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Der Friedens-Analphabetismus

Der Friedens-Analphabetismus

Kriegsvorbereitung und Militarismus sind nun die Hauptfaktoren, die den Westen zusammenhalten, denn ihm fehlen schlicht die Kompetenzen für echten Frieden.

von Jan Oberg

Die westliche Welt hat ihr Bewusstsein für sowie ihre Wahrnehmung und Werkzeuge der Konfliktanalyse und -lösung, Friedensstiftung und Versöhnung verloren.

Verdrängt wurden sie von den Kakistokraten des Militarismus — ein Begriff aus der Politikwissenschaft, der bedeutet, dass die Regierung aus „den schlechtesten, am wenigsten qualifizierten oder den skrupellosesten Menschen“ besteht. Konsequenterweise beträgt das Risiko für einen großen Krieg in Europa mehr als 50 Prozent.

Seit Wochen und Monaten beobachte ich still, wie Experten für Geopolitik — auch sehr qualifizierte — und Menschen, die unabhängig und in den Mainstream-Medien berichten, sowie viele andere von der stillschweigenden, impliziten Annahme ausgehen, dass Präsident Trump die Schaffung eines Friedens in der Ukraine unterstützen würde; sie scheinen zu glauben, dass das, was wir gesehen haben, irgend etwas mit einer wissensbasierten, professionellen Friedensstiftung zu tun hat oder auch nur die geringste Chance hätte, zum Frieden zu führen.

Natürlich weiß ich zu schätzen, dass Trump überhaupt zum Telefonhörer gegriffen und mit Putin telefoniert hat, teile aber nicht die offensichtlichen Illusionen fast aller anderen. Mir scheint, als sei das, was wir sehen, ein hundertprozentiger Analphabetismus bezüglich Frieden, Konfliktanalyse, Friedensstiftung und Mediation — ganz zu schweigen vom Tabuwort „Gewaltlosigkeit“.

Es gab keine Diskussion über diese „Friedens“stiftenden Aktivitäten an sich. Oder über die möglichen Phasen einer professionellen Friedensstiftung. Alles, was getan wurde — wie die einstündigen „Verhandlungen“ in Instanbul am 2. Juni 2025, unmittelbar nach dem ukrainischen Militärangriff tausende Kilometer nach Russland hinein — ist nichts als Theater. Von allen Seiten. Wahrscheinlich hat keine der Parteien eine Ahnung, was zur Erreichung eines Friedens zu tun ist, nachdem sie ihren Autopiloten auf Wiederaufrüstung, militaristische Haltung, Hass und fortgesetzte Kriegsführung eingestellt hat.

Schon wieder geht es im Diskurs zu 100 Prozent um Krieg, Waffenstillstand, Deals, mehr Waffen für die Ukraine und andere Dinge, die für eine echte Friedensarbeit vollkommen irrelevant/kontraproduktiv sind.

Nichts von alledem würde stattfinden, wollte man wirklich einen Krieg beenden, etwas Konstruktives für den zugrunde liegenden Konflikt tun, zu vermitteln versuchen oder auf andere Art und Weise einen nachhaltigen Frieden zwischen ehemaligen Gegnern und Kämpfern schaffen, und Experten hätten es als Theater kommentiert — ein sinnloses Theater zur Irreführung der Medien — und nicht als professionelle politische Aktivitäten.

Betrachten wir nur ein Beispiel dieses Konflikt(lösungs)analphabetentums: Den Menschen scheint nicht bewusst zu sein, dass ein Mediator allen Konfliktparteien gegenüber vollkommen neutral sein muss und kein Interesse an einer bestimmten Lösung oder zukünftigen Vereinbarung haben darf. Die Friedensanalphabeten scheinen zu glauben, dass Donald Trump — Staatsoberhaupt des Landes, das bezüglich des Konflikts die größte Verantwortung trägt, und der zudem eine Menge persönlicher, unternehmerischer und politischer US-Interessen vertritt — sich einmischen und die Rolle des Mediators spielen kann, um die für alle Parteien dieses komplexen Konfliktes beste Lösung zu finden.

