwicklung der Beziehungen zwischen Russland und China, Indien, der islamischen Welt, Afrika und Lateinamerika als spezifische Strategie seines außenpolitischen Konzepts. Die praktische Umsetzung dieser Strategie zeigt sich in den intensiven Kontakten Russlands in diese Richtung.

Der II. Russland-Afrika-Gipfel

Vom 27. bis 28. Juli 2023 fand in Sankt Petersburg der II. Russland-Afrika-Gipfel statt. An diesem Gipfel nahmen Vertreter von 49 der insgesamt 54 afrikanischen Staaten teil. Zum Abschluss des Gipfeltreffens am 28. Juli verabschiedeten die Teilnehmer eine bemerkenswerte Abschlusserklärung (3). Diese greift inhaltlich die wichtigsten Punkte der gemeinsamen Erklärung von Putin und Xi vom 4. Februar 2022 auf und ergänzt sie. Auch hier steht, neben vielen anderen Punkten, die Souveränität und Selbstbestimmung der Staaten, die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten sowie die Rolle der UN im Vordergrund.

Alle Seiten fühlen sich den Grundprinzipien und Zielen der UN-Charta verpflichtet und fordern die Achtung anerkannter Grundsätze und Normen des Völkerrechts vonseiten aller Staaten. Dabei wenden sie sich zugleich gegen die Schaffung von Alternativen zum Völkerrecht durch den Westen, der damit erneut versucht, die Weltpolitik interessensgeleitet zu gestalten.

In der gemeinsamen Russland-Afrika-Erklärung betonen alle Seiten ihre Verantwortung für den Aufbau einer gerechten und stabilen Weltordnung auf der Grundlage der Prinzipien der Souveränität aller Staaten und des Selbstbestimmungsrechts aller Völker, die unter anderem aus der UN-Resolution 1514 (XV) vom 14. Dezember 1960 hervorgehen. Zugleich weisen sie auf die Prinzipien der internationalen Zusammenarbeit hin, die in der Charta der Vereinten Nationen und in der Erklärung vom 24. Oktober 1970 über die Grundsätze des Völkerrechts über freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen Staaten (4) gemäß der Charta der Vereinten Nationen verankert sind.

Weiterhin fordern die russischen und afrikanischen Länder in ihrer gemeinsamen Erklärung eine Anpassung der Strukturen internationaler Organisationen an die geopolitischen Realitäten und Kräfteverhältnisse, insbesondere in Bezug auf die UN und den UN-Sicherheitsrat.

Bis heute sind hier im ständigen Sicherheitsrat ausschließlich die Großmächte vertreten. Sie erklären, dass es an der Zeit sei, die historische Ungerechtigkeit zu korrigieren und die Bedeutung der afrikanischen Staaten neu zu überdenken (5).

Die Abschlusserklärung des Russland-Afrika-Gipfels baut auf den Forderungen der gemeinsamen Erklärung von Putin und Xi auf. Es gibt hierzu jedoch einen bedeutenden Unterschied, denn diese Schlusserklärung kam nicht von lediglich zwei, sondern von 50 Staaten. Dies symbolisiert, dass sich ein immer größerer Teil der Staaten gegen die jahrhundertealte Dominanz des Westens wehrt und etwas Neues aufbauen will.

Alle Teilnehmer des Gipfeltreffens waren sich einig, dass man gemeinsam für die tatsächliche Umsetzung der UN-Charta auf Basis einer echten multipolaren Weltordnung kämpfen wird, einer Weltordnung auf der Grundlage des Rechts auf Souveränität und Selbstbestimmung eines jeden Staates, wo sich kein Land in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes einmischen darf. Dabei fordern sie nicht mehr und nicht weniger als eine gerechte Entwicklung auf der Grundlage der bekannten völkerrechtlich festgeschriebenen Regeln, die jedoch von einigen Ländern nicht eingehalten werden.

