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Das weibliche Prinzip

Das weibliche Prinzip

Feminismus sollte mehr sein als der Versuch, beide Geschlechter den gleichen Ausbeutungsmethoden zu unterwerfen.

Der Kapitalismus als Konterrevolution

Fast immer in der europäischen Geschichte war die gesellschaftliche Stellung der Frau niedriger als die des Mannes. Doch es gibt Unterschiede in Art, Intention und Qualität dieser Abwertung gegenüber dem Mann, die historisch wandelbar sind. Der Kapitalismus entwickelte sich nicht natürlich aus dem Feudalismus. Das wäre eine viel zu bequeme Analyse. Er war vielmehr eine Reaktion der Feudalherren, die die antifeudalen Kämpfe zu unterdrücken suchten. Die Identität und Tätigkeit der Frau spielte dabei eine entscheidende Rolle (1).

Das wesentliche Element des Feudalismus war die Leibeigenschaft, die sich nach dem Zusammenbruch des römischen Reiches und dem damit verbundenen Ende der europäischen Sklaverei durchgesetzt hatte. Und zweifelsfrei war sie ein Instrument der Unterdrückung, denn diese Art der Ausbeutung beruhte auf unmittelbarem Zwang: Leibeigene waren verpflichtet, ihren Grundherren Frondienste zu leisten und standen körperlich voll in deren Gewalt. Man muss allerdings zur Kenntnis nehmen, dass es sich bei den Leibeigenen meist um selbstversorgende Bauern handelte, die ein eigenes beziehungsweise vom Lehnsherrn bereitgestelltes Flurstück besaßen. Sie hatten also Zugang zu ihren eigenen Reproduktionsmitteln.

Die Produktion von Gütern — also diejenigen Arbeiten, welche die Bauern für ihre Herren und sich selbst verrichteten — und die sogenannte Reproduktion der Arbeitskraft — sprich Regeneration durch beispielsweise essen oder schlafen — waren nicht voneinander getrennt. Sie bildeten viel mehr eine symbiotische Einheit, denn die Bauern nutzten ihre Arbeitskraft beispielsweise zum Anbau von Gemüse, das sie später gebrauchten, um ihre Arbeitskraft wieder zu reproduzieren — und natürlich, um Abgaben leisten zu können. Die Arbeit zur Reproduktion der Arbeitskraft, meist häusliche Arbeit, die oft von Frauen verrichtet wurde, besaß damit theoretisch keinen geringeren Wert als die der Männer. Ein Zustand, der sich im Kapitalismus drastisch ändern sollte (1, 2, 3).

Gemeinsam unterdrückt

Die Frauen waren ihrem Mann schon damals untergeordnet. Allerdings stand die Autorität des Grundherren über der Autorität des Ehemannes. Man hatte sozusagen einen gemeinsamen „Feind“, wodurch die Spaltung von Mann und Frau gemildert wurde. Zudem soll es das sogenannte „Ius primae noctis“ gegeben haben, das Recht des Lehnsherrn, die Hochzeitsnacht mit der Braut des Leibeigenen zu verbringen. Die tatsächliche Existenz dieses Rechts wird heutzutage kontrovers diskutiert und teilweise als „Propagandalüge der Aufklärer“ bezeichnet. Doch selbst, wenn dieses Recht schon damals nur als Gerücht umging: Man kann sich vorstellen, welch außerordentliche Wut und auch Bindung dies beim Leibeigenen-Paar geschaffen haben muss.

Die Ländereien gehörten trotz der nicht egalitären Beziehungen der Geschlechter meist der gesamten Familie. In England herrschte sogar zeitweilig die Praxis, dass der Leibeigene im Fall einer Heirat das Land seinem Herrn zurückgab, damit dieser es ihm und seiner Frau gemeinsam wieder übertragen konnte. Im Alltag nützte dies den Frauen selbstverständlich relativ wenig (1, 4).

Ein besonderer Dorn im Auge der Feudalherren und des Adels war die Allmende-Ökonomie. Die Allmende war das Gemeindeland der Bauern — Wald, Wasser und Weide. Sie wurde nicht nur gemeinsam bewirtschaftet; dort fanden auch frühe Versammlungen und lokale Meinungsbildungsprozesse statt. Auch hier waren Frauen stark beteiligt (5).

