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Der Krieg in uns

Der Krieg in uns

Solange es Hierarchien gibt, wird es auch Kriege geben.

Unverständnis und Unbehagen begegnen der russischen Intervention in der Ukraine. Wie kann es sein, dass wieder Krieg in Europa herrscht? Wie kann der böse Putin einfach in ein anderes Land einfallen, mit Gewalt seinen Willen durchsetzen, Menschen töten lassen? Die Reaktion ist verständlich. Krieg ist eine grausame, unmenschliche Angelegenheit, in der es keine Gewinner gibt. Und doch sind die Reaktionen heuchlerisch, denn wo war die Solidarität, als Saudi-Arabien in einer Koalition mit den USA in den Jemen eingefallen ist? Haben wir Flaggen des Jemen in unsere Fenster gehängt? Haben wir Solidaritätskundgebungen veranstaltet? Wo war die Solidarität, als die NATO Belgrad bombardiert hat?

Auch der Krieg im Sudan früher in diesem Jahr fand und findet nicht die allgemeine Aufmerksamkeit, die ein Massensterben von Menschen verdienen sollte. Dabei handelt es sich auch hier um einen Stellvertreterkrieg zwischen West und Ost, unter dem die Menschen leiden müssen. Der äthiopische Bürgerkrieg, der im Jahr 2020 begonnen hat und bei dem allein im ersten Jahr bis zu 500.000 Menschen gestorben und bis zu 2 Millionen in die Flucht getrieben sein sollen, findet ebenso wenig Beachtung. Auf fünf von sieben Kontinenten finden derzeit Kriege und bewaffnete Konflikte statt. Kriege gibt es überall auf der Welt immer wieder, und jeder einzelne ist ein multiples Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Dennoch ist Krieg leider noch immer das Mittel der Wahl, um Interessen durchzusetzen. Sei es das Interesse, die eigene Religion in der Welt zu verbreiten, wie nicht nur der Islam es in Teilen heutzutage tut, sondern wie es auch die christlichen Kirchen über Jahrhunderte getan haben, seien es machtpolitische oder wirtschaftliche Interessen. Gewalt ist allgegenwärtig und steckt dem Gesellschaftssystem, in welchem wir im Westen leben, tief in den Knochen. Gewalt dominiert die menschliche Geschichte der letzten Jahrtausende. Sie kommt immer dann zum Einsatz, wenn Einzelne oder Gruppen sich auf Kosten anderer etwas nehmen wollen, das ihnen nicht gehört, Macht ausüben und andere unterwerfen wollen. 1,6 Millionen Menschen sterben jedes Jahr aufgrund von Gewalttaten. Die Gewalt in der Ukraine ist daher nichts Außergewöhnliches, sondern leider traurige Realität in allen menschlichen Gesellschaften.

Gewalt ist das Brechen eines entgegenstehenden Willens. In diesem Sinne findet Gewalt heute ständig und überall statt.

Innerhalb von Gesellschaften findet sie in Form von Straftaten statt. Raub, Mord, Totschlag, Vergewaltigung — Gewalt beherrscht jede Gesellschaft, manche mehr, manche weniger. Auch Staaten regieren mit Gewalt, und zwar alle Staaten. Sie brechen den entgegenstehenden Willen ihrer Bevölkerung mittels Androhung von Strafen oder mit tatsächlicher Bestrafung bei Zuwiderhandlung. Sie nötigen der Bevölkerung Gesetze und Regeln auf, die sich ein normaler Mensch niemals freiwillig geben würde, pressen ihr Gelder ab und zwingen sie zu erwünschten Verhaltensweisen.

Was in innerstaatlichen Angelegenheiten recht und billig ist, das kann auch in zwischenstaatlichen Angelegenheiten nicht falsch sein, so ist wohl die Einstellung, und so werden die Verhältnisse im Inneren nach Außen projiziert. Wenn ein Staat sich einem anderen nicht unterwerfen, seine Ressourcen nicht billig an diesen abgeben, sich nicht militärisch einkreisen lassen oder Gebiete abtreten will, dann greifen Staaten auch im Außen ganz schnell zu Gewalt. Dabei spannen sie dann ihre eigene Bevölkerung ein, die sich, ob sie will oder nicht, mit der Sache des Staates oder der herrschenden Oligarchie gemein machen und sich für diese opfern soll. Sie soll sich dann in fanatischem Nationalismus, in fanatischer, moralischer Überheblichkeit bereit erklären, für die Interessen ihres Staates oder der jeweiligen Oligarchie zu sterben oder sich zumindest nicht dagegen wehren. Krieg ist das Mittel der Wahl in zwischenstaatlichen Angelegenheiten.

