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Das verdrängte Weibliche

Das verdrängte Weibliche

Ob wir zu Fachidioten werden oder zu Weisen, hängt davon ab, ob Mythos und Logos erneut zusammenfinden. Exklusivabdruck aus „Der Königsweg“.

In seinem bekannten Roman „Momo“ beschreibt Michael Ende, wie es einem kleinen Mädchen in bunten Lumpenkleidern gelingt, die grauen Herren zu besiegen, die den Menschen ihre Lebenszeit stehlen und in ihren Zigarren verrauchen. Nach einer langen Reise bekommen die Menschen ihre Zeit zurück, weil Momo eine besondere Gabe hat: Sie kann gut zuhören. Indem die Menschen ihr ihre Geschichten erzählen, werden ihnen die Augen geöffnet. Sie sehen klar. Im Spiegel, den das kleine Mädchen ihnen vorhält, erkennen sie ihre Wahrheit.

Es ist das gesprochene Wort, das transformierend wirkt. Hierfür hat die altgriechische Sprache zwei Begriffe: Mythos und Logos. Während Mythos sich auf göttliche Worte oder Zeichen bezieht, durch die sich eine höhere, nicht sichtbare Wirklichkeit in dem für uns wahrnehmbaren Bereich kundtut, bezieht sich Logos auf das, was der Mensch durch seine eigene Bemühung erkennt oder zu erkennen glaubt. Wenn beide Begriffe ineinandergreifen, ergibt sich daraus die Mythologie, definiert als die Gesamtheit der Mythen, Sagen und Dichtungen aus der sogenannten Vorzeit eines Volkes.

Bereits in der griechischen Aufklärung wurde der Mythos vom Logos getrennt. Seitdem ergreift der Logos die Vorherrschaft. Das das Göttliche ausschließende rationale Denken, das zu Materialismus und Kapitalismus führte und schließlich einer posthumanen Ära den Weg ebnete, hat den Mythos in den Bereich des Märchenhaften, Vagen, Fabulösen abgedrängt.

Der Begriff mythisch wird heute sogar mit falschen Vorstellungen und Lüge assoziiert. Somit sind die alten Mythen und Erzählungen unserer Vergangenheit zu bloßen Erfindungen degradiert worden. Die Botschaften früherer Kulturen und die Erinnerung an unsere geistige Herkunft kommen bei uns nicht mehr an, da wir den Weg des Logos beschritten und uns vom Weg der umfassenden Erkenntnis getrennt haben. So bleibt uns die höhere, nicht sichtbare Wirklichkeit verschlossen. Wir können sie nicht erkennen. Empfänglich für umfassende Erkenntnisse werden wir dann, wenn Mythos und Logos wieder ineinandergreifen, wenn wir also nicht allein der Ratio das Steuer überlassen.

Ob wir zu Fachidioten werden oder zu Weisen, hängt davon ab, ob wir die uns zur Verfügung stehenden Kräfte zusammenspielen lassen oder nicht. Viele wissenschaftliche Durchbrüche wurden nicht durch angestrengtes mentales Brüten erreicht, sondern in Phasen der Entspannung und des wohligen Ganzseins. „Heureka! Ich hab’s!“, überkam es den griechischen Physiker Archimedes in der Badewanne. So ist wahre Erkenntnis mytho-logisch: ganzheitlich. Das Mythische eröffnet Dimensionen, die der logischen Erkenntnis verborgen bleiben. Der Logos erklärt und schützt den Mythos. Beide ergänzen und brauchen einander.

Denn Mythos ohne Logos führt zu Aberglauben und religiösem Fanatismus. Logos ohne Mythos hingegen führt zu seelenloser Wissenschaft und zu gottloser Ideologie.

Das Interesse an alten Mythen und Erzählungen ist in der heutigen Zeit groß und zeigt sich am Erfolg von Verfilmungen wie „Der Herr der Ringe“ oder der Artussage. Der anhaltende Bestsellererfolg des bereits 1997 erschienenen Buches „Die Wolfsfrau“ der Psychoanalytikerin Clarissa Pinkola Estés verdeutlicht, wie viele Menschen sich für ein Wiederentdecken der Bedeutung des Weiblichen in den alten Erzählungen interessieren.

