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Dein Leben ohne dich

Dein Leben ohne dich

Wer den Suggestionen der Macht mehr traut als seiner eigenen Wahrnehmung, wird sich selbst fremd — fünf Dichter umkreisen das Thema in diesen „Poesienoten“ .

Seit drei Jahren bin ich jetzt auf den neuen Bühnen zu Hause. Nicht freiwillig. Die meisten „alten“ Vor-Corona-Auftrittsorte gibt es für mich nicht mehr, entweder weil sie schließen mussten, oder weil sie mich nicht mehr buchen. Weil aber das Interesse an widerständischer Lyrik und Künstlern, die sich zu den Missständen der letzten Jahre äußern, groß ist, sind neue Auftrittsorte dazu gekommen, in denen die Veranstalter mutig, selbstbewusst und voller Tatendrang die kritische Kulturszene wiederbeleben. Zu den neuen Bühnen gehören Wohnzimmer, Yogastudios, Antiquitäten-Läden, Innenhöfe auf dem Land, ehemalige Bürogebäude, Übungsräume, kleine Theater und vieles mehr.

Aber nicht nur die Räume haben sich geändert, auch das Publikum. Nicht selten googeln die Zuschauer vor dem Kauf der Karte und forschen nach, wer denn in „Ihr Wohnzimmer“ kommt. Man findet sich, die Widerstandsbewegung ist neugierig und sucht die Vernetzung. Man braucht sich. Wir alle tanken Energie voneinander, um durch die wirren Zeiten zu kommen.

So kommt es immer wieder vor, dass mich Zuschauer ansprechen, die in den letzten Jahren zum Stift gegriffen haben, um das zu verarbeiten, was uns um die Ohren geflogen ist.

Es erscheinen immer wieder Texte, die in ihrer Klarheit, Direktheit und auch lyrischen Kraft aufhorchen lassen. Künstlerischer Ausdruck, der das Zeitgeschehen kommentiert, ob durch Musik, Bilder, Skulpturen oder Lyrik, lässt sich seinen Raum nicht nehmen.

In diesem Sinne möchte ich heute, neben einem versöhnlichen Text von mir, der an die Achtsamkeit im Widerstand appelliert, ein paar Texte vorstellen, die mir bei meinen letzten Auftritten und Proben überreicht wurden — Texte, die das Geschehen zu verarbeiten versuchen. Gleich zu Beginn der Text von Kenneth Anders, der schon einen Gastbeitrag bei den Friedensnoten hatte.

Ich wende mich ab und freue mich (Kenneth Anders)

Ich wende mich ab von eurer Sprache,
vom Reden ohne Leben und Grund,
von Worten, die als trübe Lache
verkleistern jedes Sprechenden Mund.

Auf freie Rede freu ich mich, auf dies und das und dich und dich,
auf Klugheit und Wissen und Stören, auf Mühe und Sorgfalt und Hören.

Ich wende mich ab von all den Bildern
der Feinde, die ihr mir aufgestellt,
will nicht umgeben sein von Schildern
mit schrillen Warnungen vor der Welt.

Auf meine Freunde freu ich mich, auf dich und dich und auch auf dich,
aufs Reden und Trinken und Machen, aufs Singen und Tanzen und Lachen!

Ich wende mich ab von eurem Tadel,
der hinter jedem Lob gedeiht,
ich lehne ab den geborgten Adel,
den ihr für die Artigkeit verleiht.

Auf meine Kinder freu ich mich, auf dich und dich und dich und dich,
aufs Dasein und Spielen und Sehen, aufs Kochen und Essen und Gehen.

Ich wende mich ab von diesem Eifer
mit dem ihr ständig euch distanziert,
und stets belegt mit Schimpf und Geifer,
was nun der Mächtigen Gunst verliert.

Auf Haus und Garten freu ich mich, auf dies und das und dort und dich,
auf Tiere und Arbeit und Bäume, auf Werkzeug und Feuer und Träume.

Auf Dich, Mein Liebchen, freu ich mich, auf Dich, auf dich, auf dich, auf dich,
auf Liebe und Reisen und Sorgen, auf Nähe am Abend und Morgen!





