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Das Verschwinden der Kultur

Das Verschwinden der Kultur

Um wieder eine mit Sinn erfüllte Gemeinschaft zu schaffen, müssen wir Kommerz und Infomüll hinter uns lassen und etwas Eigenständiges kreieren.

Seit dem ersten Lockdown und den sich anschließenden Zwangsmaßnahmen diverser Regierungen beklagen nicht nur in Deutschland viele Menschen, die „Kultur“ sei gefährdet. Jene, die auf der Bühne stehen und ihre Kunst anderen darbieten, seien von den Maßnahmen schwer getroffen und in ihrer Existenz gefährdet worden. Die „Kultur“ käme unter die Räder. Die Kultur an sich gelangt jedoch schon seit vielen Jahren unter die Räder einer Massengesellschaft, die ihr Glück im Konsum sucht.

Zur Kultur gehört nämlich nicht allein die dargebotene und ausgestellte Kunst. Sie ist tiefgehender und bezeichnet, je nach Definition, die Daseinsformen menschlicher Gesellschaften, ihre Glaubensvorstellungen, sozialen Normen, Verhaltensweisen und ihr Wissen. Auch die gemeinsame Sprache ist Teil der Kultur. Kultur reflektiert das Tun und Erleben der in ihr verbundenen Menschen, oft auch, aber nicht ausschließlich in religiöser oder ritueller Form. Sie ist damit die Grundlage für das Denken, Sprechen und Handeln des Einzelnen und verleiht ihm Bedeutung. Sie bettet den Menschen in ein sinnstiftendes Miteinander ein und bildet damit die Basis des Zusammenlebens.

Die Kunst, die wir heutzutage oft als „Kultur“ bezeichnen, ist ein schöpferischer Ausdruck dieser Kultur. Diese Kunst bezieht sich dabei oft sehr spezifisch auf die jeweilige Kultur, sodass Menschen aus anderen Kulturen sie zum Teil nicht verstehen.

Kultur entsteht aus dem unmittelbar Erlebten, sie ist eine Antwort auf Ereignisse im Äußeren, auf Lebensbedingungen, aber auch auf innere Prozesse und Glaubensvorstellungen, die wiederum aus den äußeren Umständen hervorgehen.

So unterscheidet sich die Kultur von Menschen, die als Nomaden durch die Wüste ziehen, in fast allen Aspekten von der jener Menschen, die im Polarkreis leben. Zugleich gibt es einen gemeinsamen Kern und Parallelen, beispielsweise in religiösen Schriften. So ist die Geschichte der Sintflut nicht nur eine Episode in der christlichen Religionserzählung, sondern findet ebenso Erwähnung in verschiedenen anderen Religionen und Glaubenslehren.

Massenkultur

Somit wird deutlich, dass Kultur eine lokale Angelegenheit ist, was nicht ausschließt, dass unterschiedliche Kulturen sich schon immer durch Handel und Austausch gegenseitig beeinflusst haben. Das reicht von der Übernahme von Kulturtechniken bis hin zur gewaltsamen Eroberung oder Missionierung. So wurde beispielweise der Glauben antiker Kulturen an lokale Gottheiten und Geister weitgehend verdrängt durch die Massenkultur der christlichen Religion. Diese verbreitete sich durch Missionare, Eroberungen und Migrationsbewegungen über ganze Kontinente hinweg und okkupierte die „heidnisch“ genannten Kulturen, überführte ihre Gebräuche und Feiertage in ein einheitliches Glaubenssystem, das zugleich mit hierarchischer Machtakkumulation einherging.

Statt den Menschen vor Ort die Organisation ihrer Sitten und Gebräuche zu überlassen, wurden diese zentral aus dem Vatikan diktiert. Auch die normalen Lebensbedingungen wurden dabei oftmals vollkommen umgekrempelt. So war beispielsweise die Vielehe oder Ehe auf Zeit in früheren europäischen Kulturen gang und gäbe, wurde aber durch die Dogmen christlicher Lehren ersetzt, die nur noch die Ehe mit einem einzigen Partner auf Lebenszeit zuließen.

