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Der stumme Frühling

Der stumme Frühling

Rachel Carsons Buchklassiker über den Einsatz von Pestiziden erschien vor 60 Jahren und ist noch immer höchst aktuell.

Stellen Sie sich eine Stadt im Herzen der Natur vor, in der alle Geschöpfe in Harmonie miteinander leben. Sie liegt inmitten blühender Farmen und Obstgärten, welche die Hänge der Hügel säumen. Im Frühling treiben Wolken weißer Blüten über die Felder, im Herbst leuchten Eiche, Ahorn und Birke in Farbenpracht. Füchse und Rotwild ziehen durch die Wälder, und der Gesang der Vögel, das Summen von Insekten liegt allüberall in der Luft. Gerne kommen Besucher hierher und erfreuen sich an der bunten Lebendigkeit, der wunderschönen Landschaft.

Doch dann verändert sich etwas: Das Vieh wird krank und stirbt, auch die Menschen leiden an seltsamen, bislang ungekannten Krankheiten. Auf den Feldern verdorrt das Korn, und die Obstbäume tragen keine Früchte mehr. Fuchs und Wild verschwinden, und nichts als Stille beherrscht alle Jahreszeiten. Die einstige leuchtende Farbenpracht weicht einem tristen Braun und Grau.

So ähnlich beschreibt die Biologin Rachel Carson im ersten Kapitel ihres berühmten Werkes „Der stumme Frühling“ ein fiktives Szenario, das sie „Zukunftsmärchen“ nennt. Sie betont, dass es zwar ausgedacht ist, jedoch einzelne oder mehrere dieser Phänomene an vielen Orten der USA bereits auftraten. Als Ursache hat sie dafür den seit dem Zweiten Weltkrieg begonnenen Gebrauch von Pestiziden ausgemacht; die Wichtigsten davon beschreibt sie im dritten Kapitel. Darunter finden sich Arsenverbindungen und chlorierte Kohlenwasserstoffe wie DDT, Chlordan, Dieldrin, Endrin, Aldrin und Heptachlor.

Diese, so erklärt sie, haben ihren Ursprung in der Forschung an chemischen Kampfstoffen verschiedener Länder im Zweiten Weltkrieg, und Carson verdeutlicht damit: Der Mensch befindet sich in einem Krieg gegen die Natur. Dies wird auch durch ihre Wortwahl unterstrichen, denn immer wieder schreibt sie vom „giftigen Sperrfeuer“ oder benutzt andere Begriffe, die dem Kriegsvokabular entnommen sind.

Die Wirkungen der Kampfstoffe in diesem Krieg gegen die Natur beschreibt sie auf wissenschaftlicher Basis. So erklärt sie die vielfachen Auswirkungen dieser Mittel auf den komplizierten menschlichen Stoffwechsel und arbeitet auch die Folgen heraus: Krebs, Nervenschäden, Tod — das sind nur drei der Ergebnisse, die dieser Angriff auf die Natur hervorbringt.

Immer wieder legt sie anhand von realen Beispielen das Zerstörungswerk des Menschen dar. So beschreibt sie etwa den menschlichen Versuch, die Mückenpopulation in einem See zu vernichten. Diese Mücken sind für den Menschen zwar vollkommen harmlos, weil sie ihn nicht einmal stechen; für die vielen Angler und Touristen aber waren sie ein Ärgernis. So hat die örtliche Behörde Chemikalien in den See geleitet und die Mückenpopulation vernichtet. Dabei sind in der Folge jedoch auch andere Tierarten getötet worden, sodass sich der Bestand an Vögeln und Fischen im See radikal reduzierte.

Selbst nachdem das Gift im Wasser nicht mehr nachweisbar war, reicherten sich weiterhin Gifte in den Fischen an. Der Grund: Angefangen beim Plankton, verbreitete sich das Gift in immer höheren Dosen die Nahrungskette hinauf, bis in den Fischen — und schließlich in den Menschen, die sie aßen — sehr viel höhere Konzentrationen gefunden wurden, als man ursprünglich in den See gegeben hatte. Auf diese Weise veranschaulicht Carson, wie die gesamte Nahrungskette betroffen ist. Die Gifte reichern sich im Fett der Lebewesen an und können dort lange Zeit unbemerkt schlummern, bis sie mit einem Mal — ausgelöst vielleicht durch Stress — freigesetzt werden oder sich über einen längeren Zeitraum hinweg Krebs entwickelt hat.