Der Aufbruch des globalen Südens

Der II. Russland-Afrika-Gipfel 2023 und nicht zuletzt die gemeinsame Abschlusserklärung zeigen deutlich, dass der globale Süden nicht mehr bereit ist, sich vom Westen unterdrücken und ausbeuten zu lassen. Jahrhundertelange Erfahrungen mit der westlichen imperialen Politik führten dazu, dass sich die Länder immer mehr vereinigen, um sich gegen die Ausbeutung und Unterdrückung zu wehren. Diese Tendenz zeigt sich in allen Teilen der Welt. So gehen neben Afrika auch Asien und Lateinamerika, die ebenso lange Zeit unter der Vorherrschaft westlicher Kolonialmächte standen, neue Wege. Am Beispiel unterschiedlicher, großer und auch wirtschaftlich mächtiger Bündnisse soll gezeigt werden, wie sich der globale Süden entwickelt.

Afrika im Bündnis mit Russland

Schon vor dem II. Russland-Afrika-Gipfel beschrieb Putin in einer Erklärung seine Vision von den russisch-afrikanischen Beziehungen (6). Er sei sicher, dass sich Afrika vom schweren Erbe des Kolonialismus befreien werde, und sprach von einer kontinuierlichen Unterstützung der afrikanischen Völker durch Russland. Putin betonte den Grundsatz der Zusammenarbeit, dass nach „afrikanischen Lösungen für afrikanische Probleme“ gesucht werden müsse. Dabei sei stets die Souveränität der Staaten Afrikas, deren Werte und Traditionen sowie deren Wunsch nach selbstständiger Bestimmung des eigenen Schicksals zu respektieren. Putin wies in diesem Zusammenhang auf die Tradition des gemeinsamen Kampfes gegen Kolonialismus und für Unabhängigkeit afrikanischer Staaten hin und bekräftigte den weiterhin gemeinsamen Kampf gegen Neokolonialismus.

Der Westen allerdings wirft Russland in Bezug auf seine aktive Zusammenarbeit mit Afrika vor, neue Abhängigkeiten schaffen zu wollen. Die afrikanischen Staaten sehen das jedoch anders und begrüßen die Bereitschaft Russlands, ihren Kampf um die Stärkung der nationalen Souveränität weiter zu unterstützen.

Dabei blicken sie auf die lange Erfahrung ihrer Zusammenarbeit mit Russland zurück. So sagte der Präsident der Komoren und Vorsitzende der Afrikanischen Union, Azali Assoumani, dass Russland einer der besten Freunde sei, die Afrika jemals haben könnte. Russland sei in der Zeit der Not immer für Afrika dagewesen, sei es im Kampf um Unabhängigkeit oder sei es bei der Förderung einer eigenständigen Entwicklung (7). Der EU-Abgeordnete Martin Sonneborn sagte dazu:

„Und ob es uns oder der EU nun gefällt oder nicht, sieht ein wachsender Teil der — vor allem jüngeren — afrikanischen Bevölkerung in Putin keineswegs einen Bösewicht, sondern den Vorkämpfer einer globalen Freiheitsbewegung, die gegen die unter dem Deckmantel der ‚Demokratie‘ von Akteuren des geopolitischen Westens aufrechterhaltene Ausbeutungs- und Unterwerfungsordnung in ihren Landstrichen gerichtet ist.“ (8)

Es scheint, dass Afrika für den kolonialen Westen verloren geht.

Asien und die SOZ

Die SOZ (Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit) vertritt 40 Prozent der Weltbevölkerung allein schon durch die Mitgliedschaft Indiens, Chinas und Russlands, die zu den größten und bevölkerungsreichsten Ländern der Welt zählen.

Anfang Juli 2023 fand ein Treffen der SOZ in Neu-Delhi statt. In der abschließenden Erklärung thematisierte man die fundamentalen Veränderungen in der Welt und die damit zusammenhängenden Herausforderungen. In diesem Zusammenhang bekräftigten die Mitgliedsstaaten ihr Engagement für die Schaffung einer demokratischen und gerechten multipolaren Weltordnung auf der Grundlage des Völkerrechts. Als grundsätzliche Voraussetzung für diesen Weg sehen sie die Anerkennung der zentralen Rolle und der Autorität der UN. Das bedeutet, dass die in der UN-Charta verankerten Prinzipien, wie zum Beispiel die Grundsätze der gegenseitigen Achtung der Souveränität und Selbstbestimmung sowie der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, von allen Staaten eingehalten werden müssen (9).