Lokale Gottheiten wurden entweder verboten oder zu sogenannten Heiligen erklärt – und damit der christlichen Lehre untergeordnet. Althergebrachtes Wissen um Kräuter- und Heilkunde oder spirituelle Fähigkeiten wurden verboten und ihre Ausübung mit Strafen versehen. Dies kulminierte in den Hexenverbrennungen, der einige Jahrhunderte lang vor allem, aber nicht ausschließlich, Frauen zum Opfer fielen. Aus unzähligen lokalen Kulturen wurde so mittels Zwang und Indoktrination eine recht einheitliche Massenkultur.

Konsumkultur

Dem folgte bald die kapitalistische Massenkultur. Durch Landflucht aus einer angestammten, lokalen Gemeinschaft vertrieben und entfremdet, in den Städten zur reinen Arbeitsmasse degradiert, verloren die Menschen den Bezug zu ihrer Kultur. Sie waren einem strikten Anpassungsdruck unterworfen, der keinen Raum für kulturelle Aspekte ließ, außer jenen wenigen, welche die etablierte, christliche Massenkultur übriggelassen hatte.

Doch erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eroberte der Massenkonsum Schritt für Schritt beinahe die ganze Welt und überschwemmte jede Gesellschaft mit seinen billig produzierten Gütern. Gleichzeitig verstärkte der globale Wettbewerb die Abhängigkeit von Geld immer mehr. Land wurde privatisiert, die Menschen von einer eigenständigen Versorgung ausgeschlossen und in die Abhängigkeit von Konzernen und Kapital getrieben. Der Konsummarkt bestimmte das Leben nun voll und ganz. Alles und jeder wurde zum „Markt“.

Statt in einer Gemeinschaft zu leben, wohnten immer mehr Menschen in den Großstädten als „Singles“. Jeder sorgte für sich selbst. Glaubensbekundungen wurden durch den Kniefall vor dem Geld und der Dankbarkeit für den Konsum ersetzt.

Die konsumistische Massengesellschaft zerstörte in wenigen Jahrzehnten die Fähigkeiten der Menschen, außerhalb von ihr zu überleben, machte althergebrachtes Wissen vergessen und ersetzte weithin tiefere Verbindungen zum Leben und der Erde durch ein oberflächliches Zugehörigkeitsgefühl zu einer materiell gesättigten Arbeits- und Konsumgesellschaft, die zum einzigen Bezugspunkt kulturellen Schaffens wurde.

Daher bezog sich die Kunst zu einem großen Teil auf sie, wurde ebenfalls zum reinen Konsumobjekt, die Architektur in den Städten wurde zunehmend gleichförmiger, monotoner und die Stadtzentren von den immer gleichen Ladenketten, ihren Zeichen und Symbolen beherrscht. Dadurch ging die Einzigartigkeit vieler Innenstädte verloren. Die Sorge um das ökonomische Wachstum ist nun beherrschender Antrieb nahezu jeder menschlichen Gesellschaft und klammert andere Bedürfnisse des Menschen weitgehend aus.

Die Sinnfrage

Menschen, die in einer solchen Gesellschaft leben, fehlt jede tiefere Verbindung zu einer gemeinsamen Grundlage. Denn Wertvorstellungen sind vollkommen austauschbar geworden, beziehen sich meist auf den schlichten Konsum. So bilden sich Subkulturen, die ihre Identität beispielsweise aus dem gemeinsamen Faible für bestimmte Musikrichtungen beziehen. Darüber hinaus verbindet diese „Fans“ aber wenig. Die kulturelle Entwurzelung hat eine sinnentleerte Gesellschaft hinterlassen, in welche die Menschen ihre innere Leere durch Bequemlichkeit, Konsum und Arbeitswahn zu füllen versuchen.

So leben und arbeiten wir vor uns hin, ohne ein tiefergehendes Gefühl von Sinn und Zugehörigkeit. Im Gegenteil, der Wettbewerbsgedanke hat jede Zugehörigkeit vollkommen unmöglich gemacht. Bestimmt die Konkurrenz mit anderen in derselben Branche das Berufsleben, so setzt sich diese Konkurrenz im Privaten fort. Hier vergleicht man beständig seinen eigenen Konsum mit dem anderer. Wer hat das größere Auto? Das neuere Handy? Und so weiter. Zudem ist das berufliche Leben meist vollkommen getrennt vom Privaten, und das eine hat mit dem anderen oft wenig zu tun. Die Menschen erleben beide Bereiche als unverbundenes Nebeneinander und damit ihr Leben als geteilt. Die meisten Menschen arbeiten hauptsächlich, um das zum Leben notwendige Geld zu verdienen. Fast niemand sieht seinen Beruf als Berufung an und in seiner Tätigkeit oftmals wenig tieferen Sinn.

