Als Maeva ihn am nächsten Morgen abholte, bedrückte ihn die anstehende Aufgabe mehr, als er sich eingestehen wollte. Er hatte den Jungen gerne, die Tatsache, dass sie sich nur selten begegneten, änderte daran nichts. Steve schien sich in den wenigen Wochen, die sie nun auf der Insel waren, vollständig aus der Isolation seines Spielerdaseins befreit zu haben. Er hatte Freunde gefunden und war verliebt. Das alles sollte jetzt mit einem Schlag vorbei sein. Der nächste Flug nach Auckland ging in drei Tagen, es blieb also noch Zeit, sich in die Rolle des Unglücksboten zu fügen. Cording mochte nicht daran denken, was Steve in London erwartete. Die Beerdigung, die Erbschaftsangelegenheiten, der Schmerz ... am liebsten hätte er ihn begleitet.
„Was bedrückt dich?“, fragte Maeva, nachdem er die siebzig Kilometer bis zum Institut geschwiegen hatte. „Was ist es? Sag.“
„Entschuldigen Sie“, murmelte Cording, der in Gedanken immer noch bei Steve war. „Alles in Ordnung ...“
Er wusste selbst nicht, warum er Maeva nicht einweihte.
„Warum sagst du Sie zu mir?“, fragte sie leise. Ihre Stimme zitterte, als befürchtete sie, einen großen Fehler begangen zu haben.
Cording schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
„Das war dumm von mir, verzeih. Lass uns arbeiten gehen. Alternative Energien*! Ich will alles über alternative Energien wissen!“, sagte er mit gespielter Fröhlichkeit. Auch Maeva beruhigte sich, wenngleich es bei ihr nur zu einem milden Lächeln reichte.
Das „Institut Ecologique du Pacifique“ kurz hinter Vairao war eine Ansammlung gelb gestrichener Baracken, die sich rechts der Straße hinter Maschendrahtzäunen auf flachem Gelände bis ans Meer erstreckten. Ernüchternd, hässlich. Auf der anderen Straßenseite lag eine ebenso schmucklose Wohnsiedlung, die demnächst nach den Erkenntnissen der Baubiologie renoviert werden sollte. Die Siedlung war sowohl den Wissenschaftlern als auch den Mitarbeitern der europäischen Firmen vorbehalten, die sich am ökologischen Neuaufbau Tahitis beteiligten. Verglich man dieses kasernenartige Ensemble mit den tahitianischen Fare ringsum, konnte der Gegensatz nicht größer sein. Cording war enttäuscht von der Forschungsstätte, die in den letzten Jahren doch entscheidende Impulse geliefert hatte. Sein gutes Renommee hatte es laut Aussage Professor Engelhardts, der sie in seinem Büro auf die Führung vorbereitete, vor allem dem „Terre Magique“* zu verdanken, jenem Straßenbelag, der Tahiti von den spärlich fließenden Lieferungen an japanischer Reiskleie unabhängig gemacht hatte.
„Es ist uns gelungen, einen Werkstoff zu kreieren, der die positiven Eigenschaften der Reiskleie noch übertrifft“, sagte der Wissenschaftler. „Die Rohstoffe wurden uns anfangs zugeliefert. Die Fidschi Inseln, Vanuatu, Neukaledonien — alle haben geholfen. Inzwischen sind unsere Straßen fast asphaltfrei.“
Engelhardt war Deutscher, er stammte aus Freiburg, aber er hatte „unsere Straßen“ gesagt, das zeigte ein hohes Maß an Verbundenheit.
„Bei ‚Terre Magique‘ handelt es sich um ein rein pflanzliches Produkt“, fuhr er fort. „Es setzt sich aus den Strünken der Miconia, den Fasern der Kokosnuss, zerschredderten Palmwedeln und den Blättern des Brotfruchtbaumes zusammen, ohne Verwendung von Kunstharzen wohlgemerkt. Das Besondere an dieser Erfindung: Sie ist wasserdurchlässig. Der Belag besteht zu vierzig Prozent aus Luftkammern, durch die das Regenwasser wieder ins Erdreich fließt. Auf diese Weise beugen wir der Versiegelung der Böden vor. Ein Traum, nicht wahr?“ Er blickte Cording triumphierend an.