Eins der zentralen Themen des Gipfeltreffens war die innere Sicherheit der Mitgliedsländer und der Schutz vor außenpolitischen Einflüssen. Dabei ging der Blick konkret auf die Strategien des Westens, der mittels hybrider Kriegsführung versucht, die Sicherheit und Stabilität der Mitgliedsstaaten der SOZ zu gefährden. Aktuelle Kampagnen beispielsweise gegen China, Russland oder den Iran zeigen deutlich, dass der Westen Unruhen forciert und unterstützt, um innenpolitische Spaltungen zu erzeugen. Ziel des Westens sei es, die Staaten innenpolitisch zu schwächen, um sie besser den Interessen des Westens unterordnen zu können. In der Konsequenz zeigten sich die Mitgliedsländer der SOZ trotz durchaus vorhandener Differenzen bestrebt, ihre Beziehungen zu vertiefen, um dem westlichen Einfluss in der Region gemeinsam besser entgegentreten zu können (10).

Die CELAG und der Weg Lateinamerikas

Die CELAG (Centro Estratégico Latinoamericano de Geopolítica) ist die Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten, der alle Staaten Amerikas, außer Kanada und den USA, angehören. Die Gemeinschaft wurde 2011 als Alternative zur OAS (Organisation Amerikanischer Staaten) (11), der auch Kanada und die USA angehörten, gegründet. Anlass der Umorientierung war ein Putsch in Honduras, wo die USA versuchten, die OAS in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Als wichtige Ziele erklärten die Mitgliedsstaaten der CELAG unter anderem die Zurückdrängung des Kolonialismus, die Eindämmung des Einflusses der USA in der Region und größere Mitspracherechte bei internationalen Fragen.

Positionierung der CELAG

Beim Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs aller südamerikanischen Länder im Mai 2023 war man sich einig, dass man aus den alten Fehlern lernen müsse, und man konnte sich, trotz einiger Differenzen unter den Ländern, darauf einigen, in vielen Gebieten zusammenzuarbeiten. Jahrhundertelange Erfahrungen mit der westlichen Herrschaftspolitik hatten zu der Erkenntnis geführt, dass man sich nur als gemeinsame Kraft gegen die Ausbeutung und Unterdrückung wehren kann. Der argentinische Präsident Alberto Fernández konstatierte: „Es hat uns nichts genützt, gespalten zu sein.“ Und der brasilianische Präsident Luis Inácio Lula da Silva sagte im Hinblick auf die Zukunft:

„Ein starkes, sicheres und politisch organisiertes Südamerika erweitert unsere Möglichkeiten, die wahre lateinamerikanische und karibische Identität auf internationaler Ebene zu behaupten.“ (12)

Auch die lateinamerikanischen Staaten sind nicht mehr bereit, sich den vom Westen diktierten Bedingungen und Forderungen zu beugen. Dies zeigte sich beispielsweise bei den Verhandlungen um das Global Gateway der EU, einer weltweiten Strategie der EU zur Investition in Infrastrukturprojekte und zum Aufbau von Wirtschaftspartnerschaften. Die Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAG) lehnt diese Strategie ab, denn die Mitgliedsländer erkennen sehr wohl, dass sie erneut die üblichen Knebelverträge in Bezug auf Handel und Ausbeutung der Bodenschätze beinhaltet.

Ebenso wenig lassen sich die südamerikanischen Staaten zu einer politischen Position drängen. Dies zeigte sich im Vorfeld des Gipfeltreffens der Staats- und Regierungschefs der CELAG-Mitgliedsstaaten mit ihren EU-Kollegen in Brüssel Mitte Juli 2023. Die EU hatte bereits vorab einen Vorschlag für eine Gipfelerklärung gemacht, die sich auf die Unterstützung der Ukraine bezog. Dies lehnten die Vertreter der CELAG jedoch ab. Sie lehnten nicht nur die antirussische Politik des Westens ab, sondern verweigerten auch die Erklärungen zur Unterstützung der Ukraine. Stattdessen ließen sie der EU einen völlig anderen, eigenen Text für die Gipfelerklärung zukommen, wo sie Reparationen vom Westen forderten:

„Wir erkennen an, dass geeignete Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die Würde der Opfer (des transatlantischen Sklavenhandels mit Menschen aus Afrika) wiederherzustellen. Dazu gehören auch Reparationen und Entschädigungen, die dazu beitragen, unser kollektives Gedächtnis zu heilen und die Hinterlassenschaften der Unterentwicklung zu beseitigen. (…) Wir erkennen an und bedauern zutiefst das unermessliche Leid, das Millionen von Männern, Frauen und Kindern durch den transatlantischen Sklavenhandel mit Menschen aus Afrika zugefügt wurde.“ (13)

BRICS

Als BRICS wird ein Zusammenschluss der Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika bezeichnet. Bei seiner Gründung im Jahr 2009 wurde dieser Bund, obwohl 40 Prozent der Weltbevölkerung in seinen fünf Mitgliedsstaaten leben, nicht als Herausforderung gesehen. Denn außer Russland betrachtete man die Mitgliedsländer als machtlose Schwellenländer. Inzwischen jedoch haben sich die Verhältnisse verändert.

