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Der Mensch in der Masse

Der Mensch in der Masse

Der Einzelne wird vom Weltgeschehen in den Dienst genommen oder umgeblasen wie von einem starken Wind — sich zu behaupten, ist unter diesen Umständen schwierig.

Ein Mensch, der unbekümmert von Moden eine lila Krawatte zum karierten Hemd trägt. Der im Gehen ein dickes Buch liest und in der anderen Hand einen Bleistift hält, um die wichtigen Stellen anzustreichen. Er ist mir tatsächlich begegnet, der Einzelne in der Menge. Er ist nicht unerkannt geblieben an diesem Morgen im Mai.

In seinem Erinnerungsbuch „Geschichte eines Deutschen“ beschreibt der Journalist und Autor Sebastian Haffner (1907 bis 1999) den Zustand geistiger und seelischer Isolation all derjenigen, die es nach 1933 nicht aufgegeben hatten, sich ihre eigenen Gedanken zu machen:

„Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, hat zum Gegenstand eine Art von Duell. Es ist ein Duell zwischen zwei sehr ungleichen Gegnern: einem überaus mächtigen, starken, rücksichtslosen Staat und einem kleinen, anonymen, unbekannten Privatmann. Mein privates Duell mit dem Dritten Reich ist kein vereinzelter Vorgang. Solche Duelle, in denen ein Privatmann sein privates Ich und seine private Ehre gegen einen übermächtigen feindlichen Staat zu verteidigen sucht, werden seit sechs Jahren in Deutschland zu Tausenden und Hunderttausenden ausgefochten — jedes in absoluter Isolierung und alle unter Ausschluss der Öffentlichkeit.“

Fallada, der Pferdekopf, der die Wahrheit spricht. Mein Lieblingsmärchen als Kind. Das Bild, mit Buntstiften ausgemalt, unzählige Male betrachtet und auf alle Zeit verinnerlicht. Wer sich nicht einschüchtern lässt, dem wird es übel ergehen. Die Botschaft des Märchens ist nicht verhandelbar.

„Sieh, was ist. Frag, wie es kam.“ Diese Zeile, unübertroffen in ihrer Lakonie, steht in einem Gedicht der Schriftstellerin Inge Müller, der es nicht gelungen war, ihre Kriegserlebnisse zu verdrängen und die, um ihre Todesfurcht endgültig zu besiegen, keinen anderen Ausweg sah, als sich das Leben zu nehmen.

So leicht entzündbar ist die Welt an ihren kleinen und großen, an jedem einzelnen ihrer Schauplätze. Man hätte es immer schon wissen können — und wusste es natürlich, wollte es aber lieber nicht wissen. Das Haus muss bereits in Flammen stehen, bevor die Menschen sich endlich bequemen, von ihren Sitzlandschaften aufzustehen. Es ist dann aber eigentlich schon zu spät, und was sie im besten Fall noch retten können, sind ihre nackten Leiber ohne Gedächtnis. Geschichte ist eine Erfindung und dass es aus ihr zu lernen gilt; ein rührender pädagogischer Imperativ, der, wie alle gut gemeinten Erziehungsmaßnahmen, unweigerlich ins Leere läuft.

Wir sind fasziniert, wenn es irgendwo brennt, und je näher das Feuer rückt, desto willenloser ergeben wir uns seinen Flammen. Endlich spüren wir wieder, was es heißt, lebendig zu sein.

Das Geheimnis schwebt nicht über den Dingen, sondern ist in ihrem Zellkern verborgen. Geht dieses Wissen verloren, ist der Mensch schon zu Lebzeiten tot, gestorben an den Verhärtungen seiner Seele. Es ist dann die Zeit der Kriegsbegeisterung, der Lust, dabei zuzusehen, wie alles zuschanden geht, der Lust, selbst zuschanden zu gehen.