Gewalt, überall

„Solange es Schlachthöfe gibt, wird es auch Schlachtfelder geben“, wird Leo Tolstoi zitiert, jener Autor des großen Werkes „Krieg und Frieden“. Heute gibt es mehr Schlachthöfe als jemals zuvor. 2.500 Hühner sterben jede Sekunde weltweit, hingerichtet in grauenhaften Massenschlachtanlagen. Dasselbe widerfährt jede einzelne Sekunde 46 Schweinen, 91 Enten, 9 Rindern und 1.205 Zuchtfischen. Bis zu diesem Zeitpunkt haben die wenigsten von ihnen jemals das Tageslicht gesehen. Stattdessen lebten sie zusammengepfercht in engen Ställen oder Wasserbecken; als Waren, als Gegenstände betrachtet, werden sie lediglich gerade noch am Leben erhalten und so gefüttert, dass sie schnell wachsen und Fleisch ansetzen. Hähne, die nicht für die Eierproduktion in Frage kommen, werden massenhaft geschreddert und zu Tiermehl verarbeitet, weil ihnen keine wirtschaftliche Bedeutung beikommt.

Tiere haben in dieser Gesellschaft lediglich als putzige Haustiere ein gewisses Maß an Rechten. Alle anderen leben als ausbeutbare Ressource oder als lästiger Plagegeist. Sie werden mit Gewalt behandelt, werden massenhaft getötet und unwürdigen Bedingungen ausgesetzt.

Nicht anders ergeht es den Pflanzen. Ganze Wälder werden gerodet, um Farmen, Viehweiden, Fabriken, Straßen, Gewerbegebieten und Flughäfen zu weichen. Sümpfe und Moore werden trockengelegt, damit das Land menschlichen Zwecken dienen kann. Die Ozeane werden mit riesigen Schleppnetzen leer gefischt und als Müllhalde verwendet. Um Rohstoffe zu gewinnen, reißt der Mensch die Erde auf, gräbt sie vollständig um und verpresst giftige Schlacke in die Erdkruste, um selbst noch das letzte Tröpfchen Öl aus ihr herauszusprengen.

Die gewonnenen Ressourcen werden dann abtransportiert und in Fabriken verbracht, wo sie unter unglaublichem Energieaufwand umgewandelt und in verschiedene Formen gebracht werden. Dabei werden Giftgase, Abwässer und Abfälle freigesetzt, die wieder in der Welt endgelagert werden. Der Mensch greift so sehr in die Welt ein, dass er mittels Rodungen, Raubbau am Wasser, Trockenlegung von Sümpfen, Begradigungen von Flüssen und dem Verlegen von Asphalt und Beton mittlerweile das Wetter verändert, Lebensräume ganzer Arten ausgelöscht und massenhaft Tierarten zum Aussterben gebracht hat.

Auf den Äckern geht die Gewalt weiter. Der Boden wird mit Gewalt umgegraben, gedüngt und riesige Monokulturen angepflanzt. Diese werden mit Pestiziden bombardiert, damit alle Insekten, die wir als Schädlinge betrachten, zugrunde gehen und die Pflanzen auf keinen Fall anrühren. Dass das Gift in den Pflanzen zurückbleibt und sich damit auch auf den Menschen auswirkt, der es verspeist, wird dabei stets ausgeblendet. Pestizide wiederum sind ein Produkt der Kriegswirtschaft. Während des Ersten und Zweiten Weltkriegs hat die Chemieindustrie eine unglaubliche Kreativität an den Tag gelegt, Mittel zu entwickeln, die Menschen töten. Als die großen Schlachten vorbei waren, mussten neue Absatzmärkte her. Was gegen Menschen wirksam ist, kann auch gegen Insekten wirksam sein, so dachte man sich und begann damit, dieselben Mittel, die wenige Jahre zuvor noch in den Schützengräben Soldaten zu Tausenden hingeschlachtet hatten, auf den Äckern auszubringen.