Alle fünf Mitgliedsstaaten sind ernst zu nehmende wirtschaftspolitischen Kräften in der Welt geworden, und die Popularität der BRICS-Vereinigung steigt weiter an. Immer mehr Länder stellen formale Anträge, um der Gemeinschaft beizutreten.

Der Botschafter Südafrikas in der BRICS, Anil Sooklal, sagte bei einer Pressekonferenz vor dem kommenden BRICS-Gipfel, dass zusätzlich zu den 22 Ländern, die formell um den Beitritt zur Organisation gebeten haben, eine vergleichbare Anzahl von Ländern informell ihr Interesse an einer BRICS-Mitgliedschaft bekundet hätten, darunter alle wichtigen Länder des globalen Südens (14), unter ihnen alle Schlüsselmächte der anderthalb Milliarden Muslime (15).

BRICS-Gipfel

Ende August 2023 fand der jährliche BRICS-Gipfel in Südafrika statt. Dass dieses Treffen eine neue Qualität haben würde, ließ sich bereits aus den Vorbereitungen und Erklärungen seitens der Gastgeber erkennen. So erklärte das südafrikanische Außenministerium in Bezug auf das Treffen, dass hier „Kräfte zusammenkommen, die andere Wege zur Entwicklung der modernen Welt sehen als der Westen“. Diese Aussage zeigt deutlich die Sicht des globalen Südens auf die Politik des Westens und dessen Vorstellungen über die Zukunft der Welt.

Südafrikas Vertreter Sooklal hatte bereits im Vorfeld angekündigt:

„Das wird die größte Versammlung von Staaten des globalen Südens seit der letzten Zeit sein. Sie werden zusammenkommen, um über die globalen Herausforderungen zu diskutieren.“ (16)

Tatsächlich war es eine große Versammlung des globalen Südens, denn zu dem Gipfeltreffen waren zahlreiche Länder beziehungsweise Ländergemeinschaften des globalen Südens eingeladen. Neben den Vertretern der afrikanischen Staaten erhielten auch die Regierungschefs des Verbandes der Südostasiatischen Nationen, der Karibischen Gemeinschaft und aller anderen Mitglieder der G77 (17) eine Einladung (18). Sooklal sieht große Veränderungen in der globalen Politik und sagte:

„Die BRICS-Gruppe hat einen tektonischen Wandel ausgelöst, den man mit dem Beginn des Gipfels in der globalen geopolitischen Architektur sehen wird.“ (19)

Ein wichtiger Punkt des BRICS-Gipfels waren die Verhandlungen über die Aufnahme neuer Mitglieder. Im Endergebnis entschied man sich für die Aufnahme sechs neuer Mitglieder. Von nun an werden Ägypten, Iran, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Argentinien und Äthopien zur Gemeinschaft der ehemals fünf BRICS-Staaten gehören, die nun den Namen BRICS 11 trägt. Die Aufnahme weiterer Mitglieder ist geplant.

Die Entscheidungen für die Erweiterung wurden nicht nur von einem umfassenden strategisch-globalen und realpolitischen Denken geleitet, sondern die Verhandlungen wurden zugleich unter Beachtung und Respektierung der Interessen und Bedenken jedes einzelnen BRICS-Mitgliedsstaates geführt. Pepe Escobar hat in seinem Artikel „BRICS 11 — Strategische Tour de Force“ sehr anschaulich die Entscheidungsführung, die Hintergründe und die Bedeutung der BRICS-Erweiterung analysiert (20).