Der Königsweg führt mitten hinein in die Geschichten des kollektiven Bewusstseins. In ihrem Buch „Die Göttin und ihr Heros“ rekonstruiert Heide Göttner-Abendroth die verdrängte, verdeckte und vergessene matriarchale Spiritualität in Mythen, Märchen und Dichtung. Sie sind die Überlieferer der tausend Gesichter der Mutter Erde, der Frau Welt, der großen Göttin, die in allem lebt, vom geringsten Stein bis zum größten Planeten. Die irdische und kosmische Natur in allen ihren Erscheinungsformen ist in der matriarchalen Weltanschauung nicht nur physikalisch beschreibbare Materie, sondern ein geistvolles, beseeltes, göttliches Gegenüber.

Untersucht werden die zunächst lange Zeit nur mündlich überlieferten Erzählungen aus Ägypten, Indien, Griechenland, Babylon, Persien, Nordwest- und Mitteleuropa sowie die bekannten Zaubermärchen und mittelalterlichen Epen. Erst in der patriarchal geprägten Zeit wurden diese Überlieferungen von männlicher Hand schriftlich festgehalten und in eine Form gebracht, die die ursprünglich weiblichen Gott- und Wesenheiten in männliche verwandelten. Mittels der von ihr erarbeiteten vergleichenden, patriarchatskritischen Analyse entwirrt Heide Göttner-Abendroth die Umkehrungen, denen auch die alten Erzählungen unterworfen wurden, und arbeitet akribisch ihren matriarchalen Hintergrund heraus.

In vielen Mythen und Legenden wurde die göttliche Urschöpferin zur Gattin oder Tochter eines Vatergottes degradiert, ohne den sie nichts vermochte. Da die Göttinnen die patriarchalen Götter nicht freiwillig heirateten, waren Raub und Vergewaltigung gängige Methoden der Unterjochung.

Nach und nach stahlen die Vatergottheiten den Muttergöttinnen ihre ursprünglichen Attribute und Symbole und nahmen der Frau alle Bereiche des Lebens, die sie vorher innehatte: Schenken des Lebens, Magie, Orakel, Inspiration, Dichtkunst, Medizin, Weisheit.

In der christlichen Religion wurde aus der Liebesgöttin Eva die sündige Frau, aus dem ursprünglichen Liebessymbol des Apfels wurde ein Todessymbol und aus der welterschaffenden Schlange der Teufel. Die männlichen Gottheiten, die es ursprünglich überhaupt nicht gab, erschienen im Laufe der Patriarchalisierung als Fruchtbarkeitsheros in Tiergestalt, als Atmosphäreheros mit Blitz und Donner, als vergöttlichter Heros, als unsterblicher, allmächtiger und schließlich verabsolutierter Vatergott, der letztendlich zu einem abstrakten philosophischen Prinzip ohne Personifikation und ohne Bezug zur Schöpfung wurde, bevor er ganz verschwand.

Diese Entwicklung vollzog sich nicht widerstandslos. Die vielen Mythen von Götterschlachten zeugen von dem Ringen zwischen matriarchaler und patriarchaler Weltordnung. Im Christentum, so Göttner-Abendroth, war es der alte Gott Luzifer, dessen Name Lichtbringer bedeutet und der sich auf den Morgenstern bezieht, der den Aufstand gegen den patriarchalen Gott Jahwe anführte. Als Strafe dafür, sich gegen den obersten Herren zu wenden, wurde er aus dem Himmel verbannt. Der Lichtbringer stürzte in den Schoß der Erde, den Ort, den das Christentum zur Hölle gemacht hat. Tief drang er in die Materie ein und schwor, die von Jahwe verdrehte Ordnung wieder aufzulösen.

Ein Drittel der Engel und viele matriarchale Symboltiere folgten Luzifer und wurden mit ihm zusammen zu Dämonen degradiert. Er selbst fühlte sich einer weiblichen Gottheit verpflichtet, der Hagia Sophia, der Heiligen Weisheit, der großen Mutter, die noch im gnostischen Christentum verehrt wurde und das Universum zusammenhielt. Am Ende der Zeiten — dann, wenn die Vorstellungen von Zeit und Raum überwunden sind und die fünfte Dimension erreicht ist — reißt sich Luzifer aus den Fesseln der Unterwelt los und tritt dem Patriarchen als mächtiger Rebell entgegen. An seiner Seite steht, mitten im Himmel, das Haupt von Sternen bekränzt, die Hagia Sophia, die Mutter des Universums. Die zur Schlange, zum Drachen, zur Hexe degradierte Göttin wird rehabilitiert, und das Tier und der falsche Prophet werden in einen See von brennendem Schwefel geworfen. So steht es in der Offenbarung des Johannes.

