Keiner von Annas Zähne ist mehr zu retten. So jung sie ist: Längst bräuchte sie eine Prothese. Die Drogen haben ihre Zähne ruiniert. Anna konsumiert Heroin. Nachdem es das nicht immer gibt, nimmt sie hin und wieder auch Crystal Meth. Solange sie auf Drogen ist, gibt es keine Chance, dass die Kosten für eine Zahnersatzbehandlung übernommen würden. Ganz abgesehen davon, dass jene Zahnärzte, bei denen Anna schon mal vorsichtig angeklopft hatte, dankend ablehnten. Mit Bürgergeldempfängern, bestätigt eine Sozialarbeiterin aus Süddeutschland, haben es Zahnärzte nicht gern zu tun.
So wie Anna geht es vielen. Darauf weisen Sozialarbeiter anlässlich des Tags der Zahngesundheit am 25. September hin. Menschen wie Anna schlagen deshalb in allgemeinen Sozialberatungsdiensten, in Wärmestuben oder Straßenambulanzen auf. An diesen Orten wird sichtbar, ob jemand arm oder reich ist. Und zwar am Gebiss.
Anna hat Glück: Seit einiger Zeit wird sie substituiert. Alles deutet darauf hin, dass es ihr gelingen wird, mithilfe der Drogenersatzstoffe clean zu bleiben. Anna möchte das auch unbedingt. Sie möchte sich nicht länger Heroin spritzen. Überhaupt: Sie möchte nicht weiterhin so leben wie in den vergangenen, schrecklichen Jahren. Sie möchte wieder arbeiten gehen. Ihre Prognose ist so gut, dass die Krankenkasse nun bereit ist, die Kosten für eine einfache Prothese zu übernehmen.
Andere haben dieses Glück nicht. Als Bürgergeldempfänger ist es zwar theoretisch möglich, einen Härtefallantrag an die Kasse zu richten. Doch sollten Beitragsschulden aufgelaufen sein, dann wird der nicht bewilligt. Egal, wie schlimm die Zähne ausschauen. Und egal, wie jung jemand ist. Auch Menschen ohne Versicherungsschutz haben schlechte Karten. Auch ihnen ist es kaum möglich, die Zähne sanieren zu lassen.
Viele sind betroffen. Das Statistische Bundesamt schätzt auf Basis von Mikrozensus-Daten, dass aktuell rund 60.000 Menschen in Deutschland nicht krankenversichert sind. Jürgen Wasem, Inhaber des Lehrstuhls für Medizinmanagement an der Uni Duisburg-Essen, sagte dem Deutschen Ärzteblatt 2022, dass bis zu einer Million Menschen betroffen sein könnten. Unter anderem seien Wohnungslose im Mikrozensus unterrepräsentiert. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe geht davon aus, dass jeder fünfte Obdachlose, der auf der Straße lebt, nicht versichert ist.
Die Kosten für Zahnersatz sind immens. Laut dem Kieler Zahnersatz-Experten Michael Mitterer, der die Plattform kosten-beim-zahnarzt.de betreibt, muss man für eine Vollprothese im Einzelfall bis zu 9.000 Euro berappen. Mit 2.000 Euro ist man locker dabei. Das macht auch Leuten zu schaffen, die nicht so weit unten sind wie Anna. Die kein Bürgergeld beziehen. Die arbeiten gehen. Allerdings nicht viel verdienen. Dennoch lassen sie sich auf die Zahnsanierung ein. Irgendwann kommen sie mit der Ratenzahlung in Verzug. Am Ende landen auch sie bei den Sozialberatungsstellen der Wohlfahrtsverbände. Oder in der Schuldnerberatung.
Immer weniger wird von den Kassen übernommen. Das geht auch aus Zahlen hervor, die das Bundesgesundheitsministerium auf eine Anfrage der Linken-Abgeordneten Sabine Zimmermann mitgeteilt hatte. Demnach zahlten die Bundesbürger 2005 rund 2,62 Milliarden Euro für Material- und Laborkosten zu. 2010 waren es mehr als drei Milliarden. 2014 stiegen die Zusatzkosten auf 3,14 Milliarden.