Die Vorboten des Aufstands

Das gesellschaftliche Klima zwischen Bauern und ihren Herrn war keineswegs ein friedliches. Seit dem 14. Jahrhundert war es geprägt von immer wieder aufkeimendem Widerstand, der sich zwar meist in ewigen Rechtsstreitigkeiten erging, aber mit der Zeit immer öfter auch gewalttätige Ausmaße annahm und schließlich in den Bauernkriegen gipfelte. Die Unterdrückung durch die Lehnsherren war so offensichtlich und in jeder Lebenslage unmittelbar zu spüren, dass Verdrängung schlicht keine Option mehr war. Eine Situation, die selbstverständlich ein großes revolutionäres Potential in sich trug — ein Potential, das in den kommenden drei Jahrhunderten verwirklicht wurde (6).

Schon die Bauernrevolten des 14. Jahrhunderts waren ein eindeutiges Zeichen in Richtung der damaligen Eliten. Das populärste Mittel des Wiederstandes war die Verweigerung von Arbeit. Doch die ökonomischen Druckmittel erwiesen sich als nicht erfolgreich genug und so wandte sich Mitte des 14. Jahrhunderts beispielsweise erstmals die bäuerliche Bevölkerung gegen den Abt des Benediktinerklosters St. Gallen, der seine Rechte ausbauen wollte. Im Anschluss kam es fortlaufend zu gewalttätigen Ausschreitungen. Der Widerstand der Bauern blieb nicht folgenlos (7).

Spaltung durch Fortschritt?

Die ersten Ergebnisse der Aufstände waren Rechte und Privilegien, die norditalienischen Bauern Ende des 14. Jahrhunderts zugestanden wurden und die sich bis zur industriellen Revolution immer weiter ausweiteten.

Zuerst scheinen die Satzungen für die Bauern ein Erfolg zu sein, doch historisch gesehen waren sie genau das, was dem Kapitalismus auf europäischem Boden Tür und Tor öffnete: Die Frondienste wurden in Geldleistungen umgewandelt (1).

Dies war der Anfang vom Ende der Leibeigenschaft. Grundsätzlich erfreulich — doch nun gab es keine Notwendigkeit mehr für das feudale Dorf, zusammenzuhalten und gemeinsam das Land zu bewirtschaften, um Naturalien abgeben zu können und gemeinsame Verantwortung für die Allmende zu übernehmen. Im Klartext:

Das feudale Dorf zerfällt und Spaltung macht sich in der Bevölkerung breit. Jeder ist selbst dafür verantwortlich, die geforderten Geldleistungen aufzubringen. Arme Bauern müssen zukünftige Ernten beleihen.

Doch diese bleiben oft aus und so setzt ein tiefgreifender Proletarisierungsprozess ein. Die Bauern konnten nun nicht mehr zwischen der Arbeit für sich selbst und derjenigen für den Lehnsherren unterscheiden, so sabotierte man gezielt die Kultur der Selbstversorgung. Die Bauern verarmten und schließlich war das Flurstück für viele nicht mehr tragbar. Es brachte kein Geld und viele Bauern hatten hohe Schulden. Also verließen sie das Land und damit ihre genuine Selbstversorgung und gingen dazu über, ihre Arbeitskraft anzubieten. Die Lehnsherren konnten erstmals andere Arbeiter einstellen, die effektivere Arbeit leisten. Es gab zum ersten Mal so etwas wie massenhafte Konkurrenz um Arbeitsplätze; der Lehnsherr entwickelte sich nach und nach zum kapitalistischen Pächter.

Und was hatte das mit Frauen zu tun?

Dadurch, dass die Bauern sich nicht mehr selbst versorgten, sondern ihre Arbeitskraft anbieten mussten, wurde die im Feudalismus vorherrschende Symbiose von Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft gebrochen. Das, was die Bauern produzierten, gehörte nicht ihnen und sie mussten sich Güter, die sie zum Überleben benötigten, von ihrem — sehr geringen — Lohn kaufen, was zu einer grundlegenden Abwertung der häuslichen Arbeit führte. Plötzlich war nur noch die Arbeit des Mannes wertvoll und auch die einzige, die vergütet wurde.