Kein Gesetz des Vaters hat die Weisheit der großen Mutter brechen können. Die Geschichten sind bis heute lebendig. Demeter wird auch im patriarchalen Griechenland verehrt, Isis im patriarchalen Ägypten und Kali im patriarchalen Indien. Sie leben weiter in der Welt der monotheistischen Staatsreligionen, neben einem verabsolutierten Vatergott als einzigem Prinzip, neben der patriarchal ausgerichteten Philosophie und Wissenschaft, in denen das Weibliche stets das negative Prinzip darstellt, das Schlechte, das Verwerfliche, Unreine, Sündige, Böse, Irrationale, Unlogische, Beschränkte, Mangelhafte, von der männlichen Norm Abweichende.

Die Göttinnen leben auch in den alten Haus- und Zaubermärchen weiter. Als Abbilder der komplexen Praxis archaischer Gesellschaften sind sie, so Göttner-Abendroth, nur mithilfe eines kulturhistorischen Ansatzes zu deuten. In ihren Botschaften stehen sie den Mythen in nichts nach. Ihre Einfachheit erklärt sich aus den Gefahren, denen vor allem Frauen ausgesetzt waren, wenn sie das alte Wissen weitergaben. Statt von der Muttergöttin wurde von der Mutter gesprochen, statt von einer Tochtergöttin, Hohepriesterin oder Erbprinzessin nur von der Prinzessin. Systematisch wird auch hier den Frauen nach und nach alle Macht genommen. Aus unabhängigen und legitimen Erbprinzessinnen werden bestenfalls Prinzengattinnen und aus Initiationsriten Liebessoaps. Die Erd- und Unterweltgöttin Hella, Urbild des Guten, Fruchtbaren, Gerechten, Mütterlichen, wird mit Frau Holle zu einer Art gutmütigen Hausfrau, bevor sie in späteren Erzählungen zu einer kinderfressenden Hexe wird.

Auch an der Epik des Mittelalters wird deutlich, wie scharf und bewusst der Konflikt zwischen matriarchaler und patriarchaler Denkweise ausgetragen wurde.

Systematisch wurde versucht, die ursprünglichen Göttinnen zu degradieren und Erotik und Sexualität zu verteufeln. Die überall anwesende All-Göttin-Mutter wurde zum Drachen und die begeiste(r)te Natur erscheint als Unordnung und Gefahr. Die Erdgöttin Hella wurde zur Hölle, und aus dem ursprünglich umfassenden All spaltete sich das Jenseits ab.

In der christlichen Ethik kommt es zu einer wahren Anti-Sex-Hysterie. Vor allem der weibliche Körper gilt als schmutzig und anstößig. Der heilige Hieronymus lehrte, dass auch in der rechtmäßigen Ehe aller Sexualität eine Verderbtheit anhafte. Der frühchristliche Gelehrte und Theologe Origines stellte als Erster die Behauptung auf, dass der Sündenfall von Adam und Eva ein sexuelles Vergehen gewesen sei und dass die Erbsünde alle Nachfahren belaste. Augustinus vertrat die Meinung, dass alle Menschen verderbt und böse seien, vor allem aber das Weib ein minderwertiges Wesen, das von Gott nicht nach seinem Ebenbild geschaffen wurde.

Und Martin Luther fand, dass die Weiber hauptsächlich dazu bestimmt sind, die Geilheit der Männer zu befriedigen. Im besten Fall wurde die Frau darauf reduziert, Auffangbecken für den männlichen Samen zu sein und den Fortbestand der männlichen Linie zu gewährleisten. Alles läuft darauf hinaus, der Frau ihre ursprüngliche Schöpferkraft zu nehmen und sie steril zu machen. Nicht mehr die Frau soll die Gebärende sein, nicht mehr dem weiblichen Leib soll das Leben entspringen. Es ist der Mann, der für die Weitergabe des Lebens zuständig sein soll.