Laut Michael Mitterer werden inzwischen mehr als fünf Milliarden Euro pro Jahr für Zahnersatz ausgegeben. Angesichts dieser Entwicklung wird klar, warum man Armut und Reichtum immer deutlicher am Zustand der Zähne erkennt.
Je jünger jemand ist, umso schlimmer ist es, schlechte Zähne zu haben. Anna hat sich immer schrecklich für ihr scheußliches Gebiss geschämt. Deshalb wurde sie immer stiller. Viele ältere Arme mit massiven Zahnproblemen fanden sich mit ihrer Situation irgendwann ab. Da ist zum Beispiel Norbert. Auch er heißt in Wirklichkeit anders. Soll aber nicht geoutet werden. Norbert ist um die 50. Er lebt in Süddeutschland in einer Obdachlosenunterkunft. Norbert trinkt. Ziemlich viel. Und seit Langem.
Norbert hat noch vier schlecht erhaltene Zähne im Mund, macht seinen Mund dennoch auf. Er redet gerne mit Leuten. Er lacht gern. Schwierig ist es mit dem Essen. Norbert geht in eine Sozialeinrichtung, wo es jeden Tag eine warme Mahlzeit gibt. Das, was er am liebsten verzehren würde, kann er seit Langem nicht mehr essen. Suppe kann er gut essen. Alles, was weich ist: Kartoffelpüree, Eintopf. Fleisch am Stück geht nicht. Wie soll er das kauen?
Zahnärzte sind regelmäßig mit Patienten konfrontiert, die unbedingt wieder schöne Zähne haben möchten, sich das aber nicht leisten können. Einige von ihnen nimmt es mit, wenn jemand auftaucht, dessen Gebiss dringend saniert werden müsste, doch es stellt sich heraus: Da geht nicht mal mit Härtefallantrag was. Andere argumentieren vorsichtiger. Um die Krankenkassen ist es schließlich nicht gut bestellt. Es kann nicht jeder einfach Zahnersatz bekommen. Das würde die Solidargemeinschaft überfordern.
Laut Bundesgesundheitsministerium erwirtschafteten die 95 gesetzlichen Krankenkassen im ersten Halbjahr 2024 ein Defizit von 2,2 Milliarden Euro. Allein für zahnärztliche Behandlungen ohne Zahnersatz wurden in den ersten sechs Monaten dieses Jahr mehr als sieben Milliarden Euro aufgewendet. Nur für Zahnersatz waren es fast 2,1 Milliarden Euro.
Warum, fragen nicht nur Zahnärzte, soll die Solidargemeinschaft Geld für etwas aufbringen, was letztlich selbst verschuldet wurde? Es muss ja niemand Drogen nehmen. Oder exzessiv Alkohol trinken. Sodass die Zähne dabei kaputt gehen.
Nun ist längst klar, dass einer nur bedingt etwas dazu kann, wenn er sich so verhält. Wenn er fixt. Oder trinkt. Dahinter stecken Lebensgeschichten: sexueller Missbrauch, extreme Formen früher Vernachlässigung, eine lange Kette an Frustrationserlebnissen.
Und mit dem Geld ist das natürlich so eine Sache. Geld ist ja da. Milliardenbeträge können plötzlich da sein, wenn man das politisch will. Für Rüstung. Für Krieg.
Niemand säuft freiwillig exzessiv. Niemand hat ein Leben als Junkie gern. Die Frage stellt sich ohnedies, warum in solchen Fällen nicht früher hingeschaut wurde. Warum da früher niemand war, der unterstützt hätte. Warum schlitterte Anna, warum schlitterte Norbert in eine Suchtkarriere hinein?
Die Gesellschaft muss sich fragen lassen, ob sie will, dass sich am Gebiss ablesen lässt, wie reich oder arm jemand ist. Mit allen sozialen Folgen. Wer möchte jemand mit derart schlechten Zähnen zum Partner haben? Welcher Chef stellt so jemanden ein?
Armut und Reichtum sollten nicht am Gebiss ablesbar sein. Das wäre doch mal ein Appell. Zum alljährlichen Tag der Zahngesundheit.
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