Der große Ausverkauf
von Roman Arzt
Aus der Ferne erglühten die Lichter der Stadt, angetrieben von einem Dynamo, der menschliche Kraft in Bewegungswärme und Licht transformiert, zitternd, erstarkend, dann wieder fast erlöschend.
Verwundert über diese Analogie hielt Bruno kurz inne und atmete die kühle Winterluft ein, die von einem Nebelaerosol durchdrungen war und seine Lebenskraft über die Lungen vitalisierte. Als seien Lebenskraft und geistiges Bild gerade dabei gewesen, seelische Erfahrungen heraufzubeschwören, trat er schon wieder fester in die Pedale seines neuen E-Bikes und lächelte lau Anna zu, die ihn überholte und dabei den Kopf schüttelte.
„Wir kennen uns nicht wirklich, weder kenne ich sie, noch mich selbst, ein Schatten unserer selbst sind wir, mechanisch, lenkbar, in Trance, nicht wirklich“, so dachte er.
Annas lange Beine wirkten im Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Fahrzeuge wie Residuen einer Vorzeit, die verheißungsvoll organische Formen barg, die sich unablässig anzogen und zu vereinen trachteten. Leben voll Leben inmitten von Leben.
Ein Anachronismus!
Annas schwarzer Filzrock war über den Sattel gerutscht und die blinkende rote Schlussleuchte schien unheimlich lockend durch das dunkle Gewebe und Bruno dachte an Schwitters. Diesmal hellte sich sein Gesicht mit einem authentischen Lächeln auf.
"Wir könnten doch nach dem ’Sport-Dom’ Bummel bei ’Vine and Veg’ einkehren", Annas glockenhelle Stimme bekam einen samtigen Unterton.… "und anschließend eine Expedition in die tropischen Feuchtgebiete unternehmen", dachte Bruno und er sagte laut: "Gute Idee!"
Der "Sport-Dom" wurde effektvoll angestrahlt, ein lokaler Lichtkünstler zauberte zu den Klängen evokativer Musik eines bekannten DJs die Porträts der Spieler des hiesigen Bundesligaclubs an die Wände. Die jungen Männer – viele bärtig – trugen lange Kapuzenjacken und sie wirkten wie eine geheimnisvolle Bruderschaft auf der Suche nach dem heiligen Gral.
Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine Ladenpassage, deren Eingang aus spiegelndem Glas bestand und bei genauerem Hinsehen zu einem Mosaik von Flachbildschirmen mutierte, die die medial inszenierte Welt in ständig wechselnden Bildfolgen und scheinbar unzusammenhängenden Chiffren entwarf. Politik, Wirtschaft, Nachrichten, Sport, Werbung erschienen in diesem künstlichen Rahmen als beklemmend ähnlich und gleichsam irreal.
Bruno sah die Militärministerin im Interview mit einer in Aufmachung und Haltung sich gleichenden Moderatorin auf N-TV.
Unterhalb der beiden kostümierten Damen befand sich ein Balken, der in alphabetischer Reihenfolge die aktuellen Aktienkurse bezifferte. Die Mimik der beiden Frauen war seltsam erstarrt, nur die Münder bewegten sich, wie bei Fischen.
Ein bizarrer Kontrast, wie er schärfer nicht sein konnte, geriet in Brunos rechtes Gesichtsfeld. Er bemerkte weiter vorne im Eingang der Passage jetzt diesen großen schwarzen Hund, der anmutig und stolz wirkte und eher an einen Panther erinnerte und Bruno mit entspannter Wachheit zu beobachten schien.
Das schöne Tier lag mit gekreuzten Pfoten auf einer Pappmascheeunterlage. Ein Teil seines Leibes berührte einen in einem Schlafsack und Decken eingehüllten Menschen, der regungslos dalag. Zum Kopfende hin stand eine Tetrapaktüte mit billigem Wein, sowie eine umfunktionierte Coca-Cola Dose mit der kaum lesbaren Aufschrift: "Bitte um eine Spende für uns – danke!"
Anna war verschwunden. Unbemerkt von Bruno war sie in das Innere des Sporttempels gegangen und durchstöberte dort die Auslagen. Zu Rabatten und Dumping-Preisen wurden Waren feilgeboten, die zuvor noch das Doppelte oder gar Dreifache gekostet hatten. Spieler des Sportklubs, darunter auch ein Nationalspieler, gaben Autogramme und es herrschte großer Andrang.