Wirtschaftskraft BRICS

Die Vereinigung der BRICS-Staaten ist laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) bereits jetzt ökonomisch bedeutsamer als die Gemeinschaft der G7-Staaten. Diese Tendenz ist insofern eine Gefahr für den Westen, als die G7-Staaten zwar die Finanzmärkte kontrollieren, die BRICS-Staaten jedoch über Rohstoffe verfügen. Damit können die BRICS-Staaten Währungen erschaffen, deren Wert jeweils an tatsächliche Werte wie Öl, Gold, Mineralien oder andere natürliche Ressourcen gekoppelt ist.

Die internationalen Finanzmärkte werden vom US-Dollar geleitet, und die hieraus entstandenen Abhängigkeiten wurden vom Westen zum eigenen Vorteil genutzt. Inzwischen jedoch verfügen die BRICS-Staaten über ausreichend Stärke und Instrumente, einschließlich der NEW Development Bank und der BRICS-Bank, um aus dem alten Zwangssystem der US-Dollar-Abhängigkeit herauszukommen. Die BRICS-Staaten arbeiten intensiv an einer alternativen Reservewährung, und die Verwendung des US-Dollars soll schrittweise zurückgefahren werden. Damit fällt eines der Hauptinstrumente des Westens weg, mit denen die Entwicklungsländer jahrzehntelang im Würgegriff gehalten wurden.

Die Verdrängung des kriminellen US-Dollar-Leitwährungssystems

Der US-Dollar war nach dem Zweiten Weltkrieg als internationale Leitwährung bestimmt worden. Der Dollar war dabei durch eine Goldbindung abgesichert, die jedoch 1971 von Präsident Nixon aufgehoben wurde. In einem Artikel der Welt vom 15. August 2011 wurden die Folgen gut beschrieben:

„Bis zu diesem Tag konnte jeder 35 Dollar gegen eine Feinunze (31,1 Gramm) eintauschen. In einem Federstrich hatte Nixon im August 1971 diesen historischen Goldstandard aufgehoben. (…) Von diesem Zeitpunkt an war die Weltleitwährung Dollar nur mehr eine Papierwährung, die beliebig vermehrt werden konnte. (…) Der Wert der Devisen war nicht mehr an einen festen Anker gekoppelt. Anders als beim Goldstandard, der den Zentralbanken gewisse Beschränkungen auferlegte, weil sie ihre Währungen stets mit Gold unterlegen mussten, hatten die Notenbanken plötzlich freie Hand bei ihrer Geldpolitik. Die Zeit fester Regeln war vorbei …“ (21)

Nichtsdestotrotz wurde der US-Dollar weiterhin als sichere globale Reservewährung gehandelt. Der US-Dollar war nach wie vor weltweit nachgefragt, und damit stand dem westlichen System unter Führung der USA ein starkes Machtinstrument unbegrenzt zur Verfügung.

Im Jahr 2011 hatte der libysche Präsident Muammar Gaddafi versucht, Afrika im Rahmen der Afrikanischen Union (AU) vom US-Dollar zu lösen und hierfür ein neues internationales Währungssystem auf Basis eines Gold-Dinars aufzubauen. Er hat sein Ziel jedoch nicht erreichen können — er wurde ermordet. Heute steht hinter dieser einstigen Idee Gaddafis von der Löslösung vom US-Dollar aber nicht mehr nur eine Einzelperson, sondern ein großer Teil des globalen Südens. Immer mehr Länder steigen beim Handel untereinander auf alternative Währungen um und zahlen untereinander mit ihren jeweiligen Landeswährungen.

Allein damit hat sich der internationale Finanzmarkt schon merklich verändert. So werden beispielsweise 70 Prozent der Handelsgeschäfte zwischen Russland und China nicht mehr in US-Dollar, sondern in Rubel oder Yuan abgewickelt; bei Geschäften zwischen Russland und Indien dienen Rupien als Zahlungsmittel. Zudem bieten China mit CIPS (Cross-Border Interbank Payment System) und Russland mit SPFS (Система передачи финансовых сообщений, deutsch: System für die Übertragung von Finanznachrichten) — beides Zahlungssysteme von Banken — Alternativen zum westlichen SWIFT-Transaktionssystem. Damit können Handelsgeschäfte und Kreditvergaben im Interesse aller Beteiligten abgewickelt werden, das heißt, ohne dass neue Abhängigkeiten im Sinne der bekannten neokolonialen Muster entstehen. Das Machtinstrument US-Dollar verliert auch damit seine Wirkkraft (22).