Viele Instrumente stehen zur Verfügung, werden aber nicht genutzt

Die Welt verfügt über viele Mittel und Instrumente zur Schaffung von Frieden. Diese sind nicht so perfekt, nicht so effizient wie die Waffen und Kriegsorganisationen, aber wir haben die Vereinten Nationen — die einzige Organisation mit einer Friedens-Charta sowie Jahrzehnten Erfahrung in Friedensstiftung und -erhaltung, Abrüstung, Waffenstillstand und mehr. Wir haben die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die OSZE.

Wir haben zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich auf Konfliktanalyse und Versöhnung, Friedensschaffung und so weiter spezialisiert haben. Wir haben ehemalige Diplomaten, die viel Erfahrung in diesen Bereichen besitzen.

Was wir allerdings nicht haben, sind Friedens- und Konfliktexperten, die als Berater in den Büros von Präsidenten, Premierministern, Außenministern und Verteidigungsministern sitzen. Diese glauben offenbar, es bedürfe nur eines militärischen Sachverstandes von Experten in Uniformen und von Zivilisten mit inneren, politisch korrekten, „intellektuellen" Uniformen, die unfähig sind, grundlegende Fragen zu stellen, Szenarien und Strategien zu entwickeln und langfristige Konsequenzen dieser Kriegspolitik abzuschätzen — das westliche „Groupthink“-Narrativ.

Wie so viele andere haben diese Führer — auf allen Seiten — keinen Respekt vor dem Frieden als einem eigenständigen Wissens- und Fachbereich wie beispielsweise die Politikwissenschaft, das Völkerrecht oder die Medizin, und scheinen daher zu glauben, sie selbst seien Experten in allem, was mit Frieden zu tun hat.

Oder betrachten wir das bereits erwähnte einstündige Treffen in Istanbul; wenn die Absicht bestand, einen Dialog zu fördern, waren die Tische falsch angeordnet: zwei lange Tische, an denen sich die Feinde gegenübersaßen, zu verbalen Angriffen bereit, während am Kopfende jemand vor ein paar Flaggen saß. Es gibt keine Strategie, keine Methode, keine Ahnung von den Absichten und wie die folgenden Phasen vorbereitet werden sollten. Dies können wir behaupten, ohne dort gewesen zu sein, weil (das Gespräch) nur etwa eine Stunde dauerte.

Nur Konfliktanalphabeten würden dies auf diese Art und ohne professionelle Verfahren und Methoden auf die Beine stellen. Nur Friedensanalphabeten glauben, dass man Beteiligte frisch vom Schlachtfeld oder von der Kommandozentrale an einen solchen Tisch setzen kann, um einen Waffenstillstand zu ermöglichen.

Nein, eine professionell ausgearbeitete Strategie würde mit einem wirklich anerkannten Mediator oder mehreren Mediatoren und Mechanismen beginnen und zuerst jede Partei einzeln — ohne anwesende Dritte — über Dinge wie diese befragen: Wie definieren Sie den Konflikt — worum geht es Ihrer Meinung nach?

Was befürchten Sie jetzt und in der Zukunft? Was wünschen Sie sich für die Zukunft und was sind Ihre Prioritäten? Wie sieht Ihre ideale Zukunft aus und mit welchen nicht ganz so idealen Zukunftsvarianten könnten Sie leben? Können sie sich einen Punkt in Raum und Zeit vorstellen, an dem eine Art Verbundenheit zwischen Ihnen und den anderen Parteien besteht? Was haben Sie mit den anderen Konfliktparteien gemeinsam? Wann in der Vergangenheit bestanden zu den anderen Parteien bessere Beziehungen? Wie möchten Sie fortfahren, wie sieht Ihr gewünschter Mediationsplan aus? Welche Art von Fachwissen wird aus Ihrer Sicht benötigt — und was denken Sie über Möglichkeiten, eine Versöhnung auf der menschlichen/bürgerlichen Ebene zu erreichen? und so weiter. Diese Fragen dienen nur als Beispiele für die Themen, die über einen langen Zeitraum zuerst einzeln mit den verschiedenen Parteien und dann mit beiden Parteien gemeinsam besprochen werden müssen.

