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Der Multikulti-Vorreiter

Der Multikulti-Vorreiter

Singapur integriert seine ethnisch vielfältige Bevölkerung ausgesprochen erfolgreich.

Die Maßnahmen der schwarz-roten Koalition zur Migrationswende stoßen nicht nur an den Brennpunkten auf Skepsis. An die Wirksamkeit der Zurückweisungen an den Grenzen glauben wenige, Grenzschutz und Bundespolizei sind überlastet. Die Kosten für Asyl und Bürgergeld steigen immer weiter und die politische Debatte über die Grenzen der Aufnahmefähigkeit bleibt so kontrovers wie ideologisch. Aus der rechten Ecke wird über Bevölkerungsaustausch oder „Umvolkung“ gemunkelt, Linke fordern ein Menschenrecht auf Asyl und Vollkasko-Humanität.

Dabei geraten in dieser komplexen Gemengelage die demographischen Gegebenheiten als die härtesten Fakten zu leicht aus dem Blickfeld. Die Geburtenraten sinken, die autochthone Bevölkerung schrumpft, aus Fachkräftemangel wird Arbeitskräftemangel, die Wirtschaft stagniert. In der Diskussion und vor allem in der administrativen Umsetzung wird zu wenig Gewicht auf die Möglichkeit und die Bedingungen einer sozialverträglichen Integrationsstrategie gelegt.

Inzwischen sind die meisten Länder Westeuropas bei einer Migrantenquote zwischen 15 und 20 Prozent angekommen, die Schweiz sogar bei fast 30 Prozent. Allerdings haben die Eidgenossen die Einwanderung deutlich pragmatischer organisiert als Deutschland. Eine Ghettobildung wurde gezielt vermieden, die Asylverfahren wurden beschleunigt, die Asylsozialhilfe ist knapp bemessen und besteht weitgehend aus Sachleistungen. Durch eine „Vorlehre“ wird die Aufnahme in den Arbeitsmarkt und in die duale Berufsausbildung erleichtert, und durch eine Reihe von Migrationspartnerschaften mit Entsendeländern wurde die Rückführung abgelehnter Asylbewerber erfolgreicher, um nur die wichtigsten Elemente zu nennen. Langfristig haben wir allerdings alle die gleichen Probleme: den Übergang von einer weitgehend homogenen zu einer multikulturellen Gesellschaft.

Wie sehr Integration und soziale Balance eine mühsame Daueraufgabe sind, kann man an der multi-ethnischen, multi-linguistischen und multi-religiösen Gesellschaft des Stadtstaates Singapur studieren. Asylanten werden nicht aufgenommen, aber zu den 4,2 Millionen Staatsbürgern kommen fast 2 Millionen Arbeitnehmer auf Zeit, auf allen Baustellen und bis in die Chefetagen der Firmen.

Multikulti wird zum Standard

Ob jemand Multikulti als nationale Katastrophe, Untergang der Kultur oder Bereicherung sieht, spielt eigentlich keine Rolle mehr. Ein Blick in das klassischste aller Einwanderungsländer, die USA, zeigt deutlich genug, dass aus dem „Schmelztiegel“ längst eine allgemein akzeptierte „Salatschüssel“ von Parallelgesellschaften geworden ist. Allerdings waren schon bei den riesigen Migrantenströmen im 19. Jahrhundert bestimmte Nationen alles andere als willkommen. Mafiosi aus Italien, Sozialisten aus Deutschland, verarmte Iren und später auch Juden waren suspekt, und Chinesen waren von 1882 bis 1943 per Gesetz ganz ausgeschlossen.

In Europa hat der Stimmungsumschwung von anfänglich auch privater Hilfsbereitschaft zu Angst vor Überfremdung und Kriminalität das politische Klima deutlich nach rechts verschoben. Auf dem Hintergrund kontroverser Debatten zwischen Untergang des Abendlandes und Gefährdung der Demokratie wird es immer schwieriger, die Probleme pragmatisch anzugehen.