Bruno entdeckte Anna vor einer großen Auslage Handschuhe; sie probierte gerade ein Paar an, als er zu ihr stieß. "Wie findest du die?" Sie spreizte ihre Finger der rechten Hand. Dabei kam das Preisschild und der Markenname mit der Aufschrift "Handmade in Bangladesh" zum Vorschein.
"Winterhandschuhe, hergestellt in Bangladesh?" dachte Bruno und schüttelte den Kopf, sagte aber: "ganz schön!" und war über seine Aussage selbst irritiert.
Anna hatte ihre blonden Haare hochgesteckt, sodass die Konturen von Hals und Nacken deutlicher sichtbar wurden, und Bruno bemerkte den sanften Haarflaum im Verlauf ihrer Halswirbelsäule.
Seit einem Jahr waren sie ein Paar, sie hatten sich auf einer Vernissage kennen gelernt. Er hatte sich damals nach mehreren Gläsern Sekt, wie man so sagt, ein Herz gefasst, und die schöne Blondine aus Tschechien angesprochen, die ein Praktikum in der Werbeabteilung absolvierte, in welcher er als Grafiker arbeitete. Im Nachhinein wunderte er sich über seinen damaligen Mut, als er passend zum Ausstellungstitel: "Menschen – Gestalten", Anna ansprach, und ihr mit einem Silberblick das Rätsel der Sphinx vortrug:
„Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig. Von allen Geschöpfen wechselt es allein mit der Zahl seiner Füße; aber eben wenn es die meisten Füße bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit seiner Glieder ihm am geringsten."
Anna kannte des Rätsels Lösung – den Menschen in seinen verschiedenen Entwicklungsstufen – nicht. Dennoch imponierte ihr dieser schlaksige und zurückhaltende Künstlertypus, der in seiner Freizeit Graphic Novels illustrierte, gerade wegen dieses offensichtlichen Widerspruches. Es schien etwas zu geben im Wesen dieses Mannes, was sie dazu zwang, Konzepte über Bord werfen zu müssen, von denen sie eine Menge besaß.
Anna ging zur Kasse, Bruno staunte mit hinter seinem Rücken verschränkten Armen über die Fußballkunststücke der Bundesligaprofis.
Draußen hatte es zu schneien begonnen. Anna streifte sich ihre globalisierten Handmades über und schlug den Fahrtweg zu "Vine and Veg" ein, Bruno folgte ihr.
Auf halber Fahrtstrecke hielt Anna an. "Die Handschuhe taugen nichts. Lass uns zurückfahren und sie umtauschen." Bruno wagte zu entgegnen: "Bitte, Anna, lass uns weiterfahren, ich habe Hunger, wir können sie auch morgen noch umtauschen."
Ohne Kommentar machte Anna kehrt. Bruno stieß leise einen Fluch aus und fuhr hinter ihr her. Wie Eisnadeln traf ihn der Schnee im Gesicht, das zu glühen begann.
Als sie am "Sport-Dom" ankamen, leuchtete dieser überirdisch in einem lila Ton, welcher sich nach oben hin in ein strahlendes Weiß auflöste.
Anna drückte Bruno die ökonomische Alternativlosigkeit in die Hand und sagte knapp: "Tausch sie um!"
Bruno wagte in diesem Moment nicht zu widersprechen und tat wie ihm geheißen.
Innen war die Hölle los. Noch mehr Menschen drängten sich um die Waren, jeder schien für sich zu sein, in seinen Gedanken, in seiner Welt.
Bruno musste anstehen, warten, was ihn körperlich strapazierte. Sein Gesicht brannte, Hitze stieg vom Sacrum über die Wirbelsäule bis hinauf zum Kopf. Schweißperlen bildeten sich auf der Stirn, den Schläfen, im gesamten Rückenbereich. Er schmorte im eigenen Saft.
Als er nach unsäglich zermürbend langer Zeit endlich an der Reihe war, sagte er zu der Verkäuferin an der Kasse: "Hier, dieses Produkt hält nicht, was es verspricht, ich möchte es umtauschen."
Die Angestellte erwiderte monoton: "Ausverkaufsware ist vom Umtausch ausgeschlossen!"
Bruno konnte ihre Augen, die durch ihre herabhängenden Lider fast gänzlich verdeckt waren, kaum erkennen. Eine erneute Hitzewallung durchflutete seinen Körper und er drehte sich um und ging Richtung Ausgang.
