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Der kleine Bruder

Der kleine Bruder

Sandra Kristin Meier kreierte in ihrer dystopischen Satire „Karl — 2050“ einen Protagonisten, der wie ein Verwandter von Winston Smith aus Orwells „1984“ wirkt.

In einer nicht allzu fernen Zukunft, in der ein totalitärer Staat sogenannte „Nachtmaskenvergehen“ unnachgiebig ahndet, macht sich der linientreue Karl dieses Vergehens schuldig. Er wird in ein Erntelager auf die Spargelfelder nahe der Hauptstadt des nicht mehr „Staat“ sondern „Siedlungsgebiet“ bezeichneten Landes deportiert und lernt dort die Dissidentin Rita kennen. Und obwohl das System diktatorischer Repression Karl in diese Lage gebracht hat, er also allen Grund hätte, sich einem wie auch immer gearteten Widerstand anzuschließen, verrät er Rita, um sein Sozialpunktekonto wieder aufzuladen, das durch sein Vergehen nichtig geworden ist. Karl möchte sich schon lange einen Urlaub verdienen. Aus Liebe entführt Rita ihn in eine Parallelwelt, in der seine Existenz jedoch zum Scheitern verurteilt ist.

Worum geht es wirklich?

Der Untertitel — Satirische Dystopie — verrät den Zungenschlag des Textes. „Satire darf alles“, wird in Meiers Text bis zum Exzess ausgereizt. Diese gängige Formulierung dient als Argument, wenn es um Äußerungen geht, die Widerspruch erzeugen. Hier wird niemand verschont: Staatsgläubige, Critical-Race-Aktivisten, Genderfanatiker, ideologische Kriegsgewinnler, Denunzianten. Im Protagonisten selbst sind all diese Eigenschaften angelegt, die, je nach Situation und zu erwartendem Vorteil, jederzeit ausbrechen können.

Meiers Text bedient sich vieler Rückgriffe auf die Geschichte des Totalitarismus des 20. und 21. Jahrhunderts in Deutschland. Dass George Orwell dabei Pate gestanden hat, ist mehr als offensichtlich. Aber die Autorin will das auch gar nicht verheimlichen. Meier versteht es durch diese manchmal etwas angestrengte Direktheit, das Versprechen des Untertitels einzulösen. Wie bei Orwells „Großem Bruder“ ist die „Große Führerin“ gesichts- und namenlos.

Die Autorin verweist allerdings auch deutlich auf eine Vergangenheit, die, aus Sicht der Zukunft, unsere Gegenwart ist. So tragen U-Bahn-Stationen beispielsweise Namen wie „Lothar-Wieler-Straße“ oder „Claudia-Roth-Brücke“.

Es gibt einen nie in Betrieb genommenen Großflughafen. Es ist von aus der DDR entlehnten Institutionen wie FDGB und HO die Rede, von Abschnittsbevollmächtigten und MedPunkt, von Institutionen wie dem Blockwart und der Schutzstaffel, die von den Nationalsozialisten implementiert wurden, von „Feindsender abhören“, aber auch von Erfindungen der Near Future: Roboterhunde und Überwachungsdrohnen.

Daneben tummeln sich allerhand Gestalten, die plötzlich auftauchen und ebenso schnell wieder verschwinden. Die losen Enden in der Erzählung, die dabei wie Störfaktoren im Textraum zurückbleiben, wirken wie eine Irritation, wie Stolperdrähte, die keinerlei Funktion zu haben scheinen. Sie sind — leider — nicht einmal ein Kontrapunkt. Kleine Nebengeschichten, wie beispielsweise riesige, durch die Regierung genetisch radioaktiv veränderte Ratten in einem geheimen U-Bahnschacht, oder der der Science Fiction entlehnte Riss im Raum-Zeit-Kontinuum, wirken hin und wieder etwas zu bemüht.

Die Autorin hält der Jetzt-Zeit einen Zerrspiegel vor, indem sie die Handlung in eine Zukunft verlegt, in der jede zwischenmenschliche Empathieregung sanktioniert wird, genauso wie in „1984“.

Das Mittel der Verfremdung, der Historisierung gestattet es der Autorin, lakonisch überbordende Ängste zu artikulieren. Meiers Sprache ist einfach, aber genau deswegen auch so effektiv. Wie Kinder im Dunkeln oft singen und damit versuchen, die Dämonen zu vertreiben, singt die Autorin ein Lied, in dem diese Dämonen allerdings einen zentralen Platz einnehmen. Die Erzählung ist böse, wie Satire nun mal zu sein hat: Was wäre tatsächlich, wäre es wahr, würden Befürchtungen und Ängste zu einer Gesundheitsdiktatur führen. Folgt man dem Gedankenspiel, wird man sehr schnell in einen Abwärtsstrudel gezogen, durch dessen Gurgeln immer wieder explosives Lachen zu brechen vermag.