Wissen Sie was? Erst nach einem sehr aufwändigen, monatelangen Verfahren und erst, wenn die Mediatoren das Gefühl haben, dass ein gemeinsamer Nenner besteht, treffen sich die Parteien an einem Tisch. Man beginnt nicht dort — weil gescheiterte Treffen nur bestätigen, dass ein Frieden unmöglich sein wird.

Außerdem beruhen diese Holterdipolter-Treffen für einen Waffenstillstand auf der zynischen und ignoranten europäischen Vorstellung, dass Truppen aus NATO-Ländern nun plötzlich die Rolle von Friedenswächtern spielen können. Das können sie nicht. Sie sind dafür nicht ausgebildet. Die Idee ist vergleichbar mit dem Vorschlag, eine Person, die noch nie ein medizinisches Lehrbuch aufgeschlagen hat, solle eine Operation durchführen.

Weitere Elemente von Friedens- und Konfliktanalphabetismus und Quacksalberei und warum Menschen daran glauben

Dies ist das intellektuelle Niveau von heutzutage. Der Grund dafür ist, dass das Hauptaugenmerk auf dem Krieg liegt und nicht auf dem zugrunde liegenden Konflikt, der der Schlüssel zum Frieden ist. Das Schlachtfeld, die Gewalt sind nie der Schlüssel zum Frieden — nur die zugrunde liegenden Konflikte, die zum Krieg geführt haben.

Ein Konflikt kann als Problem betrachtet werden, das zwischen den Parteien steht und gelöst werden muss, und wenn diese nicht wissen, wie, tappen sie in die Gewaltfalle, die alles verschlimmert.

Das europäische Interesse besteht — selbst nach dem relativen Rückzug der USA aus diesem bereits verlorenen Krieg — darin, den Krieg irgendwie am Laufen zu halten und zu versuchen, Russland zu schwächen und schließlich zu besiegen, wie Staatsoberhäupter von NATO-Ländern mehrfach erklärt haben.

Zufällig haben wir eine Weltorganisation, die UNO, deren Artikel 1 besagt, dass Frieden mit friedlichen Mitteln geschaffen werden soll. Die UNO ist ausgerichtet, ausgebildet und erfahren in der Friedenssicherung, in zivilen Angelegenheiten, in der zivilen Polizeiarbeit, in der Entwaffnung von Kämpfern, in der verschlossenen Einlagerung von Waffen und darin, Kämpfer zu zwingen, sich an einen Tisch zu setzen und die Zukunft in den Gemeinden und anderswo zu diskutieren. Und, wohlgemerkt, darin, sich um die leidenden Zivilisten in den (ehemaligen) Kriegsgebieten zu kümmern und sie dabei zu unterstützen, wieder ein normales Leben zu beginnen.

Außerdem fehlt der Art von Quacksalber-Friedensstiftung, die wir gerade erleben, jedes Gefühl für die Wichtigkeit eines Friedensaufbaus von unten.

Es scheint ein weit verbreitetes (Miss-)Verständnis zu sein, dass Präsidenten und andere Top-Eliten, die die jeweils andere Bevölkerung bekämpft und getötet haben, plötzlich Friedensstifter sein können.

Wir vergessen dabei, dass Abermillionen von Menschen, normale Bürger aus allen Gesellschaftsschichten, mit dem „Friedensplan“ leben müssen, den diese Präsidenten sich aus Eigeninteresse und in völliger Unkenntnis der Vorstellungen, Bedürfnisse und Visionen ihrer Bürger zusammenreimen.

So wird es oft gemacht. Erinnern Sie sich an das Dayton-Abkommen von 1995? Oder an die Gespräche in Rambouillet, die als Vorwand für die (rechtswidrigen) Bombardierungen Serbiens durch die NATO dienten? Selbst wenn sie das Kämpfen und Töten eingedämmt haben, verursachten sie mehr Probleme und lösten kein einziges. Quacksalber-Friedensstiftung schafft „failed states“, die sich heute, 30 Jahre später, auflösen und neue Gewaltausbrüche hervorrufen.