Mein Vater, Jahrgang 1925, Sohn eines Berufsoffiziers, war Zeit seines Lebens ein glühender Verfechter alles Militärischen. Erst kurz vor seinem Tod hatte er mir, ohne äußeren Anlass, diesen Satz ins Ohr geflüstert: „Der Krieg ist die allergrößte Scheiße.“ Ein erstaunlicher Satz und ein ungewohnter Sprachduktus für einen Mann, der alle meine Freunde mit der stereotypen Frage begrüßt hatte, ob sie bereits „gedient“ hätten, und für den die Kriegsdienstverweigerung meines Bruders zu Beginn der 1980er Jahre die größte Schande gewesen war. Der Krieg ist die allergrößte Scheiße. Mit einem einzigen Satz hatte er, der mit siebzehn Jahren von der Schulbank in den Krieg geschickt worden war, praktisch sein gesamtes Leben widerlegt. Mit einem einzigen Satz hatte er sich vollkommen nackt ausgezogen. Da war er 93. Und wenig später tot.

Ein Satz des französischen Dichters Joë Bousquet, der sein Leben hinter geschlossenen Fensterläden verbracht hatte, nachdem er im Ersten Weltkrieg fast tödlich verwundet worden war: „Meine Wunde war lange vor mir, ich wurde geboren, um sie zu verkörpern.“

Dmitri Schostakowitsch schlief sein Leben lang mit einem Koffer unter dem Bett, der das Überlebensnotwendige enthielt für: wenn sie kommen würden, um ihn abzuholen. Doch was war eigentlich das Überlebensnotwendige?

Diese Frage würde er sich sein Leben lang gestellt haben, ohne je eine befriedigende Antwort darauf zu finden. Am Ende hatten sie nur mit ihm und seiner Musik gespielt, und er hatte ganz vergessen, was sich eigentlich in dem Koffer befunden hatte.

Der Postinspektor und expressionistische Dichter August Stramm (1874 bis 1915) hat in seinen Kriegsgedichten, die ich ins Italienische übersetzt habe, mit Sprache getan, was der Krieg mit Menschenleibern tut und was Patrick Baab in seinem jüngsten Artikel mit journalistischen Mitteln eindrücklich beschrieben hat: Was übrig bleibt, sind keine Gedichte mehr. Sondern amputierte Wörter und zerfetzte Verse. August Stramm, der vielleicht begabteste und sicherlich radikalste unter den deutschen Frühexpressionisten, hat die Literatur geopfert, um die Wahrheit nicht zu verraten. Als Letzter des von ihm kommandierten Bataillons fiel er, einundvierzigjährig, am 1. September 1915 beim Angriff auf russische Stellungen in einem Gebiet, das heute zur Ukraine gehört und in dem das Töten immer weiter geht.

Du hast den Krieg nicht mitgemacht. Das ist ein Satz, den ich in meiner Kindheit immer wieder gehört habe. Du hast den Krieg nicht mitgemacht. Das bedeutete so viel wie: Halt deinen Mund, denn du hast sowieso keine Ahnung. Krieg als Demarkationslinie. Dabei oder nicht dabei gewesen zu sein.

Und zwischen denen, die dabei gewesen waren, und denen, die nicht dabei gewesen waren, konnte es keine Verständigung geben. Dieses Dilemma vergiftete die Atmosphäre in meinem Elternhaus. Die unverarbeiteten Wunden des Krieges waren in einen Krieg der Generationen gemündet, der sich bald in stiller Verbitterung, bald in offener Wut entladen hatte. In meiner kindlichen Wahrnehmung waren die Erwachsenen Wesen von einem anderen Stern, mit denen es unmöglich war, in eine lebendige Beziehung zu treten. Ihre hilflosen Versuche, die Traumata der Vergangenheit durch Abschottung zu bannen, ließen die Erfahrungshorizonte der Eltern- und Kindergeneration so unvergleichlich erscheinen, dass die liebevolle und angstfreie Hinwendung, derer es bedurft hätte, um miteinander ins Gespräch zu kommen, unvorstellbar gewesen war.

Was den Alltag prägte, waren Missverständnisse und stiller Groll, der nicht nur das Gespräch zwischen Eltern und Kindern verhinderte, sondern auch diejenigen spaltete, die ihre Kriegserlebnisse, statt sie miteinander zu teilen, in eine Art Wettstreit verwandelten. Wen hatte es schlimmer getroffen? Wer durfte sich des Privilegs rühmen, am meisten gelitten zu haben?