„Stellen Sie sich vor, die Metropolen dieser Welt würden ihre Straßen nicht mit Asphalt bestreichen, sondern mit ‚Terre Magique‘. Das CO2-Problem wäre größtenteils gelöst! Und wissen Sie warum? Weil der Belag das CO2 speichert!“
Da war er wieder, der wissenschaftliche Enthusiasmus, der von Teilerfolgen beflügelt direkt in die Betriebsblindheit führte, dachte Cording. Allein in China waren seit der Jahrtausendwende über 400 Millionen neue Kraftfahrzeuge zugelassen worden. Der Wahnsinn der internationalen Automobilmachung wurde von Engelhardt nicht hinterfragt, auch nicht die damit verbundene Landnahme, die wie ein Beilhieb in die letzten funktionierenden Ökosysteme einschlug.
Ohne den Putsch in Saudi-Arabien und die damit verbundenen Preisexplosionen auf dem Ölmarkt, ohne den Zusammenbruch des US-amerikanischen Immobilienmarktes, der die amerikanische Volkswirtschaft erheblich schwächte, ohne das Seebeben von 2016, das die Ölvorkommen vor der mexikanischen Küste ausgehoben hatte, wäre die Erde schon heute nicht mehr atmungsfähig.
Es war also nicht der menschlichen Vernunft, sondern politischen, geologischen und ökonomischen Katastrophen zu verdanken, dass der Patient überhaupt noch lebte. Dennoch umhüllte mittlerweile ein mehr oder weniger vergiftetes Luftpaket von einem Kilometer Höhe die Erde, nach Einschätzung des Heidelberger Umwelt- und Prognose-Instituts war das Weltklima nicht mehr zu retten, und dieser Weißkittel saß auf Tahiti und setzte auf die heilsame Wirkung von Miconia-Strünken ...
Cording war drauf und dran, sich mit einem Schrei Luft zu verschaffen, riss sich aber zusammen. Vor diesem Augenblick hatte er sich gefürchtet. Das gesamte Tahiti-Projekt, das er dank seiner überaus reizenden Begleiterin bisher mit größter Sympathie zur Kenntnis genommen hatte, brach in sich zusammen, es war nichts wert, wenn man es in den internationalen Kontext stellte.
Engelhardts Hinweis auf die Metropolen dieser Welt, denen mit einem pflanzlichen Produkt aus der Krise zu helfen wäre, hatte ausgereicht, in ihm das aberwitzige Bild eines tahitianischen Kriegers entstehen zu lassen, der am Strand die Backen aufbläst, um einem heranrauschenden Tsunami Einhalt zu gebieten. Niemand bedauerte den plötzlichen Rückfall in die globalen Realitäten mehr als Cording selbst.
„Ihre ‚Terre Magique‘ ist sicher eine großartige Erfindung, Professor“, sagte er, nachdem er sich gefasst hatte. „Aber was mich am meisten interessiert, sind die Forschungsergebnisse auf dem Sektor der alternativen Energien. In der Pressemappe stand etwas von Solarfarmen und Wellenschlangen. Was muss ich mir darunter vorstellen?“
„Eine ganze Menge“, sagte Engelhardt, „eine ganze Menge ... Dann kommen Sie mal mit.“
Sie gingen über den Hof auf einen flachen, hundert Meter langen Bunker zu. Die Baracken links und rechts des Weges waren mit einem weißen Farbkreuz markiert, das war das Zeichen für ihren baldigen Abriss.
„Hier in dem Bunker ist unser Ozean untergebracht“, bemerkte der Professor scherzhaft, als er die Tür aufschloss.
Es handelte sich um einen gigantischen Pool, den man auf einem Stahlrost in halber Höhe umlaufen konnte. Cording wunderte sich über die roten Würste, die in Abständen von fünf Metern im Becken schwammen und zu beiden Seiten vertäut waren. An der Stirnwand befand sich ein gläserner Kontrollraum, vollgestopft mit modernster Computertechnik. Engelhardt stellte ihnen Dr. Pierre Michaux vor, einen Messwertingenieur, den er seinen „Wettergott“ nannte.