Das Wort „Frieden“ und die damit verbundenen Gedanken sowie das Wissen darüber wurden größtenteils aus Regierungskreisen, den Medien, der Forschung und, so fürchte ich, auch weitgehend bei den einfachen Bürgern Europas ausgemerzt. Keine einzige elitäre Agenda hat den Frieden zum Inhalt. Eine gesamte Wissenschaft und Kunst wird systematisch ignoriert. Würden diese Führer an sich selbst herumdoktern, wenn sie krank wären? Nein, sie würden die besten Ärzte, die sie finden, konsultieren — würden sich aber niemals an einen Konfliktdoktor oder qualifizierten Mediator wenden. Wahrscheinlich haben sie noch nicht einmal daran gedacht.

Die westliche NATO/EU-Welt ist zu Mediations-Analphabeten geworden. Zu Friedensanalphabeten. Zu Konflikt-Analphabeten und Analphabeten der Versöhnung und Vergebung. Diese Wissensgebiete sind riesig, komplex und jämmerlich wenig erforscht, weil die Militaristen sie nicht haben wollen. Sie denken, der Frieden solle durch eine Fokussierung auf die Gewalt, den Krieg, die Schlachtfelder und den (unkontrollierten?) Waffenstillstand entstehen. Sie wissen nicht einmal, dass in einem Verständnis der zugrunde liegenden Konflikte, die überhaupt erst zu dieser Gewalt gefühlt haben, der Schlüssel zu einer Friedensstiftung liegt.

Das ist wie ein Arzt, der Ihnen ein Schmerzmittel gegen Kopfschmerzen gibt, dabei die tiefer liegende Diagnose und Prognose ignoriert und daher auch den tieferen Grund nicht findet: dass Sie einen Gehirntumor haben und bald sterben werden, wenn nichts Ernsthaftes unternommen wird.

Ohne jedes Wissen über, Interesse an, Neugierde auf und eine Offenheit gegenüber Konfliktanalyse und Friedensschaffung gibt es keine Alternative zum Krieg.

Natürlich wissen sie alle, was in den Medien und in den Bereichen Fehlinformation und Propaganda gut klingt. So zum Beispiel, dass sie selbst unschuldige Opfer, ihre Gegner dagegen einhundertprozentig verantwortlich für die Situation sind. Sie werden alle sagen, dass sie möchten, dass der Krieg endet — wie Trump, der sagt, es seien viel zu viele (Menschen) in der Ukraine gestorben, der aber (gleichzeitig) Israels Völkermord voll und ganz unterstützt, die Huthis bombardiert, schwindelerregende milliardenschwere Waffendeals mit Saudi-Arabien abschließt und einen großen Terroristen wie Syriens neuen Präsidenten akzeptiert. Sie werden alle sagen, dass sie einen Waffenstillstand möchten und dann einen stabilen Frieden, der durch Gerechtigkeit gekennzeichnet sein wird. Wie langweilig! Das ist so öde, dass es wieder und wieder von den globalen Medien zitiert werden kann, die höflich/unterwürfig nicht darauf hinweisen, wie verlogen diese Friedenswünsche tatsächlich sind.

Trauen Sie keinem von ihnen — egal, auf welcher Seite er steht. Wollten sie den Frieden in Europa, hätte es weder eine NATO-Expansion in die Ukraine noch eine russische Sonderoperation in der Ukraine gegeben. Es hätte nie ein ukrainisches Staatsoberhaupt gegeben, das die Marionette für westlichen Militarismus und die Destabilisierung Russland gab — egal, welchen Preis sein eigenes Land und seine eigenen Leute über Generationen hinweg dafür bezahlen müssen.

Wenn sie Frieden wollten und wüssten, was Frieden ist oder sein könnte und wie man ihn herstellt, wäre der Krieg schon lange zu Ende und würde als tragischer Fehler/tragisches Missverständnis angesehen.