Anhand der Versuche, die Ausbreitung eines japanischen Käfers in den USA aufzuhalten, beschreibt Carson das Zerstörungswerk, das der Mensch nicht nur zum Ziel seiner Angriffe, sondern darüber hinaus in die ganze Natur bringt. Dieser Käfer, der an sich kein sonderlich bedeutsamer Schädling war, breitete sich über lange Zeit von den Oststaaten bis in den mittleren Westen aus. Dort erst kam man auf die Idee, ihn mithilfe großflächiger Besprühung aufzuhalten.

Ganze Landstriche und sogar Vorstädte wurden mit giftiger Chemie bombardiert. Die Behörden beruhigten die verängstigten Anwohner, es seien keine Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, denn der chemische Regen sei für Mensch und Tier nicht gefährlich. Nur wenig später starben die Vogelpopulationen, die dadurch in dieser Region faktisch ausgerottet wurden. Auch Eichhörnchen und andere Säugetiere fielen dem giftigen Regen zum Opfer, nicht zuletzt die Haustiere der Bürger. Der Vormarsch des japanischen Käfers konnte auf diese Weise nicht gestoppt werden.

Unvorhersehbare Folgen

Die Auswirkungen der Gifte machen aber nicht im unmittelbaren Anwendungsgebiet Halt. Eindrücklich beschreibt Carson, wie die Gifte durch die Erde ins Grundwasser sickern und sich auf diese Weise unterirdisch ausbreiten, sodass sie auch in Regionen nachgewiesen werden, die nie besprüht worden sind. Der ganze menschliche Wahn des Krieges gegen die Natur offenbart sich in der Unvorhersehbarkeit dieses Weges.

Zudem werden die Gifte nicht nur zu landwirtschaftlichen Zwecken oder zur Bekämpfung invasiver Arten angewendet. Auch Städte lassen die Grünstreifen an ihren Straßen besprühen und erzeugen dabei nichts als braune, tote Wüsten, wo einst blühende Landstriche waren. Jeder Eingriff in die Natur, so macht die Autorin deutlich, zieht unweigerlich zerstörerische Konsequenzen nach sich. Selbst wenn nur eine einzelne Art gespritzt und damit getötet wird, so hat das Auswirkungen auf das empfindliche Gefüge des Ökosystems.

Das beschreibt sie am Beispiel des Wermuts, der in einer Region der USA große Flächen bewachsen hatte und so Futter und Unterschlupf für viele Tiere, zum Beispiel bestimmte Gämsen- und Hirscharten, bot. Als die Gemeinde auf die Idee kam, dem Druck der Rinderzüchter nachzugeben und die großen Gebiete durch offenes Grasland zu ersetzen, besprühte man den Wermut großflächig und tötete ihn so ab. Dadurch nahm man vielen Arten jedoch auch ihre Futterquelle, und die Gämsen und Hirsche verschwanden. Dabei war das Gras unter dem Wermut eigentlich viel reichhaltiger gewachsen, da die Pflanzen die Feuchtigkeit banden. Eine reiche, vielfältige Natur musste einer menschlichen Monokultur weichen, und der Mensch setzte ein Zerstörungswerk mittels Gift in Gang.

Dieses hat auch Auswirkungen auf den Boden. Er bildet die Grundlage für jedes höhere Leben. Pflanzen, Tiere und Menschen sind auf ihn angewiesen und hängen in hohem Maße von den zahllosen dort lebenden Organismen ab. Nur sie ermöglichen überhaupt erst durch ihre Umwandlung von Stoffen, durch das Durchpflügen und Zersetzen des Bodens das Leben auf der Oberfläche. Doch auch diese Mikroorganismen werden durch Pestizide geschädigt und abgetötet, mit der Folge, dass der Boden stirbt und mit ihm das Leben auf seiner Oberfläche.

Immer wieder zeigt Carson die Zerstörung auf, welche der Mensch über die Natur bringt. Vor keiner Art macht der chemische Tod Halt. Vögel, Wasserlebewesen wie Fische und Krebse, Säugetiere, Pflanzen — alles starb in schier unermesslicher Zahl, sodass viele Tierarten an den Rand der Ausrottung gebracht oder tatsächlich ausgerottet wurden.