So kritisiert es die Schriftstellerin, Journalistin und Filmemacherin Güner Yasemin Balci, seit fünf Jahren Integrationsbeauftragte in Berlin-Neukölln, wo sie als Tochter einer Gastarbeiterfamilie aufgewachsen ist. Sie brandmarkt vor allem das ideologische Wegsehen in Medien und Politik, die „Muslimen-bloß-nichts-zumuten-Haltung“, als Integrationshindernis und letztlich als Gefahr für die Demokratie.

Integration als Daueraufgabe

Als Singapur 1965 unerwartet von Malaysia in die Unabhängigkeit gestoßen wurde, stand neben dem wirtschaftlichen Überleben vor allem die Frage im Raum, wie die chinesische Mehrheit mit den malaiischen und indischen Minderheiten in Frieden auskommen könnte. In Malaysia wie in Singapur war es in den 1960er Jahren mehrmals zu Rassenunruhen zwischen Chinesen und Malaien mit Todesopfern und Verletzten gekommen. Singapur beschloss damals sehr bewusst, eine multiethnische Gesellschaft aufzubauen, die allen Gruppen faire Chancen bieten sollte. Ein nationales Gelöbnis, das schon in den Schulen jeden Morgen gesprochen wird, beginnt mit der Formel: „Wir, die Bürger Singapurs, geloben vereint zusammenzustehen, unabhängig von Rasse, Sprache und Religion.“

Singapurer jeglicher Herkunft kommen in der Schule, in der Armee oder am Arbeitsplatz in engen Kontakt. Die sprachliche Vielfalt wurde auf Malaiisch, Mandarin, Tamil und Englisch als Verwaltungssprache reduziert, amtliche Dokumente sind viersprachig. Der Stadtstaat wird in diesem Monat 60 Jahre alt und feiert am Unabhängigkeitstag, dem 9. August, seine Erfolge und seine multikulturelle Integration. Das ist vor allem deshalb verdient, dass diese Integrationsleistung nie als abgeschlossen galt, sondern als Daueraufgabe. Daher mag Singapur auch für Europa Anregungen liefern, wie man von den ideologischen Grabenkämpfen gegen oder für Multikulti zu einer zielführenden Debatte kommen kann. Denn ein Zurück zu ethnisch-kulturell homogenen Gesellschaften ist nicht mehr denkbar.

Das politische Instrumentarium

Eine Vielzahl von Regelungen und strategischen Ansätzen erwuchs aus der Grundüberzeugung, dass der Zusammenhalt einer multikulturellen Gesellschaft kontinuierlich gefördert und immer wieder nachjustiert werden muss. Die drei Säulen sind entsprechende Gesetze und Sanktionen gegen Missbrauch, klar definierte Integrationsinstrumente sowie die Förderung gemeinschaftsbildender zivilgesellschaftlicher Aktivitäten. Im Februar 2025 hat das Parlament diese Instrumente noch einmal zusammengefasst und als „Maintenance of Racial Harmony Bill“ verabschiedet. Alle Formen von Rassismus und Hetze sind im Strafgesetz definiert und werden von den Gerichten entsprechend sanktioniert.

Ein prominenter Fall erregte 2022 Aufsehen, als ein chinesischer Singapurer in der Innenstadt einem gemischten Pärchen vorwarf, dass die Liaison zwischen einem Inder und einer Chinesin eine Schande sei. Der Mann wurde zu fünf Wochen Gefängnis und einer hohen Geldstrafe verurteilt. Die gesellschaftlichen Konventionen werden indessen immer offener, die Zahl ethnischer Mischehen hat sich in den letzten Jahrzehnten mehr als verdreifacht.

Im religiösen Bereich ist Prävention besonders wichtig, weil die malaiische Minderheit ausnahmslos islamisch ist und die Konflikte im Nahen Osten intensiver wahrnimmt als andere Gruppen. Auch wegen der überwiegend muslimischen Nachbarn Malaysia und Indonesien nimmt die Politik dieses Thema besonders ernst, im Kabinett wird es durch einen Minister für muslimische Angelegenheiten vertreten. Die Selbstradikalisierung von Jugendlichen im Internet hat in den letzten Jahren mehrfach Alarm ausgelöst, aggressiven Predigern aus dem Ausland wird die Einreise verweigert. Interreligiöse Kontakte werden gefördert, die Geistlichen der zahlreichen in Singapur praktizierten Religionen kommen regelmäßig zusammen und organisieren Programme zum besseren gegenseitigen Verständnis mit ihren Gemeinden.