Wären sie an einem nachhaltigen Frieden und allgemeiner Sicherheit interessiert, hätten sie einander zugehört und einen Dialog geführt, anstatt sich gegenseitig zu ignorieren, zu provozieren und zu canceln. Sie hätten niemals unglaublich zerstörerische Langstreckenwaffen zur Abschreckung gebaut, auch gäbe es auf der ganzen Welt keine Atomwaffen oder 650 US-Stützpunkte in 130 Ländern. Es hätte Friedensministerien gegeben, zivile Konfliktlösungsinstitutionen, Friedenserziehung an Schulen und Friedensberater in allen Entscheidungsgremien.

Wir sind zu einer kranken, militaristischen Gesellschaft geworden, und die Menschen erkennen dies nicht einmal.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich beziehe mich hier nicht nur oder nicht hauptsächlich auf die russische Invasion der Ukraine. Waffen und Gewalt waren Teil all dessen, was die USA/NATO getan haben — vom Staatsstreich und Regime Change unter der Obama-Regierung in Kiew vor 11 Jahren, in 2014, über Trump 1.0 und Biden bis zum jetzigen Trump-Regime.

Von diesem Jahr an war die CIA in der ganzen Ukraine präsent — in Biowaffenlabors, beim Aufbau einer ukrainischen Armee, die damit begann, Russen im Donbass zu töten — um die künftige Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO vorzubereiten, obwohl vor der Invasion nie mehr als 15 Prozent der Ukrainer eine NATO-Mitgliedschaft wollten; sie wollten ein Sicherheitsabkommen mit Russland. Viele sprechen von der Ukraine in der NATO, aber seit gut 30 Jahren, ein paar Monate nach der Unabhängigkeit der Ukraine, geht es mehr um die NATO in der Ukraine. Die NATO leidet an einer extremen Hybris und hat Russlands Schwäche — diplomatisch ausgedrückt — unklugerweise ausgenutzt und sein gut dokumentiertes Versprechen gebrochen, die NATO nicht auszuweiten, wenn die beiden deutschen Staaten in der NATO vereinigt würden.

Leider könnte man heute argumentieren, dass Russland in die Falle der NATO getappt ist und die Invasion ein kleines Verbrechen — verglichen mit dem Kosovo, mit dem Irak, mit Syrien, Libyen und anderen Kriegsgebieten, die die USA/NATO geschaffen haben, — dann propagandistisch völlig aufgeblasen werden konnte: „Seht her, Putin hat den ersten Schritt zur Eroberung ganz Europas vollzogen.“ Bürger, denen erzählt wird, sie müssten einen Angriff befürchten — sie sind die Opfer der Angstologie ihrer Eliten — glauben dies meist; es ist aber ein Szenario, das sich auf dieser Erde nicht verwirklichen wird.

Frieden ist also out. Oder Krieg ist Frieden. Und wenn niemand über Frieden spricht, bleibt nur noch der Krieg übrig.

Frieden ist eine Frage der Kultur. Er ist eine Frage der Bildung. Er ist eine Frage der Zivilisation. Während jeder betrunkene Idiot in einer Kneipe eine Schlägerei — oder einen Krieg — beginnen kann, ist es nicht jedermanns Sache, Frieden stiften zu können.

Deshalb gibt es Preise für den Frieden, jedoch nicht für Invasionen, Kriege, Völkermorde, Massenmorde oder nukleare Kriege …

Konflikte passieren! Es wird immer Konflikte geben — große und kleine, überall —, weil wir unterschiedlich sind und unterschiedliche Dinge wollen, unterschiedliche Visionen von einer guten Gesellschaft haben. Es muss aber nicht zu Gewalt kommen. Es gibt Konflikte ohne Gewalt, aber keine Gewalt ohne einen Konflikt. Konflikte elegant und intelligent zu lösen, bedeutet, so wenig Gewalt wie möglich anzuwenden — was dem hippokratischen Eid entspricht: Im Heilungsprozess so wenig Schaden wie möglich anzurichten — aber zu heilen!

Genau darum geht es in der UN-Charta. Der NATO-Vertrag (Nordatlantikvertrag) ist eine Kopie davon. Es ist nur so, dass die NATO rund um die Uhr gegen ihren eigenen Vertrag verstößt, seit sie Jugoslawien/Serbien 1999 bombardiert hat.