Dass auch die häusliche „Frauenarbeit“, die für den Mann die Möglichkeit der Regeneration schuf, ebenfalls essenziell für die Fabrikbesitzer war, wurde gekonnt und — ich wage zu behaupten, mit Vorsatz — ignoriert, weshalb es auch heute als absolut normal erscheint, dass Hausarbeit und Kinderbetreuung, egal von welchem Geschlecht sie verrichtet wird, nicht bezahlt zu werden braucht (8).

Also waren viele Frauen gezwungen, ebenfalls in die Produktion von Gütern zu gehen. Ein Kapitalist würde sagen: ,,richtige Arbeit zu verrichten“, was für sie aber keineswegs leicht war. Frauen waren rechtlich als Arbeitskräfte unterlegen und erlitten damit noch exzessivere Nachteile. In italienischen Handelsstätten verloren Frauen das Recht, ein Drittel des Vermögens ihres Mannes zu erben.

Auf dem Land wurde es für sie immer schwerer zu überleben. Also gingen viele Frauen gezielt in die Städte. Dort waren sie zwar arm, aber bekamen Zugang zu Berufen, die später typisch männlich dominiert wurden. Doch das Bild der Frau, ihre Rolle und die Bedeutung von Sexualität änderten sich allmählich. Zunächst nicht unter der normalen Bevölkerung und schon gar nicht bei den Machthabern der Kirche, aber in Organisationen, die die nachfolgende Zeit entscheidend prägten: den häretischen Sekten (1).

Sex bei den Ketzern

Als die Aufstände der Bauern nach der Einführung von Geldleistungen weitgehend abgeschwächt wurde und da durch die Konkurrenz am Arbeitsmarkt die Verweigerung von Arbeit zunehmend wirkungslos geworden war, mussten sich neue Widerstandsmöglichkeiten und -gruppen bilden. Hierbei handelte es sich um die sogenannten häretischen Sekten, gebrandmarkt als Ketzer. Deren politisches Hauptmerkmal war zwar die Rebellion gegen die kirchliche Doktrin, doch ihr Programm war gesamtgesellschaftlich. Kein Wunder also, dass diese Bewegung seit der Proletarisierung der Bauern stark an Macht gewann und für die Kirche und den Adel immer gefährlicher wurde. Die Anhänger der verschiedenen Sekten, zum Beispiel die Katharer, Waldenser, die Armen von Lyon, die Spiritualen oder die Apostoliker, wurden zu Tausenden auf dem Scheiterhaufen verbrannt (9).

Das Programm der Katharer klingt für heutige Ohren fast humanistisch. Deren „Befreiungstheologie“ basierte nicht nur auf Toleranz. Die Katharer wendeten sich auch gegen Krieg und Todesstrafe und waren strikte Vegetarier. Diese Punkte stellten allein schon genug Gefahr für die Mächtigen ihrer Zeit dar, doch der größte und drastischste Widerspruch zur Kirche und zur Machtsicherung des Adels war die Wertung von Sexualität. In ihrem Weltbild enthielten sich zwar die „Vollkommenen“ des Geschlechtsverkehrs, doch für alle übrigen Mitglieder der Sekte galt dies nicht.

Die Katharer predigten, Unschuld sei eher über sexuelle Praxis als über Enthaltsamkeit zu erreichen. Zum einen stärkte das sexuelle Verlangen der Männer die Macht der Frauen, insbesondere da Frauen im Weltbild der Sekten oft nicht unter einer abschätzigen Sicht zu leiden hatten. Zum anderen war dieser Gemeinschaftsentwurf natürlich ein kompletter Schock für die rigiden Sexualvorstellungen der katholischen Kirche. Über Jahrhunderte maßten sich Priester an, über die Vorgänge in mittelalterlichen Schlafzimmern zu bestimmen. Es gab explizite Anweisungen und erlaubte Tage, Personen und Stellungen — im Wesentlichen natürlich nur eine Stellung (10, 11).