„Na, dann wollen wir mal“, sagte Engelhardt und gab seinem Mitarbeiter, der in den Kontrollraum zurückgekehrt war, ein Zeichen. Kurz darauf standen sie im Dunkeln. Im schwachen Widerschein der Monitore glich der Kontrollraum der Kommandozentrale einer Raumkapsel, die gerade zur Landung ansetzt. Cording schaute über die Brüstung. Zu erkennen war wegen der anhaltenden Dunkelheit nichts. Aber das knarrende Geräusch der Taue, die an der Verankerung zerrten und das immer stärker werdende Geplätscher am Beckenrand ließen vermuten, dass das Wasser in Bewegung geraten war. Lange brauchte er nicht zu rätseln, denn kurz darauf glommen an der Decke die Leuchtstoffröhren auf. Unter ihnen rauschte eine Welle nach der anderen vorbei, wie freigelassene Windhunde rasten sie über das nasse Parkett und warfen sich auf die roten Schlangen, die geschmeidig unter ihnen hinwegtauchten.
„Das Licht ist sozusagen taufrisch“, bemerkte Engelhardt stolz, „es wird in diesem Moment von der Pelamis gewonnen. Die Pelamis* besteht aus vier zylinderförmigen Segmenten, die durch Scharniere miteinander verbunden und beweglich sind. Dadurch passt sie sich den Wellenbewegungen an. Anstatt der Brandung widerstehen zu müssen, taucht die Pelamis durch die Wellen hindurch und verwandelt dabei deren Energie zu Strom.“
„Pelamis?“
„Pelamis ist griechisch und bedeutet Seeschlange“, erklärte Engelhardt ohne Überheblichkeit. Er war ein netter Mann. „Das Prinzip ist denkbar einfach“, fuhr er fort. „Die Stromgewinnung erfolgt bereits bei Wellen ab einem Meter Höhe, wenn die Seeschlangen noch sanft in der Dünung schaukeln. Ihre Bewegungen pressen die hydraulische Flüssigkeit im Innern der Segmente zusammen. Der Druck wird weitergeleitet und treibt einen Motor an, der wiederum an einen Generator gekoppelt ist. Das ist alles, mehr steckt nicht dahinter. Wenn sie unsere Pelamis in der Natur beobachten wollen, fahren sie nach Pueu, dort installieren wir gerade das letzte von vier Kraftwerken. Nach Schätzung des Weltenergierats in London könnten solche Wellenkraftwerke künftig ein Viertel des globalen Strombedarfs decken.“
Stichwort London! Er musste an Steve denken. Während der Vorführung hatte Cording fast vergessen, welch unangenehme Aufgabe ihm noch bevorstand. Als Engelhardt von den Segnungen eines japanischen Forschungsprojekts, des so genannten Wellengartens* berichtete, überlegte er, wie er so schnell wie möglich seinen Abgang bewerkstelligen konnte, ohne unhöflich zu erscheinen. Der Wellengarten war Zukunftsmusik. Tahitis Bedarf war gedeckt, da musste er sich in seiner Gemütsverfassung nicht auch noch einen Vortrag über ein futuristisches Modell aus Tausenden auf dem Meer schwimmender Kacheln anhören, an deren Unterseite Gewichte mit piezoelektronischen Sensoren hingen.
„Pueu?“, fragte Cording in eine Pause hinein. „Die Pelamis werden vor Pueu installiert?“
„Vor Pueu, vor Hitiaa, bei Vairao ganz in der Nähe und hinter Teahupoo, aber dort kommt man nur mit dem Boot hin. An allen vier Stellen ist das Korallenriff auf mindestens fünfhundert Metern unterbrochen. Die Brandung reicht dort bis ans Ufer, sodass wir die Seeschlangen nahe der Küste verankern können, was sehr praktisch ist.“
„Ich werde mir das jetzt mal anschauen“, sagte Cording. „Wenn Sie erlauben, komme ich gern noch einmal wieder. Sie müssen mir nämlich unbedingt noch von dieser Brennnessel- und Bambuskleidung* erzählen, die bei Ihnen entworfen wurde. Sind sie sicher, dass das nicht kratzt?“
Engelhardt zupfte an seinem Kittel.
„Hundert Prozent Brennnessel“, sagte er. „Fassen Sie an. Nur keine Scheu.“
Cording strich über den Stoff — er war seidenweich.