Der Satz, der das Verhältnis meiner Mutter zu ihrer aus Schlesien stammenden Schwiegermutter ein für alle Mal besiegelt hatte, lautete: „Du hast nur deinen Vater verloren, wir aber haben unsere Heimat verloren!“

Ein abgründiges Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm ist Der Machandelbaum. Die Stiefmutter, die ihren Stiefsohn tötet, ihn in den Tränen der Schwester kocht und die Suppe dem Vater zu Mittag vorsetzt. Familienleben. Und fast nie kommt am Ende ein goldener Vogel geflogen. Es will einfach nicht alles gut werden.

Das Beste, was wir in unserer Lage und wahrscheinlich überhaupt tun können: Unverständliches in die Welt bringen. Etwas, das man nicht kaufen kann. Etwas, das niemand kaufen will.

Von meinem Großvater, dem Arbeiter und kommunistischen Stadtverordneten August Schrader (1906 bis 1943), haben sich nur wenige Spuren erhalten. Ein paar Gedichte, ein Essay über die Entstehung des Universums, die Mitgliedsbücher der politischen Vereinigungen, denen er bis 1933 angehörte, ein paar Feldpostkarten, einige wenige Fotografien und die Dienstbrille am Band, die ihm im März 1940 bei seiner ersten Einberufung ausgehändigt worden war. Sehstärke rechts 3,0, links 2,27 Dioptrien.

Es war dann, beim ersten Mal, sogar noch einmal gutgegangen, und er war, nach der Auflösung seines Bataillons, nach Hause zurückgekehrt. Seine zweite Einberufung im Sommer 1943 hat er nicht überlebt. Nach Stalingrad tauchte in den deutschen Großstädten immer häufiger der Schriftzug „1918“ an den Häuserwänden auf. So gelesen bei Victor Klemperer, dem unbestechlichen Chronisten seiner Zeit. Dieser Krieg war nicht mehr zu gewinnen gewesen. Das wussten diejenigen, die es wissen wollten, und diejenigen, die es nicht wissen wollten. Für die deutsche Wehrmacht ging es nunmehr darum, im Osten „verbrannte Erde zu machen“.

Ich stelle mir vor …

Aber nein.

Ich will mir die letzten Lebenswochen meines Großvaters im Grenzgebiet zwischen Russland und der Ukraine — das Töten geht immer weiter — nicht vorstellen. Die große Reise in die Eingeweide des Ostens. Die fremden Landschaften und die unaussprechlichen Namen. Das war nicht das Land, in dem die Zukunft blühte.

Es war Feindesland. Und was die Soldaten auf beiden Seiten erwartete, war ein sinnloses Kampfgeschehen, bei dem es keine Sieger und keine Verlierer gab, sondern nur Tote.

Fünf Millionen deutsche und dreizehn Millionen russische Soldaten haben im Zweiten Weltkrieg ihr Leben verloren.

Mein Großvater, ein deutscher Kommunist und Vater von drei Kindern, für den es keine realistische Möglichkeit gegeben hatte, sich seiner Einberufung zu entziehen, war einer von ihnen gewesen.

Davon, wie die Nachricht vom „Heldentod“ ihres Vaters zu ihnen gekommen war, hat meine Mutter immer wieder erzählt. Den Boten, einen Kriegsversehrten aus dem Ersten Weltkrieg mit einem Holzbein, hatte man schon von weitem kommen hören. Er hatte dann gar nichts mehr sagen müssen, als ihm schließlich die Tür geöffnet wurde.

Nach der Katastrophe, die das Leben auf der Erde ausgelöscht hatte, war es zu einer zweiten Schöpfung gekommen. Es waren aber nur noch Steine vorhanden gewesen als Material, und dem Schöpfer war es einfach nicht gelungen, die Spuren ihrer Herkunft zu tilgen. Ohnmächtig hatte er dabei zusehen müssen, wie allerlei harte Wesen, fest entschlossen, die Welt nach ihrem Ebenbild zu formen, in die anbrechende Menschheitsdämmerung davongestapft waren.

Wem nicht mehr zu helfen ist, dem wird am Ende geholfen werden. Dieser Satz stimmt manchmal — und meistens nicht. Wir haben aber keine andere Wahl, als uns gerade an ihn zu halten. Die Toten treiben uns voran. Sie wollen einfach nicht aufhören zu leben.


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