Das demografische Dilemma

Der Machtverlust der Kirche wurde für sie zum Problem, nicht nur, weil ihre Ideologie in Frage gestellt wurde. Sie hatte bisher mit ihrer Sexualpolitik auch die Interessen des Adels und der Feudalherren gesichert. Durch die strikten Regelungen und die absolute Verteufelung von Verhütung trug die Kirche zu ausreichender Reproduktion der Bevölkerung bei. Es wurden ausreichend Kinder geboren, die zu Arbeitern heranwuchsen. Je mehr Arbeiter es gab, desto mehr Auswahl hatten die Arbeitgeber und umso weniger mussten sie auf Lohnforderungen eingehen, revolutionärer Druck blieb aus. Die Rolle der Frau als Gebärmaschine war also elementar (1, 12, 13).

In ihrer Propagandaschlacht gegen die Häretiker, die bereits frühe Formen der Geburtenkontrolle praktizierten, erklärte die Kirche die Ehe zum Sakrament und stellte sich gegen die bei den Häretikern oft vertretene Ablehnung des Ehebündnisses. Doch den Rückgang der Bevölkerung konnte sie nicht verhindern, denn dieser wurde nicht von den Ketzern, sondern vom schwarzen Tod, der Pest, in Europa herbeigeführt. Im 14. Jahrhundert fielen ihr innerhalb von 6 Jahren 30 bis 40 Prozent der europäischen Bevölkerung zum Opfer.

Diese Katastrophe brachte eine extreme Arbeitskräfteknappheit mit sich und stürzte die Eliten in eine schwere Krise. Denn die übrig gebliebenen Arbeiter hatten mit einem Mal eine riesige Macht. Sie konnten Forderungen stellen, die die Unternehmer und Feudalherren plötzlich erfüllen mussten. Das 15. Jahrhundert wurde zum goldenen Zeitalter des Proletariats. Zu Lohnerhöhungen von bis zu 300 Prozent kam ein Lebensstandard, der erst durch die Funktionsweise des Kapitalismus wieder zerstört wurde.

Die bösen Hexen

Die erste Reaktion der Autoritäten war der Kampf gegen die aufständischen Gruppen. Die kirchliche Inquisition wurde fest installiert und der Scheiterhaufen entwickelte sich zum europäischen Gerichtssaal. Ketzerei und „Hexerei“ wurden dämonisiert. Vor diesen Hintergründen werden auch die Ursachen des Feindbildes der Hexen deutlich. Hexen waren Frauen, die sich mit Kräutern auskannten und diese einzusetzen gewohnt waren — unter anderem zum Zweck der Verhütung, die in Zeiten des Arbeitskräftemangels nach der Pest eine absolute Todsünde war.

Hexen waren meist auch Frauen, die sich weigerten, sich ihrem Mann unterzuordnen und für ihn all die häusliche Arbeit zu verrichten. Doch diese war, wie schon gesagt, sehr wichtig, denn nur so konnte der Mann 12 oder mehr Stunden am Tag arbeiten, um „optimal“ ausgebeutet zu werden.

Und nur so stand ein warmes, wenn auch dürftiges, Essen auf dem Tisch und seine Arbeitskraft konnte sich dank gemachter Betten über Nacht wieder regenerieren (1).

Die Sabotage des weiblichen Prinzips

Am Ende des 14. Jahrhunderts kam es zu den ersten Hexenprozessen und die Inquisition protokollierte die Existenz einer rein weiblichen Häresie, wodurch ein umfassendes Klima der Frauenfeindlichkeit gesellschaftlich etabliert wurde. Ziel war zum einen, das revolutionäre Potential der Frauen zu zerschlagen.

Denn das weibliche Prinzip, das auf Fürsorge und die Versorgung der Nachkommen ausgerichtet ist, barg für die mittelalterlichen Autoritäten ein gefährliches Potential: Eine Frau tut viel, ehe sie ihr Kind verhungern lässt oder es anderweitig in Todesgefahr bringt.

Im Fall einer plötzlich auftretenden Gefahr würde sich wohl fast jede Mutter sofort schützend über ihr Kind werfen und damit notfalls das eigene Leben riskieren. Allein dass die Mutter das Kind in sich trägt, ihren eigenen Körper mit ihm teilt, es stillt und damit eine tiefgreifende körperliche Bindung zu ihm aufbaut, widerspricht der kapitalistischen Logik der reinen „Produktion“ von Nachkommen (14).