Fazit

Seit mehr als 500 Jahren beherrschen einige wenige westliche Großmächte die Welt. Ihre wirtschaftlich-politische Stärke ermöglichte es ihnen, nach und nach den gesamten globalen Süden zu kolonialisieren und auszubeuten und dabei zugleich jede eigene Entwicklung der Völker zu unterdrücken.

Alle Versuche, das Recht auf Selbstbestimmung der Völker für alle Staaten der Erde durchzusetzen, sind bis heute immer wieder gescheitert. So stand Wladimir Lenin im Jahr 1917 mit seinem Dekret über den Frieden, in dem er das Recht auf Selbstbestimmung der Völker festgeschrieben hatte, noch relativ isoliert da. Auch wenn viele Völker ihre Hoffnungen in die Völkerbundverhandlungen von 1919 gesetzt hatten, waren doch die kolonialen Großmächte immer noch stark genug, um die Verhandlungsergebnisse allein ihren Interessen entsprechend zu gestalten.

Nicht anders zeigte es sich bei den Regelungen der UN nach 1945. Das Recht auf nationale Selbstbestimmung der Völker war hier immer noch nicht festgeschrieben worden. Im Gegenteil, das UN-Treuhandsystem brachte für die kolonialisierten Völker keinerlei praktische Veränderungen mit sich. Selbst als 1960 das Recht auf Selbstbestimmung explizit in der UN-Resolution 1514 (XV) festgelegt war, fanden die westlichen Großmächte Mittel und Instrumente, um den globalen Süden weiterhin neokolonial zu beherrschen.

Nun allerdings verschieben sich die Machtverhältnisse in der Welt. Dynamik, Zielstrebigkeit und Solidität dieses Prozesses sind beeindruckend. Im gesamten globalen Süden schließen sich die Staaten zu Gemeinschaften zusammen, um eigene Entwicklungen zu fördern.

Dabei können sie mit Russland und China auf starke und faire Partner bauen.

Am 4. Februar 2022 gaben Putin und Xi eine gemeinsame Erklärung ab, die weltweit mit großer Aufmerksamkeit wahrgenommen wurde. Sie forderten in dieser Erklärung die Schaffung einer gerechten Weltordnung. Wenig später, am 28. Juli 2023, gaben mit der Abschlusserklärung des II. Russland-Afrika-Gipfels schon 50 Staatsvertreter eine ähnliche Erklärung ab. Der gemeinsame Nenner beider Erklärungen war a) die Forderung des Rechts auf Souveränität und Selbstbestimmung der Nationen, b) die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten durch einige wenige andere Staaten sowie c) die Forderung nach Anerkennung der UN und der UN-Charta vonseiten aller Staaten.