Er sah Anna durch die Glastür, wie sie mit verschränkten Armen unter dem großen Vordach wartete. Durch die Lichteffekte wirkte sie märchenhaft, wie eine Schneekönigin.
Bruno schien im Fieberdelir, als er nach draußen kam und nur noch unzusammenhängende Sätze stammeln konnte. Anna entriss ihm die Handschuhe und ging aufrecht und mit offenem Haar an der wartenden Menschenmenge vorbei.
Sie zwängte sich an der Kasse vor die erste Kundin, die zwar empört protestierte, wie einige andere in der langen Schlange auch, ihre körperliche Präsenz und ihr Wille strahlten aber eine Art Magie aus, die ein Schweigen und eine gespannte Stille hervorrief, die sich sogar auf die Fußballspieler auswirkte, die bei ihren Kunststücken eine Pause einlegten.
Anna legte der Verkäuferin die Handschuhe auf die Computer-Tastatur und sprach laut und deutlich mit ihrer Sopran Stimme, dass das Produkt irreführend sei und sie der Marke vertraut habe, sie wolle auf der Stelle ihr Geld zurück.
Die Angestellte mit den herabhängenden Augenlidern schien von Anna völlig unbeeindruckt zu sein und erklärte ihr mantraartig und zugleich sachlich, wie schon zuvor Bruno, dass Schnäppchenware vom Umtausch ausgeschlossen sei und dass sie außerdem bitte auf die übrigen Kunden Rücksicht nehmen solle.
"Ich werde so lange hier stehen bleiben, bis ihr Geschäftsführer kommt und mir diesen Fake hier umtauscht", antwortete Anna mit durchgedrücktem Rücken.
Die Untergebene nahm das Dienst-Handy und sagte nüchtern: "Herr Schweizer, hier gibt es Schwierigkeiten mit einer Kundin, würden Sie bitte gleich mal an Kasse Zwei vorbeikommen?" und in tonloser Folge zu Anna gewendet: "Würden Sie jetzt bitte zur Seite treten und hier nicht weiter den Ablauf stören!"
Das Gefühl des Nicht-Wahrgenommen-Werdens triggerte in Anna noch mehr Widerständigkeit und Kräfte. Ihre Lippen verdünnten sich zu einem Strich und ihre Pupillen fokussierten zu einem Laserstrahl. Sie atmete tief ein und sprach:
"Wir werden hier schön in aller Ruhe warten, bis der Herr Schweizer kommt und sich selbst von dem Plunder überzeugen kann".
Der Leiter des Sportgroßmarktes kannte offenbar seine Mitarbeiterin und wusste, wenn diese um Unterstützung bat, dass etwas am Brennen war. Flink wie ein Wiesel und vermutlich mit ebensolcher Schläue und Unbarmherzigkeit versehen, kam er mit seinem langen muskulösen Oberkörper und den eher zu kurzen Beinen die Marmortreppe herabgeflogen. Er trug einen eleganten schwarzen Anzug mit lila Krawatte, dunkle Kurzhaarfrisur und auf einem Namensschild über seinem Herzen stand die Aufschrift: "Schweizer".
Bruno, der sich zwischenzeitlich abgekühlt und etwas erholt hatte, war hereingekommen und sah die Menschenmenge, an deren vorderster Front Anna stand, mit dem Stoff des Anstoßes gestikulierend, ihr gegenüber ein smarter, gut gekleideter Manager-Typ, mindestens einen Kopf kleiner als sie.
In sicherem Abstand hörte er ihre hohe und fordernde Stimme und einige deutliche Wörter wie "Mangelware", "Markenversprechen", "Umtausch".
Er bewunderte sie und empfand gleichzeitig eine innere Leere, die ihn erschreckte und die nicht nur mit seiner Angst etwas zu tun hatte.
Anna ging mit dem Manager nun um die Ecke, womöglich war er kulant und machte eine Ausnahme. Als sie nach etwa 10 Minuten zum Ausgang kam, hatte sie ein anderes Paar Handschuhe. Sie waren lilafarben und aus einem Thermokunstgewebe gefertigt.
Für einen Augenblick schauten sie sich an. Anna war leicht errötet.
Bruno dachte: "Wir kennen uns nicht wirklich", und sagte: "Lass uns nach Hause fahren".
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://www.rubikon.news/artikel/gemeinsam-verandern-wir-die-welt
(2) https://www.rubikon.news/kolumnen/leser-aktion
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