Um die weitere kapitalistische Entwicklung voranzutreiben, musste dieses in der Natur der Mutter liegende Prinzip gebrochen werden. Bei Geburten waren verstärkt Männer in Gestalt von Ärzten anwesend. Ihre medizinische Entscheidung stand im Verlauf des Entbindungsprozesses über der der Hebamme, die mehr als alle anderen Frauen Gefahr lief, der Hexerei bezichtigt zu werden. Das Leben des Kindes stand seit dem 15. Jahrhundert über dem der Mutter. Nicht etwa aus menschlicher Empathie für das kleine Wesen, sondern schlicht weil es, wenn es erst einmal herangewachsen war, den effektiveren Arbeiter abgab, während die Mutter aufgrund ihres höheren Alters voraussichtlich weniger Jahre Arbeitskraft in den Erhalt des Systems stecken konnte.

Paradox daran ist, dass diese Entscheidung, das Leben des Kindes über das der Mutter zu stellen, im Grunde ohnehin vorhanden war. Doch durch den Zwang von außen und die Verwendung des Kindes wird zusätzlich die Mutter-Kind-Bindung geschwächt. Kinder waren kein Herzenswunsch — sie waren notwendig, um den ohnehin geringen Lebensstandard zu sichern. Und genau durch diese vielen Kinder wurde eine vom kapitalistischen System herbeigeführte Senkung des Lebensstandards möglich. Ein perfides Paradoxon, das bis zum Beginn des Neoliberalismus existierte.

Nebenbei führte das Eingreifen des Staates zum Zweck der Geburtenkontrolle auch zu einer Abwertung und einem sehr feindlichen Klima gegen Homosexuelle, denn diese galten als Gefahr für ausreichende Reproduktion.

Re-Inszenierung und Spirale gesellschaftlicher Aggression

Eine entscheidende Konsequenz des durch die Hexenverfolgungen und die ökonomische Abwertung der Frauen entstandenen frauenfeindlichen Klimas war die Spaltung von Mann und Frau. Der Kapitalismus erlaubte es dem Mann, sich durch seine Arbeit überlegen zu fühlen. Eine psychologisch absolut plausible Reaktion. Der Mann wird seinen gesamten Arbeitstag über unterdrückt und mit Gewalt bestraft, wenn er es wagt, sich der Autorität des Unternehmers zu widersetzen.

Ein gesunder Mensch kann diese Demütigung nicht über längere Zeit ertragen. Also verdrängt er sie, identifiziert sich mit dem Aggressor, erkennt die Unterdrückung als richtig und notwendig an und sucht sich eine gesellschaftliche Nische, in der er selbst zur Autorität werden kann. Diese Nische ist in den meisten Fällen die Familie. Das erklärt auch, warum Männer, die täglich von teilweise grausamen Autoritäten unterdrückt werden, sich gegenüber ihrer Frau und ihren Kindern plötzlich genauso autoritär verhalten. Genau diesen Reflex macht sich jedes System zunutze, das auf die Unterordnung der Bevölkerung baut. Im für eine Familie schlimmsten Fall wiederholt sich dasselbe Spiel aus Verdrängung und Projektion bei der vom Mann unterdrückten Frau gegenüber den Kindern, die damit ideal für die spätere Arbeitswelt konditioniert werden.

Eindrücklich verdeutlicht wird dieses System im Film „Das weiße Band“ von Michael Haneke, in dem mehrere Kinder am Anfang des 20. Jahrhunderts in einem protestantischen Dorf von ihren Eltern massiv misshandelt, gequält und sexuell missbraucht werden, insbesondere in religiösen Familien. Die Kinder akzeptieren die Autorität und Grausamkeit ihrer Eltern und hinterfragen diese nicht einmal, werden im Laufe des Films selbst gewalttätig und beginnen etwa, kleinere und schwächere Kinder, zum Beispiel einen behinderten Jungen, auszupeitschen und zu foltern — ohne ersichtliche Gründe. Gewalt führt zu Gewalt. Bezeichnenderweise bricht während der Filmgeschichte der erste Weltkrieg aus und verdeutlicht so, dass diese Mechanismen, die oft individualpsychologisch beleuchtet wurden, auch auf der weltpolitischen Bühne greifen, und das bis heute (15).