Das führt dazu, dass ein Großteil der verrichteten Arbeit überflüssig ist mit dem einzigen Sinn, Menschen zu „beschäftigen“. David Graeber bezeichnete diese Arbeit in seinem 2018 erschienenen Buch „Bullshit Jobs“ als „Fake Work“. Er bezieht sich damit unter anderem auf Arbeiten im mittleren Management oder überbürokratisierten Behörden und auf andere Tätigkeiten, die keinen gesellschaftlichen Nutzen haben, sondern nur Verwaltungsapparate aufblähen. Es werden immer neue Apparate, Institutionen und Produkte erschaffen, nicht, weil diese der Gesellschaft einen Nutzen bringen, sondern weil das Erfordernis, jeden Menschen mit einem „Job“ auszustatten, die Erfindung oftmals überflüssiger Arbeit notwendig macht.

Dies führt zu psychischen Problemen bei denjenigen, die solche Fake Work verrichten, und gesellschaftliches Potenzial wird vollkommen vergeudet. Mit anderen Worten:

Ein großer Teil der verrichteten Arbeit findet seine Rechtfertigung nicht in den tatsächlichen Bedürfnissen von Gesellschaften und somit nicht in einer übergreifenden Kultur, die diese Bedürfnisse erzeugt, sondern in einer kulturlosen Gesellschaft, die einzig auf Produktion und Konsum ausgelegt ist, damit ihre zahlreichen Rädchen weiter laufen können.

Auch die letzten Reste von Kultur wurden in den kapitalistischen Konsumwahn integriert. Beispiele dafür finden sich zuhauf: Karneval und Oktoberfest, die längst ihres ursprünglichen Zweckes beraubt und für viele zu reinen Sauforgien verkommen sind; Halloween, das irische Siedler als eine Art Erntedankfest nach Amerika brachten, ist dort zu einem reinen Konsumfest degradiert und als solches dann nach Europa reimportiert worden.

Auch die religiösen Feste sind kaum noch mehr als leere Zeremoniehüllen, angereichert mit überbordendem Konsum — so freuen sich beispielspeise die Kinder bei ihrer Erstkommunion doch vor allem über die vielen Geschenke. Weihnachten, das Fest der Liebe und der Besinnung, ist zu einem Fest des besinnungslosen Konsums geworden. Wie schon das Christentum seinerzeit, hat die kapitalistische Konsumkultur lokale Brauchtümer und Gepflogenheiten entweder vollkommen verdrängt oder in seine Verwertungslogik integriert.

Da es also an einer echten Kultur fehlt und die Menschen orientierungslos und sinnbefreit vor sich hinleben, sind sie empfänglich für Ideologien. Diese bieten eine übergeordnete Erzählung, die ganze Gesellschaften organisieren sollen, und liefern die Rechtfertigung selbst für die grauenhaftesten Verbrechen. Sie bieten Orientierung in einer als orientierungslos erlebten Welt, ein festes Muster der Welterklärung und Logik, ja, sie formen gar eine eigene Sprache, indem sie bestimmte Begriffe besetzen und umdefinieren. Beispiele dafür finden wir nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch ganz aktuell, in Zeiten von Corona.

Diese Ideologien werden als Rechtfertigung für das Handeln Herrschender herangezogen und sie „organisieren“ die Unterstützung der breiten Bevölkerungsmasse. Kennzeichnend für eine Ideologie ist, dass sie sich stets als wissenschaftliche Erklärung der Welt ausgibt.

Die Rassenlehre des sogenannten Dritten Reiches war dabei ebenso „Wissenschaft“ wie die derzeit herrschende Corona-Erzählung mit all ihren Auswüchsen. Ideologien bieten aber keine echte Kultur, kein tiefgreifendes, die Menschen vollkommen durchdringendes Gefühl der Zugehörigkeit, da sie nicht auf dem konkreten Erleben der Menschen aufbauen und darüber hinaus den Menschen oftmals mit übertriebener Vehemenz übergestülpt werden, in der Regel auch mit Zwang und Gewalt.