So absurd dieses Spiel, so übertrieben die Darstellung einer Gesellschaft erscheinen mag: Immer wieder schimmern reale Vorgänge unter der Maske dieser Absurdität hervor. Wenn Karl beispielsweise in seinem Homeoffice sitzt und sich, wie Winston Smith, darüber Gedanken macht, welche Vergangenheiten noch zu tilgen wären, welche Kinderbücher neu geschrieben und welche Straßennamen aufgrund „verfeinerter historischer Bewertungen“ umbenannt werden müssten. Die Konstituierung einer immerwährenden Gegenwart.

Böses Erwachen

Im zweiten Teil des Buches eröffnet sich dann durch Rita, die sich als ein Mitglied des Widerstandes entpuppt eine gänzlich andere Welt, die tatsächlich einen Kontrapunkt zur Tristheit der offiziellen Existenz setzt: Sie entführt Karl aus Liebe gewaltsam in ein Paralleluniversum. Diese Welt, die sich die Autorin aus dem Schlusskapitel des Romans „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury geborgt hat, wirkt wie eine Erlösung. Meier gelingt es, durch Änderung der Tonalität hier einen Gegenentwurf zu schaffen, der die Satire trotzdem fortzusetzen vermag. Die Sprache wandelt sich zu einer Blumigkeit, in der sogar Reime Platz finden.

Göttliche Fabelwesen bevölkern die Szenerie, die Namen der Figuren scheinen aus der Nibelungensage entsprungen zu sein. Man bewegt sich auf Pferden fort und trinkt in urigen Kneipen starkes Bier. Man wünscht sich vielleicht, dass die gänzliche Abwesenheit der Zivilisation, wie man sie im ersten Teil des Textes erleben musste, den Helden in einen Konflikt stürzt und er zu zweifeln beginnt. Denn angesichts der Tatsache, dass er quasi ein Gefangener der Rebellen ist, müsste sich doch sein anerzogener Opportunismus durchsetzen, und er könnte sich der neuen Lebenssituation anpassen. Seine Indoktrination durch sein bisheriges Leben kann er allerdings nicht mehr auflösen. Er stolpert durch diese „Neue Welt“ wie eine Maschine, deren Programm sich nicht überschreiben lässt.

Wäre eine Wandlung für Karl vorteilhaft? Es bleibt zu bezweifeln. Es gab immer Menschen, deren Biografien durch den Untergang von Diktaturen — nationalsozialistischen, kommunistischen oder anderen — gebrochen wurden und deren weiteres Leben aus Anpassung bestand, wodurch sie aber nicht glücklich wurden. Und es gab Menschen, die sich dieser Anpassung verweigerten, weil dadurch ihr bisheriges Leben und all ihre Überzeugungen jeden Sinn verloren hätten. Die vielen Stasimitarbeiter und „Inoffiziellen Mitarbeiter“ — IMs — der untergegangenen DDR, die dem repressiven System nachtrauern, mögen dafür ein beredtes Beispiel sein.

In der Schlüsselszene des Romans — Schlüsselszene deshalb, weil hier der satirische Tonfall gänzlich fehlt — hält bei einer Zusammenkunft der Bewohner des Paralleluniversums, die „Hinübergehenden“ genannt, ein Psychiater eine Rede, die unmittelbar auf das Anliegen des Textes verweist:

„Unter der Oberfläche treffen wir auf die Sedimente der kognitiven Dissonanz und der Feldabhängigkeit sowie auf das Problem der Normopathie. Das bedeutet so viel wie Überanpassung, das heißt Anpassung über das gesunde Maß hinaus. Wir reden hier von einer psychischen Störung, die ja die normative Wahrnehmungsbeschränkung sowie den vorauseilenden Gehorsam im Schlepptau führt. (…) Das heißt, die davon befallenen Personen verweigern sich der Wahrnehmung der Realität, deren Komplexität sie geistig überfordert, und betrachten andere, die es ihnen nicht gleichtun, intuitiv als sich selbst überlegen und damit als Feinde, die es zu bekämpfen gilt, weil sie über das Mittelmaß, das man selbst verkörpert, herausragen. Hier versteckt sich ein Element der Bosheit. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.“

Der Roman kommt dann relativ schnell zu seinem Ende, wie Karls Leben, wobei Sandra Kristin Meier das damit einhergehende satirische Pathos in der Tat noch ein bisschen über die bisher gezogene Grenze hinaustreibt. Der Text endet mit einer auf zwei Zeilen eingedampften Liebesgeschichte zwischen Rita und einem Mann, dessen Namen Programm ist: Anders. Mit einem wortwörtlichen „Happy End“ entlässt die Autorin den Leser. Wie gesagt, Satire darf alles.

Die Ausstattung des Buches ist auffällig schlicht. Der gelungene Satz macht das Lesen mühelos, wenn auch insgesamt zu viele Leerzeilen einzelne Passagen voneinander trennen, aber das ist Geschmacksache.


„Karl — 2050“, 120 Seiten, erschienen bei Books on Demand, gedruckt 5,99 Euro, als E-Book 3,99 Euro; beispielsweise hier, aber auch in jedem Buchladen zu bestellen.


Quellen und Anmerkungen:

Von Daniel Anderson ist neu verlegt: Der Unterhosenstreik, Spielbergverlag, siehe hier.


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