Eine einsame Revolution

Diese Spaltung von Mann und Frau war aus Sicht der damaligen — und auch der heutigen — Eliten ein genialer Schachzug, denn sie verschaffte ihnen einen ebenso simplen wie ausschlaggebenden Vorteil: Die revolutionäre Masse verringert sich um 50 Prozent. Durch die Entfremdung der Frauen von ihrer eigenen Mütterlichkeit und durch die patriarchale Machtstellung des Mannes wurde die Widerstandsfähigkeit der Frauen extrem geschwächt. Im Falle eines Aufstandes rein weiblichen Klientels, etwa zum Schutz der Nachkommen, wäre dieser nicht nur höchstwahrscheinlich von elitärer Seite gewaltsam niedergeschlagen worden, den Frauen wäre wohl auch keine Unterstützung der Männer zu Hilfe gekommen, die den Widerstand der Frauen als gegen sich selbst gerichtet wahrgenommen hätten — unterstützt von der mittelalterlichen Vorstellung, Frauen seien triebhaft und müssten gezähmt werden.

Im Fall von männlich dominierten Revolutionsversuchen, die in der Geschichte weit häufiger vorkamen, verhält es sich ähnlich. Die Frauen, desillusioniert durch die häusliche Herrschaft ihres Mannes, wissen genau, dass ihnen auch ein politisches System mit Männern wie den ihren keine bessere Perspektive verschaffen würde. Dazu kommt die Angst um den Nachwuchs, der in unruhigen Zeiten stärker gefährdet wäre.

Die Spaltung entlang der Grenzen der Geschlechter ist also ein effektives und wirkungsvolles, weil lähmendes Paradebeispiele für das oft zitierte „Divide et impera“ — wirkungsvoller noch als andere Methoden der Spaltung. Beispielsweise ist eine Spaltung entlang lokaler Grenzen für die Eliten ineffizienter, da „die Ausländer“ zwar an allem schuld sein können, aber meist nicht ausreichend anwesend sind, um private Konflikte zu provozieren. Frauen und Männer hingegen sind immer da und das meist zu gleichen Teilen. Man spaltet die Bevölkerung also fast haargenau in der Mitte. Sabotiert wird, was Karl Marx Klassensolidarität genannt hätte.

Würden beide Geschlechter ihre eigene historische Konditionierung verstehen und überwinden, sich in ihrer Unterschiedlichkeit akzeptieren und zu Kenntnis nehmen, wer ihre Zwietracht sät und wessen Interessen sie mit ihr unfreiwillig schützen, hätte die Bevölkerung von heute auf morgen eine ungeheure Macht.

Der ursprüngliche Feminismus

Der Kapitalismus ist vor allem eines: anpassungsfähig. Genau das ist vermutlich seine wichtigste Eigenschaft, die ihm seit seiner Entstehung ungeheuren Erfolg und weitreichende Ausdehnung ermöglichte. Auch für die ursprüngliche erste feministische Bewegung — oder aus Sicht des Kapitalismus: Bedrohung — fand sich eine Lösung in Form des notwendigen Gemischs aus Anpassung und Lenkung. Das Wirken und die Errungenschaften der Frauenbewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts sind durchaus beachtlich. Der Druck und die Kraft, mit der das Wahlrecht oder das Recht auf Arbeit erkämpft wurden, sind ohne Zweifel als hoher Verdienst anzuerkennen.

Doch die klassischen historischen Feministinnen waren nicht nur für die Gleichstellung der Frauen, die außerordentlich wichtig, aber auch leicht zu instrumentalisieren ist — sie waren meist auch Sozialistinnen. Dieser frühe Feminismus war also keineswegs im Sinne der damaligen Eliten, die nach dem ersten Weltkrieg gerade dabei waren, sich neu zu organisieren (16, 17).

Abwehrstrategien

Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts schwankte die Entwicklung zwischen teils revolutionären Zugeständnissen seitens der Regierung und der Pflege alter, repressiver Modelle. Während das Frauenwahlrecht in der Schweiz erst 1971 eingeführt wurde und auch in Westdeutschland Frauen bis in die 1970er Jahre nur mit Erlaubnis ihres Ehemannes arbeiten durften, stieg allerdings das gesellschaftliche Ansehen des weiblichen Geschlechts. Als solche repressiven Modelle Ende des 20. Jahrhunderts nicht einmal mehr ein Minimum an Unterstützung erfuhren und alte Gesetze, wie die oben genannte Genehmigung des Ehemannes zum Arbeitsvertrag der Frau, abgeschafft wurden, musste etwas Neues ausgeklügelt werden.