„Wir benutzen die Fasern im Innern des Stängels und nicht die Blätter, wie häufig vermutet wird. Wenn der Präsident von Tahiti sich darin wohl fühlt, warum nicht auch wir?“
„Es war Omai, der angeregt hatte, ein spezielles Tahiti-Tuch zu entwickeln“, klärte ihn Maeva auf dem Weg zum Auto auf. „Er war ganz besessen von der Idee. Die Haut der Tahitianer, sagt er, hätte es nach all den unangenehmen Reibereien der Vergangenheit verdient, wieder mit der Seele ihrer Heimat in Berührung zu kommen. Unsere Pflanzen sind für ihn die Seele Tahitis.“
„Steves Mutter ist gestorben“, unterbrach Cording. „Ich weiß nicht, wie ich es ihm beibringen soll.“
Maeva blieb eine Weile stumm sitzen, dann stellte sie den Motor an.
„Wo wohnt er?“, fragte sie.
„Bei Anapa, in der Nähe von Teahupoo.“
Sie fuhren los. Richtung Teahupoo. Maeva verzichtete auf Fragen. Cording war froh, sie dabei zu haben. Sie passierten den Berg mit dem Fußabdruck des Gottes Maui, der den Himmel in die Höhe gestemmt hatte, damit die Menschen aufrecht gehen konnten. Maui war es, der die Inseln des Südpazifiks der Legende nach vor Urzeiten vom Meeresboden gefischt hatte und jeden Morgen die Sonne einfing.
Bei Teahupoo endete die Straße. Auch der Reva-Tae würde nach seiner Fertigstellung auf Iti lediglich bis hierhin fahren. Die Ostküste war zu schroff für eine Streckenführung, man konnte sie bestenfalls zu Fuß erwandern. Außerdem war die Gegend des Pari seit langem als Naturschutzgebiet ausgewiesen.
Maeva kannte das Haus von Anapas Familie, gab aber zu bedenken, dass man um diese Zeit dort schwerlich jemand antreffen würde. Sie gingen an den Strand, wo sich die Dorfjugend in der Lagune tummelte.
Cording setzte sich auf den festgebackenen Lehmboden und beobachtete das irre Treiben. Maeva wanderte am Ufer entlang und spähte aufs Wasser hinaus. Plötzlich begann sie wie wild mit den Armen zu fuchteln. War das Steve, der da in einiger Entfernung auf einem Waterbike* vorbei flitzte? Anapa hatte Cording neulich voller Begeisterung von dem Gerät erzählt. Man saß darauf wie auf einem Rennrad, das auf einem modifizierten Surfbrett montiert war. Sobald man kräftig genug in die Pedale trat, hob sich das von einem Propeller angetriebene und vom Auftrieb dreier Tragflügel stabilisierte Brett aus dem Wasser. Das Waterbike konnte es an Geschwindigkeit bequem mit einem achtsitzigen Ruderboot aufnehmen.
Endlich schien die Person auf dem merkwürdigen Gefährt Maevas Signale empfangen zu haben. Es handlte sich tatsächlich um Steve, der da in gebückter Rennfahrermanier aufs Ufer zurauschte. Cording ging ihm klopfenden Herzens entgegen und war erstaunt, als der Junge ihm zur Begrüßung euphorisch in die Arme fiel.
„Deine Mutter ist gestorben“, murmelte Cording.
Steves Energie verpuffte auf der Stelle. Schwer und schlaff hing er an Cordings Schultern. Das Mädchen, das den Jungen am Marae begrüßt hatte, näherte sich so vorsichtig, wie man sich einem schwer verletzten Tier nähert. Steve begann zu zittern. Er befreite sich aus der Umarmung und sah Cording unverwandt an.
„Das letzte Mal, als wir zusammen waren, haben wir uns angeschrien“, sagte er mit tränenerstickter Stimme und lief davon.
Das Mädchen rannte ihm hinterher. Als auch Cording sich anschickte, ihm zu folgen, hielt ihn Maeva zurück. Gemeinsam beobachteten sie, wie Fara ihrem englischen Freund übers Gesicht strich, seinen Kopf an ihre Brust presste, ihn umarmte und schaukelte wie ein Baby.