Imperialisten, Kriegstreiber, engstirnige Machthaber und zynische Materialisten, denen menschliches Leid völlig gleichgültig ist, sehen das natürlich nicht so. Sie entscheiden sich für Gewalt, entweder weil sie einen inneren Drang dazu verspüren — wie Hybris, Hass und Rache oder einfach weil sie unglückliche, vielleicht sogar böse Menschen sind — und/oder, weil sie keinen blassen Schimmer von Konfliktlösungsmethoden und Friedensschaffung haben.

Sie entscheiden sich für Krieg, weil es überall einen MIMAC, einen militärisch-industriellen-medialen-akademischen Komplex von Eliten gibt, die Entscheidungen zu ihren eigenen Gunsten statt zum Vorteil ihrer Bürger fällen und wahrscheinlich jeden wichtigen Führer eliminieren würden, der wirklichen Frieden anstrebt …

Die Phase nach der Beilegung des Konflikts — nachhaltiger Frieden.

Ein Konflikt ist nur dann beigelegt, wenn er sich nie in der selben Art und Weise wiederholt — was aber nicht bedeutet, dass keine neuen Konflikte auftreten können. Wenn wir uns nun vorstellen, dass eine Art umfassende, echte Lösung gefunden wurde und keine Gewalt mehr zwischen den Parteien herrscht — und keine der Parteien plant, die Waffen wieder aufzunehmen oder Rache zu üben —, dann kommt all das, worüber heute niemand spricht: eine Wahrheitskommission, Versöhnung, Vergebung, Kooperation zur Reduktion neuer Konfliktrisiken, andere Maßnahmen zur Gewaltverhinderung in der Zukunft und viele andere schwierige Dinge.

Nach mehr als zehn Jahren dieses Konflikts und mehr als drei Jahren herzzerreißender Massentötungen und Zerstörung habe ich keine einzige Diskussion über Fragen wie diese erlebt — und nicht einen einzigen visionären Plan für ein neues Europa, in dem all das, was wir gesehen haben, nicht mehr geschehen kann. Keine einzige!

Selbst Friedensmenschen neigen dazu, sich auf die Waffendimension zu konzentrieren, anstatt Friedenspläne sowie neue Friedens- und Konfliktbehebungsstrukturen zu entwerfen, die dazu geeignet sind, eine Wiederholung zu vermeiden.

Und Wissenschaftler würden wahrscheinlich ihre Projektfinanzierung verlieren, wenn sie sich ernsthaft mit solchen Fragen auseinandersetzten …

Konflikt- und Friedensanalphabetismus sind weit verbreitet, weil man irrigerweise meint, dass Frieden durch die Anhäufung und den Gebrauch von Waffen erreicht werden kann. Entschuldigen Sie bitte, aber wenn Waffen Frieden bringen würden — wie kommt es dann, dass die NATO, die fast 60 Prozent der weltweiten Militärausgaben verantwortet, jetzt die Hauptpartei in einem Konflikt ist, der Europa und vielleicht die ganze Welt — mit zunehmender Wahrscheinlichkeit — der Gefahr eines konventionellen und (vielleicht) atomaren Schlagabtausches aussetzt?

Ich bitte nochmals um Verzeihung, aber die Kleider des US/NATO-Kaisers sind nicht neu, sie sind alt und schmutzig.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass diese Militaristen und Kriegstreiber auf allen Seiten paradoxerweise eines gemeinsam haben: Gewalt und Krieg ist alles, was wir brauchen! Wir brauchen keine Konfliktanalyse, Mediation oder Friedensschaffung. Wir brauchen keine UN oder sonst jemanden. Der Friede ist das, was übrig bleibt, wenn die Waffen gesprochen haben und ausreichend viele (Menschen) ums Leben gekommen sind.