Die Mittel des Krieges wurden in die Landwirtschaft gebracht. Das beschreibt den Umgang der Menschen mit der Natur nur allzu gut. Er führt einen Krieg gegen sie, um sie sich Untertan zu machen.

Ihren entgegenstehenden Willen zu wachsen, sich zu entwickeln und zu verändern muss er dabei brechen, um sie zu ordnen, zu formieren, anzupassen und seinen Bedürfnissen zu unterwerfen. Die Folge davon sind Trockenheit in vielen Regionen der Welt, Wälder sterben, Sümpfe verschwinden, Tierarten sterben massenhaft aus, die Luft, die Wässer und die Böden werden immer verschmutzter und damit immer weniger dem Leben zuträglich.

Natur wird als Gegenstand, als bloßes Nutzungsobjekt betrachtet, das nur nach ökonomischen Gesichtspunkten optimale Verwendung finden muss. Dies ist jedoch nur die logische Fortsetzung menschlicher Anmaßung im kapitalistischen Gewand. Schon in der Bibel heißt es, der Mensch solle sich die Erde Untertan machen. Er hat es so verstanden, dass er Pflanzen, Tiere, Gestein und Erze unterwerfen und seinem Willen gefügig machen sollte. Er stellt sich selbst über die Natur, betrachtet sich als überlegenes, einzigartiges Geschöpf, das über den Rest herrschen darf. Statt Kooperation herrscht im Verhältnis zwischen Mensch und Natur also Gewalt. Diese geht auf die eingebildete Hierarchie zurück, in der sich der Mensch über alles andere stellt. Wo Hierarchie entsteht, da entsteht auch der Wille, diese im eigenen Sinne zu nutzen. Der Höherstehende will sich auf Kosten der anderen Vorteile verschaffen, ja, Gewalt ist eine direkte Folge von Hierarchie, die ausschließlich eine Einbildung ist. Denn nur wer sich anderen überlegen fühlt und darin noch eine gewisse Berechtigung, eine natur- oder gottgegebene Ordnung sieht, wird Gewalt gegen diese anderen einsetzen.

Was im Verhältnis zur Natur gilt, das gilt auch für das Verhältnis zwischen Menschen. Sobald Menschen angefangen haben, sich Hierarchien einzubilden, haben sie angefangen, diese mit Gewalt aufrechtzuerhalten oder noch auszubauen. Eine Hierarchie muss beständig mit Gewalt verteidigt werden. Das kann man in Staaten auch heute noch sehr gut beobachten. Die ganze staatliche Apparatur dient einzig dem Zweck, Hierarchien zu zementieren und gegen jede mögliche Erschütterung mit Gewalt abzuschirmen. Seien es „Reichsbürger“, die angeblich versuchen, den Staat zu stürzen, seien es Rebellen, die sich gegen die Gewalt dieses Staates zur Wehr setzen — gegen alle Gegner der herrschenden Ordnung muss der Staat mit Gewalt vorgehen. Staatliche Organe sind nicht am Wohlergehen der in diesem Staat lebenden Menschen interessiert, sondern einzig am Erhalt der staatlichen Strukturen, also einer angemaßten Hierarchie, und das mit den Mitteln der Gewalt. Die Staatsbürger oder besser: die Untertanen sind lediglich ein Feigenblatt und bilden zudem die auszupressende, zu beherrschende und zu unterdrückende Masse. Da kann sich der Staat noch so sehr als Demokratie bezeichnen, denn eine demokratische Wahl tauscht lediglich das Personal aus, ändert aber an den grundlegenden Strukturen überhaupt nichts. Allenfalls wird eine irgendwie geartete Rechtfertigung geschaffen, die dem Staat ein menschliches Antlitz verleihen soll.

Doch Rechtfertigung kann es nicht geben. Denn jeder würde zustimmen, dass Gewalt oder die Androhung von Geld- oder Gefängnisstrafe im zwischenmenschlichen Bereich nicht erlaubt ist. Wenn eine einzelne Person in regelmäßigen Abständen durch die Stadt gehen und jedem einzelnen Einwohner dieser Stadt unter Androhung von Gefängnisstrafe Geld abpressen oder giftige Injektionen aufnötigen würde und wenn diese Person bei Gegenwehr Waffengewalt zum Einsatz brächte, dann würden alle Umstehenden zu Recht sagen, dass diese Person dazu nicht das Recht hat. Wenn aber viele Menschen zusammenkommen und einen Staat bilden, dann soll plötzlich dieses Recht, das niemand für sich alleine hat, auf ein abstraktes Konstrukt übertragen werden können? Das ergibt keinen Sinn und ist lediglich ein Rechtfertigungsversuch für staatliche Gewalt. Staat ist dabei stets nur diejenige Mafia, die sich gegen alle anderen durchgesetzt hat. So wie es mit jeder Hierarchie ist.