Sehr erfolgreich ist Singapur bis heute bei der Vermeidung ethnischer Enklaven. Weil fast 80 Prozent im subventionierten öffentlichen Wohnungsbau des Housing and Development Board (HDB) leben, konnte die ethnische Quotierung pro Haus oder Wohnblock administrativ gelingen. Eine beim Präsidenten angesiedelte Kommission überprüft alle Gesetze, ob sie diskriminierend sein könnten oder Minderheitenrechte verletzen. Das Gleichheitsgebot gilt für die Schulen, den Verwaltungsapparat, das Parlament und die Parteien, die Beschäftigungsbedingungen in der Wirtschaft und für den zweijährigen Wehrdienst für Männer, in dem sie besonders intensive Erfahrungen mit den anderen Gruppen machen.

Mit der „People’s Association“ (PA) unterstützt die Regierung massiv die sogenannte Graswurzelarbeit, die soziale Kohäsion und ethnische Harmonie fördert und als Bindeglied zwischen der Regierung und der Bevölkerung dient. Die PA ist eine typische „government-organized non-governmental organization” oder GONGO mit 2000 Graswurzelorganisationen, mehr als 100 Community Clubs und rund 2800 Mitarbeitern. 2024 betrug der staatliche Zuschuss 624 Millionen Dollar (419 Millionen Euro), hinzu kamen Spenden, Firmenpatenschaften und Einnahmen aus Veranstaltungen. Die Aktivitäten der PA erreichen einen großen Teil der Bevölkerung dort, wo es am bequemsten ist, in der Nähe ihrer Wohnung. Damit bieten sie den Politikern, die ohnehin durch wöchentliche Bürgersprechstunden nah am Puls ihrer Wähler sind, einen bequemen Zugang zum Austausch in beide Richtungen. Als Begegnungsplattform und Integrationsinstrument spielt die PA eine lohnende Rolle für die politische Kommunikation und als Echokammer für die Kommunalpolitik Singapurs.

Völlig „farbenblind“ ist die Singapurer Bevölkerung natürlich nicht. Es gibt immer wieder Vorurteile, die hinter vorgehaltener Hand kommuniziert werden, selbst bei den Kindern und Jugendlichen sind „separatistische“ Verhaltensweisen gelegentlich auffällig. Basketball spielen meist die Chinesen zusammen, die Inder spielen Cricket oder machen gemeinsame Yogakurse, die Malaien haben als Alleinstellungsmerkmal eine akrobatische Mischung aus Fußball und Volleyball mit einem kleinen Ball aus Rattan.

Aus historischen und vor allem administrativen Gründen hält Singapur an der Klassifizierung seiner Bürger als chinesisch, malaiisch, indisch und andere (meist Eurasier) oder Kaukasier (gleich Europäer) fest. Das klingt rassistischer, als es ist, aber die Debatte über eine Reform flammt immer wieder auf. Denn gerade auf den verschiedenen Interaktionsebenen der Gruppen wird deutlich, dass die ethnische Komponente weniger wichtig ist als religiöse und kulturelle Werte und Gewohnheiten. Es geht um Begegnungen von Mensch zu Mensch, und gerade da hapert es in Europa durch die Ghettobildung, Überforderung von Gemeinden bei der Zuteilung von Migranten und Asylanten und den daraus erwachsenden Urteilen und Vorurteilen auf beiden Seiten.

Das Beispiel Singapur zeigt, wie ein umfassendes Integrationskonzept helfen kann, entsprechende Einzelmaßnahmen zu planen und umzusetzen. Es zeigt auch, dass Wohnung und Arbeit für eine wirkliche Integration nicht ausreichen, sondern dass Kultur und Religion einbezogen werden müssen. Multikulti wird bleiben, aber die meisten Länder in Europa haben die Dinge zu lange schleifen lassen und improvisiert. Die Umstellung erfordert einen jeweils nationalen Kraftakt von höchster Priorität, der nicht durch parteipolitischen Streit sabotiert werden darf. Aber dauern wird es auf jeden Fall.


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