Es zeigt sich deutlich, dass der Einflussbereich des Westens zunehmend schwindet. Die westlichen Mächte versuchen, dies zu verhindern. Dabei wenden sie die unterschiedlichsten Mittel an, wie zum Beispiel Versprechen von Wirtschaftsvorteilen oder Androhung von Wirtschaftssanktionen, gegebenenfalls auch Gewalt. Dennoch verschieben sich die Machtverhältnisse in der Welt unaufhaltsam. Es ist eine spannende Zeit.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Konzeption der Außenpolitik der Russischen Föderation (gebilligt vom Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, am 31. März 2023), in: https://mid.ru/en/foreign_policy/fundamental_documents/1860586/?lang=de, Zugriff 27. Juli 2023
(2) Ebenda, Punkt II.7.
(3) Erklärung zum II. Russland-Afrika-Gipfel, 28. Juli 2023, in: http://en.kremlin.ru/supplement/5972, Zugriff 29. Juli 2023
(4) Generalversammlung, 2625 (XXV). Erklärung über Grundsätze des Völkerrechts betreffend freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen, 24. Oktober 1970, in: https://www.un.org/depts/german/gv-early/ar2625.pdf, Zugriff 25. Juli .2021
(5) Erklärung zum II. Russland-Afrika-Gipfel, 28. Juli 2023, in: http://en.kremlin.ru/supplement/5972, Zugriff 29. Juli 2023
(6) Putin: Afrika gebührt ein würdiger Platz bei Entscheidungen über das Schicksal der Welt, 24. Juli 2023, in: https://de.rt.com/afrika/176053-putin-afrika-hat-wuerdigen-platz/, Zugriff 29. Juli 2023
(7) Westen wirft Russland Kolonialismus vor, 28.07.2023, in: https://de.rt.com/kurzclips/video/176406-westen-wirft-russland-kolonialismus-vor/, Zugriff 29.07.2023
(8) EU-Abgeordneter Sonneborn: Globaler Süden will nicht mehr vom Westen ausgeplündert werden, 3. August 2023, in: https://de.rt.com/afrika/176892-eu-abgeordneter-sonneborn-globaler-sueden/, Zugriff 5. August 2023
(9) Kanwal Sibal: Eurasische Staatschefs fokussieren sich auf gemeinsame Ziele und gehen Differenzen aus dem Weg, 9.7.2023, in: https://de.rt.com/meinung/174748-eurasischen-staatschefs-fokussieren-sich-auf-gemeinsame-ziele-und-gehen-differenzen-aus-dem-weg/, Zugriff 28. Juli 2023
(10) Seyed Alireza Mousavi, SOZ-Gipfel in Indien: Abwehrstrategie gegen Unruhestiftung in Asien, 6.7.2023, in: https://de.rt.com/asien/174510-soz-gipfel-in-indien-abwehrstrategie/, Zugriff 23. Juli 2023
(11) OAS (Organisation Amerikanischer Staaten), 1948 auf Initiative der USA gegründet, um potenziellen Einfluss der Sowjetunion in der Region zu unterbinden
(12) Südamerika-Gipfel endet mit Appell zur Einigkeit: „Es hat uns nichts genutzt, gespalten zu sein“, 31. Mai 2023, in: https://de.rt.com/amerika/171436-suedamerika-gipfel-endet-mit-appell/, Zugriff 18. Juli 2023
(13) Thomas Röper: Der globale Süden stellt sich offen gegen den Westen, 7. Juli 2023, in: https://de.rt.com/international/174613-globale-sueden-stellt-sich-offen/, Zugriff 26. Juli 2023
(14) Thomas Röper: Die BRICS laden 70 Staatschefs ein, aber niemanden aus dem Westen, 5. Juni 2023, in: https://www.anti-spiegel.ru/2023/die-brics-laden-70-staatschefs-ein-aber-niemanden-aus-dem-westen/, Zugriff 23. Juli 2023
(15) Pjotr Akopow: Der Westen wird kleiner und die BRICS werden immer größer, 5. Juni 2023, in: https://de.rt.com/international/171737-westen-wird-kleiner-und-brics/, Zugriff 12. Juni 2023
(16) Südafrika: BRICS-Gipfel wird „tektonischen Wandel“ der Weltordnung nach sich ziehen, 3. August 2023, in: https://de.rt.com/international/176884-brics-gipfel-wird-tektonischen-wandel-der-weltordnung-nach-sich-ziehen/, Zugriff 4. August 2023
(17) G77 ist ein 1964 gegründeter Zusammenschluss von damals 77 und heute 134 Staaten des globalen Südens innerhalb der UN
(18) Thomas Röper: Der globale Süden stellt sich offen gegen den Westen, 7.7.2023, in: https://de.rt.com/international/174613-globale-sueden-stellt-sich-offen/, Zugriff 30. Juli 2023
(19) Südafrika: BRICS-Gipfel wird „tektonischen Wandel“ der Weltordnung nach sich ziehen, 3. August 2023, in: https://de.rt.com/international/176884-brics-gipfel-wird-tektonischen-wandel-der-weltordnung-nach-sich-ziehen/, Zugriff 4. August 2023
(20) Tyler Durden: Escobar: BRICS 11 — Strategische Tour de Force, 27. August 2023, in: Escobar: BRICS 11 — Strategische Tour de Force | ZeroHedge, Zugriff 30. August 2023
(21) Holger Zschäpitz: Vor 40 Jahren begann die Ära des Gelddruckens, 15. August 2011, in: https://www.welt.de/finanzen/article13546275/Vor-40-Jahren-begann-die-Aera-des-Gelddruckens.html, Zugriff 12. August 2023
(22) Pepe Escobar: Die De-Dollarisierung läuft auf Hochtouren, 25. Mai 2023, in: https://de.rt.com/international/170683-de-dollarisierung-laeuft-auf-hochtouren/, Zugriff 21. Juli 2023


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