Es war klar, dass Frauen in Zukunft nicht mehr nur zuhause bleiben würden, um brav die Hintergrundarbeit für ihren Mann zu erledigen. Die geniale Lösung gehört zum zweiten Teil der Abwehrstrategie. Sie operiert mit der Lenkung von politischen Bewegungen sowohl auf ideologischer als auch auf ökonomischer Ebene:

Die Frauen wurden keineswegs von der Arbeit zur Reproduktion — Hausarbeit — entlastet — sie mussten zusätzlich einer Erwerbstätigkeit nachgehen, um den Lebensstandard der Familie zu sichern. Eine Entwicklung, die Hand in Hand mit den Anfängen des Neoliberalismus einhergeht. Die Liberalisierung der Märkte und die Senkung des Lebensstandards, dass nun also sehr oft zwei Einkommen nötig sind, um das Leben einer Familie zu finanzieren, wird auf diese Weise sogar als emanzipatorischer Fortschritt verkauft (18, 19).

Und täglich grüßt die Spaltung

Hierbei handelt es sich eigentlich um eine Tatsache, die zu einem phänomenal großen Aufschrei in der Bevölkerung führen könnte. Dass das nicht passiert, hat vielschichtige Gründe und ist keineswegs allein auf eine konkrete Ursache zurückzuführen. Doch es gibt ein Phänomen, das mit der Emanzipation der Frau in Zusammenhang steht: Um Menschen daran zu hindern, ihre vorhandene Macht als Bevölkerung zu nutzen und ausüben zu können, muss man dafür Sorge tragen, dass diese sich nicht als Masse begreifen. Das Programm heißt wie so oft: Spaltung. Man spaltet die Bevölkerung in kleinere Untergruppen durch eine Reihe von sich in ihrer Sinnlosigkeit überschlagenden Fehlidentitäten.

„Ich bin Deutscher“, „Ich bin Anwalt“, „Ich bin HSV-Fan“, „Ich bin beim ADAC“, „Ich bin Operngänger“. Das einzige, was in dieser Aufzählung offensichtlicher Verwechslungen von Haben und Sein nicht vorkommt, ist: „Ich bin ein Lebewesen“. Denn das wäre nicht mehr spaltend, sondern vereinend und könnte die empathischen Strukturen einer Gesellschaft ausprägen. Dieser Mechanismus schützt unsere sogenannte Demokratie und es ist genau dieser Mechanismus, der von der modernen Feminismus-Theorie und -Bewegung unterstützt und aufgegriffen wird. Es existiert nicht mehr nur die reine Spaltung zwischen Mann und Frau, also eine Identifikation mit Hilfe des Geschlechts (sex), sondern auch eine Identifikation mit Hilfe von Geschlechtsidentität (gender).

Dieser Zwang zur zusätzlichen Identifizierung ist sehr stark, denn es geht, im Gegensatz zur Identifikation mit Vereinen beispielsweise, um den eigenen Körper. Hinzu kommt, sich bei nahezu jedem dass in der heutigen Gesellschaft ein Teil der Persönlichkeit über die Sexualität zu erschließen scheint. Hinzu kommen jetzt die Muster: „Ich bin bisexuell“, „Ich bin pansexuell“, „Ich bin asexuell“ und so weiter. Diese Arten der sexuellen Orientierung gab es schon immer und sie sollten gesellschaftlich als absolut normal gelten. Doch lange taten sie das nicht, und so zwingt man nun die Betroffenen in eine regelrechte Rechtefertigungsnot, so dass man plötzlich das Gefühl hat, man müsste sich politisch über die eigene Sexualität definieren. Im Vergleich zu diesen vielen Spaltungs- und Identifikationsmöglichkeiten scheint es fast schon bequem, wenn es nur das Problem des Auseinanderdriften von Mann und Frau gäbe.