Dieser Gebärneid ist bereits im alten Ägypten angelegt. Pharao Echnaton ließ sich als schwangerer Mann abbilden. Im Griechenland der Antike entspringt die Kriegsgöttin Athene in voller Rüstung dem Kopf des Göttervaters Zeus. Seit Aristoteles wird die schöpferische weibliche Kraft praktisch geleugnet. In der Orestie gebiert nicht die Mutter das Kind. Sie ist nur, so steht es geschrieben, des frisch gesäten Keimes Näherin. Mit der Aberkennung ihrer Schöpferkraft ging der Frau auch die Würde verloren.

Homer fand nichts scheußlicher, nichts unverschämter auf Erden als das Weib, und Diogenes, als er eine Frau an einem Ölbaum hängen sah, rief aus, dass doch alle Bäume solche Früchte tragen mögen. Bei Platon erscheint die Frau als minderwertiges Werk des göttlichen Schöpfungsaktes, und bei Hippokrates bedarf sie eines Zuchtmeisters, denn sie hat von Natur aus das Zügellose an sich. Semonides von Amorgos erschien die Frau hässlich wie die Äffin, schmutzig wie die Sau, Hippias nannte sie ein Mistloch, eine Schamzeigerin und Gliedschüttlerin, und Hesiod befand, dass Aphrodites wichtigste Gaben an die Frau ihr Gequatsche, ihr Grinsen und ihre Tricks seien.

In der antiken Hochkultur wurde angelegt, was das Ziel der posthumanen Epoche ist: der künstlich im Labor hergestellte Mensch ohne Mutter, ohne Leib, ohne Familie, ohne Bindung und Verantwortung. Zentrales Anliegen des Patriarchats ist es, Frauen und Natur voneinander zu trennen. Wie die Hexe, so der als neuzeitlicher Wissenschaftsgründer angesehene englische Philosoph und Staatsmann Francis Bacon, solle man die Natur auf die Folter spannen, um ihr ihre Geheimnisse zu entreißen. So ist das Patriarchat weit mehr als eine veraltete Hausväterordnung oder politische Herrschaftsform, die heute bei vielen als überholt gilt. Politisch auf Dominanz und Aneignung ausgerichtet, beruht es nicht auf Egalität, sondern auf der Macht des Staates, der die Unvernünftigen verfolgt, die sich nicht fügen wollen. Nur diejenigen überleben, die sich der gegebenen Ordnung unterwerfen.

Die strengen Regeln, Gesetze, Sanktionen und Kontrollen verhindern Eigenständigkeit und ein gewaltfreies gemeinschaftliches Austragen von Konflikten. Es geht nicht darum, Frieden zu schließen, sondern den Krieg zu gewinnen. Dialoge und Friedensverhandlungen werden im Keim erstickt, und bei den Veranstaltungen derer, die sich für Frieden und für Verständnis auf beiden Seiten einsetzen, marschiert die Antifa auf oder wird die Keule des Antisemitismus geschwungen. Nichts soll die Menschen wieder zusammenbringen. Das System, das sich hieraus ergibt, ist letztendlich unlebbar, denn es schließt das Leben aus. So sieht die Soziologin und Politologin Claudia von Werlhof im Patriarchat eine utopische Gesellschaftsordnung ohne Wurzeln und ohne Zukunft.

Das Erstaunliche ist, dass diese Dystopie nicht nur von Männern, sondern auch von den meisten Frauen mitgetragen wird. Beherrscht von dem Gedanken, nie wieder zum unterworfenen Geschlecht gehören zu wollen, werden Frauen oft selber zu Tätern, indem sie die transhumanistische Ideologie mit den Männern zusammen vorantreiben. So ist auch die Frauenbewegung heute tief gespalten, zersetzt durch einen agnostischen Genderismus, in dem es nicht um Erkenntnis, sondern um ein Bedienen der bestehenden Ordnung geht. Das Geschlechtliche wird im physischen wie im geistig-seelischen Sinne herausgeschnitten und das Frausein patriarchalisiert. Damit, so Claudia von Werlhof, mündet die Utopie des Patriarchats nicht im Paradies, sondern in der düsteren Perspektive eines „No Future“, in dem von der Erde am Ende nichts mehr übrig bleibt als künstlicher grauer Schleim.


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