Denn Hierarchie ist die Grundlage für jede Gewalt. Sei es der Mensch, der sich der Natur überlegen fühlt, der Mensch, der sich anderen Menschen überlegen fühlt, oder ein Staat, der sich anderen gegenüber überlegen fühlt und dies durchsetzen will. Sobald eine Hierarchie entsteht, beginnt die Gewalt.

Jahrtausende lang wurden Königreiche, Staaten, Kirchen begründet, hervorgegangen aus einer hierarchischen Ordnung, in der Einzelne oder Gruppen von Menschen über andere herrschten, diese Macht ausbauten, immer mehr Menschen unterwerfen und beherrschen wollten und natürlich auch von den Reichtümern profitierten. Hierarchie ist die Grundlage für jeden Krieg, für Kriminalität, für die Zerstörung von Mensch und Natur an allen Ecken und Enden der Welt. Und da Hierarchie überall ist, ist auch Gewalt überall. Gewalt ist also kein Ausnahmezustand, sondern gesamtgesellschaftliche Normalität.

Wer nun einwendet, dass all dies die ganz normale Geschichte des Menschen darstelle, dass der Mensch immer schon so gewesen sei, und dabei auf die Steinzeit verweist, in welcher sich schon Neandertaler und Homo sapiens bekämpft hätten, der begeht zweierlei Fehler. Zum einen stellt er den heutigen Menschen mit all seinen geistigen Fähigkeiten, dem eigenständigen, kritischen Denken, der Möglichkeit zu Besonnenheit und Bescheidenheit, zur Diplomatie und zur Diskussion auf eine Stufe mit als primitiv empfundenen Urmenschen. Er gibt also implizit zu, dass all die Zivilisation, die technischen Errungenschaften und gesellschaftlichen Entwicklungen im Grunde keinerlei Nutzen gebracht haben. Zum anderen baut er auf einem Klischee des Steinzeitmenschen auf, über den wir tatsächlich relativ wenig wissen. Der Einwand ist also wenig stichhaltig.

Weiterhin könnte man auf die Jahrtausende umfassende, geschriebene Geschichte verweisen, in der Kriege und Gewalt dominieren. Das römische Imperium hat immer wieder Kriege geführt und dadurch seine enorme Dimension erhalten. Alexander der Große, Attila der Hunnenkönig, Dschingis Khan, Napoleon Bonaparte und Hitler — all diese Menschen haben immer wieder zu Mitteln des Krieges und der Gewalt gegriffen und damit unsere Geschichte geprägt.

Die Geschichte menschlicher Zivilisationen ist also eine Geschichte der Gewalt. Gewalt scheint dem Menschen in die Gene geschrieben zu sein. Doch auch hier wird der Fehler begangen, die menschliche Geschichte auf eine eher kurze Epoche zu beschränken. Die vorgeschichtliche Zeit, aus der es keinerlei Aufzeichnungen gibt, wird dabei nicht einbezogen. Allenfalls wird die bekannte Geschichtsauffassung auf diese übertragen, und so geht man davon aus, dass auch zu der Zeit Krieg und Gewalt vorherrschend waren.

Dem muss aber nicht zwangsweise so sein: So deuten die Funde der Ausgrabungsstätte von Çatalhöyük in der heutigen Türkei auf etwas ganz anderes hin. In dieser Siedlung lebten in der Jungsteinzeit Hunderte von Menschen zusammen. Es gibt keine Hinweise auf Bauten mit besonderer Nutzung. Keine Kirchen, Tempel und Priesterbauten, keine Königs- oder anderweitige Herrscherhäuser. Mit anderen Worten: Es gibt keinen Hinweis auf Hierarchien in dieser Siedlung.