Am Tag von Steves Abreise veranstaltete Maeva ein Popoi-Essen , zu dem sie außer Cording und Steve auch dessen Freundin Fara, Anapa und die gesamte Clique aus Teahupoo eingeladen hatte. Cording war wie immer pünktlich, doch die anderen ließen auf sich warten. Da Maeva noch mit den Vorbereitungen beschäftigt war, lud ihn die Mutter auf einen Spaziergang ein. Cording hegte den Verdacht, dass sie mit ihm über ihr kleines Geheimnis sprechen wollte, doch es hatte zunächst nicht den Anschein. Sie führte ihn zu einem Brotfruchthain und erklärte ihm die Bedeutung dieses für Tahiti so bedeutenden Baumes, der mit seinen ausladenden, starken Ästen einen beeindruckenden Anblick bot. Die Ränder seiner großen Blätter waren fantasievoll gezackt und die Frucht ähnelte in Umfang und Aussehen einer Honigmelone, nur dass ihre Oberfläche nicht mit der für die Melone so typischen Rippen überzogen, sondern mit kleinen kegelförmigen Auswüchsen bedeckt war.
„Die Brotfrucht muss mit Feuer in Berührung kommen, um essbar zu werden“, sagte Mihirai. „Am einfachsten ist es, sie direkt in die Glut zu legen. Nach fünfzehn Minuten wird die Schale braun und platzt. Dann gewinnt man das weiche, weiße Popoi in seiner reinsten und köstlichsten Form. Wenn es so gegessen wird, hat es ein mildes und angenehmes Aroma.“
Cording glaubte jetzt zu wissen, warum Maevas Mutter mit ihm allein sein wollte. Vermutlich versuchte sie sich ein Bild von dem Mann zu machen, der vor neun Jahren mit ihrer vierzehnjährigen Tochter gesprochen und nun zurückgekehrt war. Sie musste bemerkt haben, dass Maeva ihm mit Sympathie begegnete, da war es nur natürlich, dass sie ihn näher in Augenschein nahm.
„Wenn die Früchte im Tal reif geworden sind“, sagte Mihirai, „wird die weiche Fruchtmasse mit Stößeln bearbeitet, bis sie zu einer Art Teig geworden ist, den wir Tutao nennen. Der Tutao wird in Blätter verpackt, zusammengebunden und in Hohlräumen unter der Erde gelagert. Dort kann er sich jahrelang halten. Mit zunehmendem Alter wird er sogar immer besser ...“
Cording konnte nicht länger an sich halten.
„Haben Sie Maeva von dem Kniefall vor Ihrem Haus erzählt?“, entfuhr es ihm. Er musste diese Frage einfach loswerden.
Mihirai schien ihn nicht verstanden zu haben, jedenfalls zeigte sie keinerlei Reaktion. Sie pflückte ein Blatt vom Brotfruchtbaum und wendete es in ihren Händen.
„Wenn diese Blätter dahinwelken, gleichen ihre farbenprächtigen Schattierungen den flüchtigen Farbtönen des sterbenden Delphins. Wir Frauen benutzen sie dann als Kopfschmuck.“
Sie schlitzte die längsseits verlaufende Ader auf, steckte ihren Kopf durch die elastische Öffnung und strich mit den Fingern über den gezackten Rand wie über eine Hutkrempe.
„Gehen wir“, sagte sie, „das Essen wartet.“ Kurz bevor sie am Haus ankamen, fragte Mihirai: „Möchtest du denn, dass ich meiner Tochter davon berichte?“
„Ich weiß nicht“, antwortete Cording zögernd. Irgendwie war ihm sein Verhalten von damals unangenehm. „Vielleicht lieber noch nicht“, sagte er schließlich.
„Das denke ich auch“, pflichtete Mihirai ihm bei. Dann winkte sie Steve zu, der inzwischen eingetroffen war. „Sei willkommen, mein Junge. Haere mai tama’a!“
Haere mai tama’a — lass uns essen. Mihirai wiederholte diesen Satz gegenüber jedem der inzwischen eingetroffenen Gäste, die im Garten um ein paar ausgelegte Bastmatten hockten, auf denen Maeva mehrere Kalebassen mit dem berühmten Popoi aufgetragen hatte.