Schatten (Jens Fischer Rodrian)

Wenn wir das Menschliche verlieren — wird es still
Sitzt das Herz am falschen Fleck
Ist es weg — irgendwann
Also warte nicht zu lang

Wenn der Geist zu lange schläft
Wacht er manchmal nicht mehr auf
Nimmt dein Leben seinen Lauf — ohne Dich
Du nimmst die Willkür in Kauf — ohne mich

Du hast Dich viel zu lang gequält
Ob Deine Stimme wirklich zählt
Doch die Frage stellt sich nicht
Denn es geht nicht ohne Dich

Hey, da ist Dein Schatten
Er ist klüger als Du selbst
Will dass Du Dich dem Leben stellst
Nicht mehr mit der Meute bellst




Der Rattenkönig (Nina)

Wenn sie die Gerechten ächten
Und die, die sie verhöhnen, krönen

Dann ist sie wieder da
Die Zeit, die wir so oft schon hatten
Die Zeit der Ratten

Der Rattenkönig frisst sich fett
An uns’rem Ängstebett
Er frisst und scheißt und er regiert
Solang man weiter dies gebiert

Dass wir die Gerechten ächten
Und die, die sie verhöhnen, krönen




Wie in diesen Tagen (Nina)

Schon oft hat die Lüge den totalen Sieg davongetragen
Wie in diesen Tagen, wie in diesen Tagen

Schon oft haben die Menschen einfach aufgehört zu fragen
Wie in diesen Tagen, wie in diesen Tagen

Wenn das Schweigen sich mehr lohnt als die Fragen
Wie in diesen Tagen, wie in diesen Tagen

Dann kriecht die Wahrheit in den tiefsten Lagen
Wie in diesen Tagen, wie in diesen Tagen

Wenn wir uns’re Fragen einfach nicht mehr wagen
Wie in diesen Tagen, wie in diesen Tagen

Müssen wir die Lüge auf den Schultern tragen
Wie in diesen Tagen, wie in diesen Tagen




Coronakinder (Nina)

Sie haben euch das Leben gestohlen
Ihr könnt es euch nicht wiederholen

Seid aufgewachsen ohne Jugend
Verkauft haben sie’s euch als Tugend

Sie haben eure Zeit vernichtet
Wer fragte, wurde abgerichtet

Jetzt ist euer Gesicht erfroren
Eure Kindheit ist verloren

Angst und Gehorsam eingepflanzt
Habt nie geforscht, habt nie getanzt

Sie haben euren Geist verformt
und euch für Kommendes genormt




Herbst (Raphael Winterbloom)

Masken fallen von den Bäumen.
Affen treiben uns in Häuser.
Drinnen duckt sich Maus mit Mäuser —
Irren wächst die Macht in Träumen.

Warm wird’s in den Bonzenbörsen.
Kalt strömt’s aus gehetzten Herzen.
Lüstlinge gebären Schmerzen —
Geld klebt ihnen an den Fersen.

Bunt wird’s draußen, schwarz wird’s drinnen.
’s Volk volkstümelt mit Sternchen*Innen.
Dreimal muss Leben zu Angst gerinnen.
Wir schweigen. Doch wir schreien innen.




Scharade (Antje Niendorf)

Stoppt die Trauermarschbrigade!
Es wurde das Gerücht verbreitet,
die Toten spielten nur Scharade;
zum Sterben wurden sie verleitet.




Nullnummer (Antje Niendorf)

Drei und vier macht Unsinn im Quadrat
eins und eins macht nichts.
ein Rezept mit blauen Fischaugen

was’n Schweinefraß
was’n Kuhfraß
was dann ein Wolf fraß.




Dem Kerkermeister eine Stadt (Antje Niendorf)

Dem Kerkermeister eine Stadt,
wie er sie nie gesehen hat.
Ein weißer Mondaufgang über dem First.
Eine dunkle Sturmfront frisst den zuerst.

Schläge auf der Uhr im Waschzuber-Himmel,
ehrbare Klagen im braunen Getümmel.

Ein armer Lump ist, der den Narren frech und dreist
vom bloßen Leibe die Kleidung reißt.
Jedes Gesetz kostet dreitausend Gulden!
Für Freiheit und Recht will er’s freudig erdulden.




Der Sturm (Antje Niendorf)

Ein Sturm tobt.
„Mutter“, sag ich, „der Sturm!“
Sie sagt nichts, ist tot.

„Vater“, sag ich, „der Sturm!“
Er sagt nichts, stirbt.

Ich schichte tote Rattenleiber
zu einem großen Haufen.

Der Sturm rüttelt am Dachfirst.


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