Entscheidungsträger, Sicherheitsexperten und Medien scheinen nicht zu erkennen, dass wir innovative Vorschläge für die Sicherung der Zukunft der Ukraine, die Auseinandersetzung mit Russlands legitimen Sicherheitsinteressen und die friedliche Koexistenz in Europa und mit China benötigen. Konfliktlösung und Friedensstiftung bedeuten, eine bessere Zukunft jenseits von Militarismus und Zerstörung zu sehen. Sie können niemals aus einer Zwangsvorstellung der Gegenwart und der Vergangenheit erwachsen.

Militaristen und andere Menschen an der Macht hassen es, wenn Menschen da draußen a) intelligentere Ideen als sie selbst haben, was nicht so schwer ist, und b) sich ihrem Militarismus, ihrem Gruppendenken und ihrem propagierten Narrativ widersetzen.

Kriegszeiten sind keine Zeiten lebendiger Dialoge und vieler konkurrierender Szenarien. Es sind Zeiten intellektueller Leere, des Autoritarismus und moralischen Zerfalls.

Je mehr Krieg und Militarismus, desto weniger Toleranz und Kreativität und weniger Demokratie und Freiheitsdenken. Militarismus und Kriegstreiberei haben ihre eigenen Gesetze und Dynamiken und es bedarf der Anstrengungen eines Herkules einen Führer zu stoppen, damit er dem Denken beginnt und — etwas anderes tut. Der Zug fährt nämlich in die Vernichtung.

Das sehen wir im gegenwärtigen Westen, der ständige Konfrontationen betreibt, weil er tief im Innern weiß, dass er im Untergang begriffen ist und offensichtlich nicht in der Lage ist, sich auch nur im Geringsten neu zu erfinden und ein attraktiver Partner in der multipolaren, kooperativen und friedlicheren Welt zu werden.

Seit Jahren schon konzentrieren sich geopolitische Experten, die Medien und Wissenschaftler auf den Krieg. Sie konzentrieren sich auf die Gegenwart und die Vergangenheit, und wer wem etwas angetan hat. Sie beschäftigen sich nicht mit Fragen zur Zukunft, einer besseren Zukunft für alle. Es scheint, als ob sie nach einem konventionellen und/oder atomaren Krieg lieber auf den Ruinen und Schutthaufen neu beginnen würden — und sei es nur, um zu beweisen, dass sie recht hatten und wie sehr alle anderen falsch lagen.

Keine der Parteien hat eine Vision darüber vorgelegt, wie ein künftiges europäisches Sicherheitssystem aussehen sollte, das den Mindestanforderungen und legitimen Bedürfnissen sowie Interessen aller beteiligten Parteien gerecht würde. *Und wo es keine bessere Vision gibt, erscheint die Fortsetzung von Kriegskämpfen im Vergleich attraktiver und so natürlich. *

Hier sind wir also. Kein Politiker, kein Redakteur und kein Wissenschaftler von Rang hält es für angebracht oder ist dazu fähig, zu sagen: „Hey, wenn all das nicht funktioniert hat und wir uns nun im Namen einer ‚Sicherheits’politik in einer so gefährlichen Situation befinden, sollten wir uns vielleicht fragen, was an der Art, wie wir seit 1945 über unsere Sicherheit nachgedacht haben, falsch war. Wie kommt es, dass die Summe (der Ausgaben) des rüstungsbasierten Paradigmas der nationalen Sicherheit uns allen eine endlose Ressourcenverschwendung, Millionen von toten Mitmenschen, die Verwüstung ganzer Länder und jetzt die Gefahr der Auslöschung der Menschheit beschert hat? Wie sollten wir in Zukunft vorgehen, um einen echten Frieden zu erreichen anstatt des militarisierten Friedhofsfriedens, und — gemeinsam — alles in die Lösung der wirklichen und gravierenden Probleme zu investieren, anstatt alles zu verschwenden und zu verlieren — anstatt uns selbst zu Tode zu militarisieren?

Hans Christian Andersen erfand den kleinen Jungen, der die Täuschung, die Fehlinformation erkannte — und kein Blatt vor den Mund nahm. In der heutigen westlichen Welt ist er nirgendwo zu sehen.