Die neue Frau

Das Idealbild einer Frau im Neoliberalismus hat sich völlig gewandelt. Die Frau ist nicht mehr nur zuhause brav am Herd tätig, sondern idealerweise im Büro; genauso wie ihr Mann. Dort kann sie zwar 20 Prozent weniger verdienen — schließlich ist sie eine Frau — und emotionale Bindungen zu ihrer Familie braucht sie — genauso wie ihr Mann — ja kaum, aber sie sichert das System. Das ist ihre einzige Funktion. Sie muss ihrer historisch gewachsenen Aufgabe, sich um den Haushalt zu kümmern, oft immer noch allein nachkommen, aber sie bringt sich jetzt zusätzlich selbst als primär auszubeutendes Objekt in den Markt ein. Die Kinder gibt die Familie möglichst früh und möglichst lange in eine Einrichtung. Dort können sie direkt lernen, sich unterzuordnen.

Das Prinzip der Ausbeutung mag sich seit den Anfängen des Kapitalismus drastisch gewandelt haben, aber die Intention ist die gleiche. Befeuert wird diese gesellschaftliche Entwicklung dadurch, dass insbesondere Frauen in Spitzenpositionen gefördert werden. Rein nach dem Motto: Die beste Frau ist die, die am meisten Mann ist.

Weder gibt es echte Gleichberechtigung in den Lebensmodellen, in den Arbeitszeitmodellen oder in der Bezahlung, noch wird das weibliche Prinzip gesellschaftlich zu schätzen gewusst. Und am wichtigsten ist, dass Mann und Frau durch die kulturelle Ablenkung und Entfremdung von sich selbst ihre eigenen männlichen und weiblichen Anteile nicht mehr anerkennen und in der Spirale von Spaltung und Beschäftigung verharren, so dass grundlegende systemische Veränderungen gelähmt werden.

Vielmehr braucht es einen ehrlichen und aufrichtigen Feminismus, der dafür eintritt, die unterschiedlichen Prinzipien und Qualitäten von Frauen und Männern in ihrer Gleichwertigkeit anzuerkennen.

Hierfür muss sowohl politisch als auch gesellschaftlich ein Klima geschaffen werden, das neuen Arbeitsmodellen mit mehr Familienzeit den Boden bereitet. Dazu muss es Frauen möglich sein, neben ihrer Familie — nicht in Konkurrenz zu ihr — einer erfüllenden und sinnstiftenden Arbeit nachzugehen. Verlogener Feminismus hingegen sabotiert sich selbst und stärkt letztendlich patriarchale Strukturen. Es ist also Zeit für einen ehrlichen Feminismus!


Quellen und Anmerkungen:

(1) Silvia Federicci; Caliban und die Hexe, Frauen der Körper und die ursprüngliche Akkumulation
(2) http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D48181.php?topdf=1
(3) https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/109-10/109_10_Braun.pdf
(4) https://www.welt.de/print/wams/vermischtes/article13478186/Zweifelhaftes-Recht-der-ersten-Nacht.html
(5) https://www.hrgdigital.de/.download/pdf/allmende.pdf (Seite. 1)
(6) http://www.bauernkriege.de/EuropaMITTELALTER.html
(7) http://www.habsburger.net/de/kapitel/bauern-gegen-grundherren-die-baeuerliche-bevoelkerung-beim-aufstand
(8) http://www.habsburger.net/de/kapitel/bauern-gegen-grundherren-die-baeuerliche-bevoelkerung-beim-aufstand
(9) http://www.sragg.de/universitaet/Albigenserkreuzzug/assets/Haeresie.pdf
(10) http://www.tourismus-okzitanien.de/homepage/sehenswertes-und-urlaubsaktivitaten/besichtigungen-und-entdeckungen/kulturerbe/katharerburgen/der-glaube-der-katharer
(11) http://www.die-katharer.de/
(12) https://www.archaeologie-online.de/nachrichten/der-schwarze-tod-kam-ueber-die-hafenstaedte-nach-europa-2771/
(13) https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2011-10/verbreitung-pest-europa
(14) http://www.berndsenf.de/HexenHebammenVerfolgung.htm
(15) Das weiße Band — Eine deutsche Kindergeschichte, Michael Haneke, 2009, X- Verleih
(16) https://www.dhm.de/lemo/biografie/bertha-suttner
(17) https://www.dhm.de/lemo/biografie/clara-zetkin
(18) https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiowissen/geschichte/frauenrechte-emanzipation-brd-ddr-100.html
(19) https://demokratie.geschichte-schweiz.ch/chronologie-frauenstimmrecht-schweiz.html


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