Zugleich gibt es, wie der Anarchist Horst Stowasser in seinem Werk „Anarchie“ beschreibt, keinerlei Hinweis auf Gewalt. Weder wurden Waffen noch Darstellungen von Kampf und Krieg gefunden, und auch die ausgegrabenen Skelette wiesen keinerlei Hinweise auf Gewalteinwirkung auf. Die Menschen lebten in dieser Siedlung über Jahrhunderte gleichberechtigt und friedlich nebeneinander. Statt Gewalteinwirkungen fanden die Forscher seltsame Verformungen der Becken- und Oberschenkelknochen, die nach allen Erkenntnissen nur eine Ursache haben können: exzessives Tanzen. Statt also in beständigem Kampf gegeneinander und im Wettbewerb miteinander zu stehen, haben die Menschen miteinander gelebt, gearbeitet, und exzessiv gefeiert und getanzt. Die Ausgrabungen deuten auf Jahrhunderte der friedlichen Lebensfreude hin, die nicht von Gewalt erschüttert wurden. Grund dafür ist die Gleichberechtigung aller Einwohner. Es gab schlicht keinen Herrscher, und er war auch nicht notwendig.

Menschheit ohne Gewalt

Man könnte dies jetzt als eine lustige Anomalie in der sonst von Hierarchie und Gewalt geprägten Geschichte des Menschen betrachten. Doch was wäre, wenn diese Zustände im weitaus größeren Teil der menschlichen Geschichte nicht die Ausnahme, sondern die Regel gewesen wären? Hinweise darauf, dass dem so sein könnte, gibt es viele: So ist zum Beispiel die Steinzeit nicht notwendigerweise von Kampf und gewaltsamer Verdrängung geprägt gewesen. Im Gegenteil, Neandertaler und Homo sapiens haben nicht selten gemeinsame Nachkommen gezeugt, anstatt sich zu bekämpfen. Das Aussterben des Neandertalers ist daher möglicherweise nicht das Ergebnis von Gewalt, sondern er könnte ebenso gut in einer neuen Menschenart, eben dem heutigen Homo Sapiens, aufgegangen sein.

Viele Hinweise für die Normalität herrschaftsfreier Gesellschaften in vorhistorischen Zeiten finden sich unter dem Schlagwort der Matriarchatsforschung. Matriarchat ist ein Begriff, der oft als Herrschaft der Frau missverstanden wird. In Wirklichkeit geht es vielmehr darum, dass Herrschaft insgesamt eine historisch eher neue Erscheinung ist, die uns in Kriege und Gewalt geführt hat, ebenso wie sie die Zerstörung der Natur vorangetrieben hat. Denn in einer herrschaftsfreien Gesellschaft dominieren Kooperation, Symbiose und Resonanz, also die eher weiblich konnotierten Aspekte. Das gilt nicht nur für den Umgang mit anderen Menschen, sondern auch mit der Natur. Kooperation mit Pflanzen und Tiere führt zu einer friedlichen Möglichkeit, die Bedürfnisse von Menschen, Pflanzen und Tiere gleichermaßen zu erfüllen. Erst der hierarchische Kampf erfüllt die Bedürfnisse Einzelner auf Kosten anderer. Und die Bedürfnisse der Natur werden heutzutage stets zuletzt wahrgenommen.

Wenn also in den langen Perioden der vorhistorischen Menschheit Frieden, Kooperation und Hierarchiefreiheit vorherrschende gesellschaftliche Modelle waren, dann muss sich im Laufe der Geschichte etwas Einschneidendes ereignet haben, das diesen nach wie vor erstrebenswerten Zustand beendet hat.

Was das sein könnte, liegt im Dunkeln. Es könnte sich um eine abrupte Klimaveränderung gehandelt haben, die den üppigen Reichtum der Natur rapide geschmälert hat, sodass Hunger und Not entstanden. Dieses Ereignis hat die Welt so nachhaltig verändert, dass die Menschen zu einer anderen Art des Lebens gezwungen waren. Diese Veränderung muss so nachhaltig gewesen sein, dass menschliche Gesellschaften noch heute, da diese Zustände längst überwunden sind, von ihnen geprägt sind.