Was uns dahin geführt hat, wo wir jetzt sind, ist die grenzenlose Aufrüstung und offensive Abschreckung — das klassische Sicherheitsdilemma —, ein völlig starrköpfiges Denken, das der Welt niemals Frieden bringen kann. Erhöhte Militärausgaben, die jetzt sogar von der anti-intellektuellen Kirchengemeinde der NATO an das Bruttosozialprodukt geknüpft werden — das hat uns dahin geführt, wo wir jetzt sind.

Die Theorien der offensiven Abschreckung von NATO und Russland, wenngleich sie sich unterscheiden, haben uns dahin geführt, wo wir jetzt sind. Es handelt sich schließlich bei beiden um westliche Gesellschaften, die in grundlegenden Dimensionen gleich denken. Zwei Skorpione in der gleichen westlichen Flasche. (Diese Metapher stammt aus der Zeit des kalten Krieges, als die USA und die Sowjetunion mit zwei Skorpionen in einer Flasche verglichen wurden, die sich zwar gegenseitig töten können, dies aber mit dem eigenen Leben bezahlen werden; Anmerkung der Übersetzerin)

Es ist ein lebensgefährliches Perpetuum mobile, das angetrieben wird durch eine wie drogensüchtige Neigung, immer mehr Waffen zu brauchen - und sich mit immer weniger Denken zufrieden zu geben.

Ständig steigender Militarismus und Kriegsplanungen sind schon immer mit einer intellektuellen und moralischen Abrüstung einhergegangen. Und so ist die einzige Antwort, mit der diese religiöse Gemeinde auf dem nächsten NATO-Gipfel aufwarten wird, die selbstzerstörerischen Medizin, die wir Rüstung nennen, auf sogar 5 Prozent des Bruttosozialproduktes zu erhöhen und die EU weitere 100 Milliarden Dollar für noch mehr Militarismus-Drogen verschwenden zu lassen. Sie werden Ihnen aber erzählen — und dies möglicherweise selbst glauben —, dass es ja der „Verteidigung“ in einem „Verteidigungs“bündnis dient, das Frieden bringen wird, wenn es nur noch ein bisschen mehr Geld erhält …

Die drei Folgen werden sein:

a) ein erhöhtes Kriegsrisiko,
b) eine Zerstörung der zivilen Wirtschaft und
c) der Westen wird im Vergleich zur übrigen der Welt in Bezug auf alle Indikatoren immer schwächer werden.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich glaube, dass eine Gesellschaft, die jedes bisschen Frieden aufgegeben und nicht einmal 1 Prozent davon bewahrt, sondern sich zu 100 Prozent dem Militarismus verschrieben hat, eine Gesellschaft ist, die zusammenbrechen wird — sich zu Tode militarisieren wird wie der unheilbare Drogenabhängige und nicht überleben wird und es auch nicht verdient, zu überleben.

Militarismus und Kriegsführung sind heute die hauptsächlichen Kräfte, die den Westen zusammenhalten. Sie werden niemanden außer den Westen selbst zerstören — weder Russland noch China noch irgendjemand anderes, die nie darauf ausgerichtet waren, den Westen zu zerstören. Die westlichen Eliten des MIMAC — des militärisch-industriellen-medialen-akademischen Komplexes — bekommen das auf brillante Weise selbst fertig. Der Feind sind wir.

Daher ist die Vorhersage, dass sich der Niedergang des Westens beschleunigen wird, so tragisch wie sicher. Und der Rest der Welt — 88 Prozent der Menschheit — wird dies bedauern, aber weitgehend beklatschen. Das letzte Imperium der Menschheitsgeschichte — nein, es liegt nicht in den chinesischen Genen, ein Imperium zu erschaffen —, bröckelt, aber wird es in einer nuklearen Katastrophe zusammenbrechen?

Das atomare Imperium der Sowjetunion löste sich — größtenteils dank seines visionären Führers, Michail Gorbatschow — friedlich auf. So erschreckend es auch ist, heute kann ihm kein westlicher Führer das Wasser reichen.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel
The West´s Self-Destructive Peace and Conflict Illiteracy“ bei Global Research. Er wurde von Gabriele Herb ehrenamtlich übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratteam lektoriert.


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