Cording betrachtete die weiche Masse in dem Gefäß, die ihn an klebrigen Leim erinnerte, und fragte sich, wie man sie wohl ohne Besteck und Kleckerei zum Munde führte. Anapa machte es ihm vor. Er tauchte den Zeigefinger hinein und zog ihn mit einer blitzschnellen Drehung wieder heraus. Eine weitere Drehung in entgegengesetzter Richtung verhinderte, dass das Popoi heruntertropfte, bevor sich seine Lippen um den Finger schlossen. Das musste zu schaffen sein. Cording tunkte nun ebenfalls seinen Finger hinein, aber als er ihn zurückzog, hafteten lange Fäden daran, die sich auch durch eine noch so elegante Drehung nicht abschütteln ließen. Im Gegenteil, sie waren so zäh, dass sie die Kalebasse fast von der Matte hoben.
Sein ungeschicktes Verhalten sorgte für große Heiterkeit in der Runde. Seltsamerweise war es Steve, der am lautesten lachte, obwohl die Ringe unter seinen Augen verrieten, dass er kaum geschlafen hatte letzte Nacht. Er saß tief über das Gefäß gebeugt und lutschte weg, was an seinen Fingern klebte. So gelenkig war Cording nicht, er hätte sich schon wie ein Hund auf die Knie begeben müssen. Also blieb er bei seiner tollpatschigen Methode, die ihm trotz aller bemühten Drehs Hände und Gesicht verschmierte. So lange er die Anwesenden dadurch zu unterhalten wusste und keinen Anstoß erregte, sollte es ihm recht sein. Das Zeug schmeckte übrigens sehr gut, es hatte ein mildes, angenehmes Aroma, wie Mihirai gesagt hatte. Dazu tranken sie Kokosmilch.
Der Nachmittag verging in einer geselligen, fast fröhlichen Atmosphäre, die dem Anlass eigentlich nicht angemessen war. Um Steve wurde nicht mehr Aufhebens gemacht, als um jeden anderen auch. Zwar wich ihm Fara nicht von der Seite, aber sie hielt nicht Händchen, sie bemutterte ihn nicht. Der Todesfall in Steves Familie wurde mit keinem Wort erwähnt. Auch die Jungs aus Anapas Clique verhielten sich vollkommen normal. Sie diskutierten über das Denkmal, dass sie ihrem Helden Malik Joyeux am Strand von Teahupoo errichten wollten, der vor siebzehn Jahren in der „Banzai Pipeline“ vor Hawaii ums Leben gekommen war. Ihrer Meinung nach war er der wagemutigste Wellenreiter, den Tahiti je hervorgebracht hatte.
Cording war zunächst befremdet darüber, wie ignorant man in Mihirais Haus mit Steves Schicksalsschlag umging. Aber wer den Jungen in diesen Stunden beobachtete, stellte fest, dass ihm nichts Besseres hätte passieren können. Er würde nach seiner Rückkehr von genügend Leuten umgeben sein, deren betrübte Mienen wie Masken auf den Gesichtern lagen, die in Gestik und Tonfall routiniert auf Moll stellten und über ein Leid spekulierten, das sie selbst nie in Erfahrung bringen würden — aus Termingründen vermutlich und weil der Tod, würde man sich denn ehrlich mit ihm auseinandersetzen, zu allerlei Korrekturen in diesen mächtigen, vermurksten Biografien führen müsste. Auf dem Rasen vor Maevas Haus aber wurde dem Jungen trotz seines Schockzustands wieder Leben eingehaucht. Die Abschiedstränen flossen noch früh genug und als seine Freunde Steve gegen Mitternacht im Flughafengebäude die obligaten Muschelkränze umhängten, konnte selbst Cording nicht mehr an sich halten.
„Wir sehen uns in drei Wochen in London“, sagte er mit belegter Stimme.
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Quellen und Anmerkungen:
*Die Erklärungen der im Roman verwendeten Fachbegriffe sowie Hinweise für interessierte Leser auf weiterführende Literatur oder Webseiten befinden sich im Buch. Obwohl das „Tahiti-Projekt“ ein Zukunftsroman ist, sind die in ihm dargestellten technischen Lösungen und sozioökologischen Modelle keine Fiktion: sie existieren bereits heute! Das einzig Fiktive ist die Annahme, dass irgendwo auf diesem Planeten tatsächlich mit konkreten Veränderungen in Richtung auf eine zukunftsfähige Lebensweise begonnen wurde.