Doch in einer schwachen Erinnerung an diese Zeit, die in das kollektive Unterbewusstsein der Menschheit eingepflanzt ist, hat der Mensch angefangen, sich nach dem Frieden und der Sicherheit von damals zu sehnen. In Kunst und Literatur hat er diese Sehnsucht zum Ausdruck gebracht, hat er immer wieder die schwache Hoffnung und das sichere Wissen geäußert dass alles auch ganz anders sein könnte. Er hat damit begonnen, technische Entwicklungen zu machen und in immer neue, ungeahnte Höhen zu treiben. Vom Rad zum LKW und zum Flugzeug, von der Wassermühle zum Windrad, Von der Pferdekutsche zum Elektromotor, vom Buchdruck zum Internet — der Mensch hat ein großes kreatives Potenzial entfesselt, um das verloren Gegangene auszugleichen. Als Kompensation für verlorenen seelischen und spirituellen Wohlstand hat er sich materiellen Wohlstand erschaffen, möglicherweise auch befeuert von der Erfahrung plötzlicher materieller Not. Er hat die Landwirtschaft industrialisiert und erzeugt Nahrungsmittel im Überfluss, er hat die Herstellung von Geräten industrialisiert und produziert mehr, als er eigentlich benötigt.

Diese aus einem Mangel hervorgegangenen und einem Sehnen entspringenden Erscheinungen, die einem Wahn gleichen, führen auf der Kehrseite zur enormen Zerstörung der Natur, mit der zu kooperieren der Mensch längst verlernt hat.
Aus der Not heraus hat der Mensch angefangen, Hierarchien zu bilden, und dadurch ein wahres Weltenmassaker entfacht. Doch wenn der Mensch zuvor lange Zeit friedlich und egalitär gelebt hat, dann steckt das Potenzial dazu noch immer in uns. Begraben unter Jahrtausenden des Traumas, der Kriege und der Gewalt, unter einem Berg von gegenteiligen Erfahrungen ist noch immer das Wissen, dass Frieden möglich ist, dass Gewalt eben nicht der Normalzustand ist, dass Macht nichts ist als eine Anmaßung Wahnsinniger und Hierarchien keine Berechtigung haben. Wenn diese Erfahrung und dieses Potenzial immer noch in uns ruhen, dann ist es auch möglich, sie zu aktivieren und auf ihnen eine friedliche Gesellschaft aufzubauen.

Wir können und müssen uns frei machen von den Erschütterungen der Gewalt der letzten 5.000 Jahre und zu einer egalitären und friedlichen Gesellschaft zurückfinden. Wir haben unseren Verstand für allerlei Nutzloses bis Tödliches gebraucht. Wir haben Panzer und Interkontinentalraketen ebenso entwickelt wie McDonalds, Selfiesticks und Smartphones. Wenn wir dasselbe kreative Potenzial dazu nutzen, eine friedliche und gleichberechtigte Gesellschaft ohne Macht und Hierarchie aufzubauen, die auf globale Kooperation setzt anstatt auf Kriege und Ausbeutung, dann haben wir eine reale Chance. Wir haben es mit dem Verstand geschafft, Möglichkeiten zu ersinnen, Hunger, Kälte und gewisse Krankheiten zu überwinden. Und auch wenn diese Möglichkeiten noch nicht allen Menschen zuteilwerden, so liegt das nicht daran, dass es nicht möglich wäre, sondern daran, dass es nicht gewünscht ist. Hunger und Kälte sind also keine Hindernisse mehr, keine Rechtfertigungen für Krieg und Herrschaft. Es ist genug für alle da, und wenn wir teilen, dann hat niemand mehr einen Grund, Kriege zu beginnen.

Denn Gewalt geht aus einem Gefühl von Mangel hervor. Dasselbe gilt für Habgier. Nur derjenige, der in sich kein Gefühl von Genügsamkeit hat, der beständig in einem Gefühl des Mangels lebt, braucht immer mehr von allem.

Dieses Gefühl ist im Kapitalismus allerdings zum beherrschenden Faktor geworden. Die Traumata der Jahrtausende des Krieges, des Leides und des Mangels haben diesen Kapitalismus hervorgebracht, der zu viel von allem produziert, und so ist er nur der vorläufige Höhepunkt eines auf Hierarchie und Gewalt basierenden Systems. Mit dessen Überwindung wird auch der verschwenderische, zerstörerische Kapitalismus verschwinden, und der Mensch kann zu einer Kooperation miteinander und mit der Natur zurückkehren.

Die einzige Frage, die sich jeder dazu noch stellen könnte, ist: Was kann ich dazu beitragen, um das System der Gewalt zu überwinden?


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