Sie werden von oben verordnet, nicht von unten erlebt. Sie bleiben damit leere Hüllen einer Pseudokultur. Zudem bauen sie auf die Angst der ihnen Unterworfenen, die letztlich ihre einzige Legitimationsgrundlage bleibt. Denn aus Angst vor den Juden und Kommunisten vertrauten viele auf den „Führer“, der diese scheinbare Gefahr abzuwenden versprach. Aus Angst vor einem Coronavirus (er-)trägt auch derzeit die Mehrheit jede Maßnahme der Regierung, der man sich in diesem „Kampf“ unterordnen muss. Angst ersetzt dabei jedes Denken, jede Vernunft und jeden Bezug zum eigenen Erleben.

Kultur schaffen

Wenn wir in Zukunft Ideologien verhindern und unser Leben zugleich mit Sinn füllen wollen, dann führt dieser Weg über die Kultur. Dabei ist es kaum möglich, an Kulturen der Vergangenheit anzuknüpfen. Diese sind unweigerlich verloren und untergegangen. Nichtsdestotrotz kann man sich altes Wissen dieser Kulturen aneignen, zunutze machen und in eine neue Kultur integrieren. Diese Kultur kann jedoch keine übergeordnete Massenkultur sein, sondern nur auf lokaler Ebene entstehen, eben dort, wo sie dem eigenen Erleben zugänglich ist. Sie geht hervor aus einem gemeinsamen Anliegen einer lokalen Gesellschaft, gemeinsamem Tätigwerden vor Ort und den unmittelbaren Gegebenheiten. So kann sich die Kultur schon innerhalb weniger Kilometer signifikant unterscheiden, wirklich sichtbar werden diese Unterschiede aber wohl erst über größere Distanzen.

Wir können eine gemeinsame Einbettung in ein sinnstiftendes Zusammengehörigkeitsgefühl nicht mit der Brechstange herbeiführen, sondern eine solche wächst mit der Zeit, wenn wir vor Ort, mit unseren Mitmenschen, aktiv werden, unser Leben gemeinschaftlich bewältigen und uns an den Notwendigkeiten des täglichen Lebens orientieren. Daraus ergeben sich von ganz alleine Bedürfnisse, Möglichkeiten sie zu erfüllen, aber auch Feste und Feiern, Erzählungen, vielleicht auch eigene Sprachen. Auf diese Weise verschwinden auch all die „Bullshit Jobs“, die ohnehin nie einen gesellschaftlichen Nutzen hatten. Der Konsumzwang kann damit ebenso überwunden werden wie der Produktionsirrsinn und die Fixierung auf rein materielle Werte. Echte Gemeinschaft bringt unweigerlich eine Kultur hervor, welche die Bedürfnisse dieser Gemeinschaft organisiert und dem Einzelnen damit eine sinnerfüllende Verwurzelung ermöglicht.

Jedoch darf sie niemanden zwingen, entgegen seiner Fähigkeiten und Interessen bestimmte Dinge zu tun oder zu denken, sondern soll die Selbstentfaltung des Einzelnen lediglich ermöglichen und fördern.

Auch ist es selbstverständlich von Vorteil, wenn unterschiedliche Kulturen im Austausch miteinander stehen und sich gegenseitig bereichern, ohne jedoch zur ununterscheidbaren Massenkultur zu werden. Denn manche Dinge, Handlungsweisen, Arbeiten oder Gedanken ergeben in der einen Gesellschaft Sinn, in einer anderen hingegen nicht. Auch sollte es nicht dazu kommen, dass sich eine Kultur über andere erhebt, sich ihnen aufzwingt oder sie unterdrückt. Das zu gewährleisten ist jedoch nicht unmöglich, leben die unterschiedlichen Kulturen doch nie einfach nur parallel nebeneinander. Durch Vernetzung und moderne Verkehrs- und Kommunikationsmittel gibt es die Möglichkeit des Austausches und der Verständigung.

Der Verlust der Kultur mag nicht der einzige, aber doch ein Faktor dafür sein, dass wir in diesen Wahnsinn geraten sind, in dem wir heute stecken. Die Schaffung einer Kultur, unabhängig von einem System der Massenproduktion und -verwertung, kann eine Antwort auf die Probleme sein, denen wir uns heute stellen müssen. Beginnen wir also, vor Ort eine solche Kultur zu schaffen.


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