So kommt es, dass dort, wo einst im Frühling Vögel in Scharen brüteten, nach dem Gifteinsatz kaum noch welche anzutreffen waren. Dies ist der titelgebende „stumme Frühling“.

Rachel Carson weist auch darauf hin, dass ein Versagen der Behörden diesen Tod mit ermöglicht hat. Denn diese stuften den Einsatz der Gifte als unbedenklich ein, ohne auch nur entsprechende Forschungsergebnisse zur Unbedenklichkeit abzuwarten. Sie haben gleichgültig oder uninteressiert die Hinweise auf die Zerstörung ignoriert und, wenn überhaupt, lediglich die Empfehlungen für die Konzentration der Gifte gesenkt. Geld für die Forschung wird nur in lächerlich geringen Summen bereitgestellt, wohingegen das giftige Zerstörungswerk mit Unsummen staatlicherseits finanziert wird.

Alternativen

Dabei gibt es auch ganz natürliche Wege, das Vordringen bestimmter Arten oder den Befall mit Insekten aufzuhalten. So existieren beispielsweise Insektenarten, die sich auf Johanniskraut spezialisiert haben. Dieses hat sich in den USA lange Zeit ungehindert verbreiten können, da es aus Europa stammt und in den Staaten keine natürlichen Feinde hat.

Rachel Carson erzählt von der Idee, eine bestimmte Käferart aus Europa zu importieren und auszusetzen, die Johanniskraut befällt. Auf diese Weise konnte der ausufernde Bestand dieser Pflanze auf 1 Prozent reduziert werden. Auch der japanische Käfer wurde in den Oststaaten, lange bevor er in den Mittleren Westen gelangte, mit einer importierten Mikrobe bekämpft, die nur diesen einen Käfer tötet. Sie kann zudem jahrelang im Boden überleben und ein Vordringen des Käfers effektiv stoppen. Pestizide zu verwenden, ist überhaupt nicht notwendig.

Und auch nicht ratsam: Allein schon ihre Handhabung kann den Anwender irreversibel schädigen, und immer wieder führt Carson auch Beispiele von Menschen an, die mit den Giften in Berührung kamen und daraufhin starben. Kinder, die eine weggeworfene Verpackung finden, können bei bloßem Kontakt sterben. Zudem summieren sich verschiedene Gifte nicht einfach nur, sie reagieren miteinander und können unvorhersehbar ganz neue Stoffe bilden, deren Auswirkungen überhaupt nicht bekannt sind. Bereits die Reaktion mit Wasser und Sauerstoff kann zu solchen Veränderungen führen, wie die Autorin am Beispiel eines Entsorgungsbeckens für Chemieabfälle aufzeigt. Hier wurden später Stoffe festgestellt, die so nie in das Becken geleitet worden waren.

Da diese Gifte aufgrund ihrer synthetischen Herstellung äußerst langlebig sind, stellen sie noch viele Jahre nach der Verwendung eine Gefahr für Mensch und Tier dar, reichern sich an oder reagieren zu neuen Stoffen. Der menschliche Krieg gegen die Natur hat damit für den Menschen ganz unvorhersehbare Konsequenzen, die sich möglicherweise erst nach vielen Jahren in ihrer ganzen Tragweite zeigen.

Im Glauben, die Natur beherrschen zu können, zerstört der Mensch letztlich sich selbst.

Dabei, das macht Rachel Carson auch deutlich, bewirken die Chemikalien nur eine kurzfristige Lösung, etwa in Bezug auf eine Insektenplage. Schon kurze Zeit später kehren die Insekten oft in größerem Maße zurück, als sie ursprünglich in den Feldern vorhanden waren, sodass ein Teufelskreis entsteht, der zu einem immer höheren Einsatz von Gift zwingt.

Aktuell wie eh und je

Dass der Mensch dennoch auf Chemie setzt, ist laut Carson darauf zurückzuführen, dass diese Gifte einen großen Markt darstellen. Dieser profitiert sogar von dem Teufelskreis, der einen Einsatz in immer größeren Mengen erfordert. Schon in den 1960er Jahren hat Carson den Schädlingsbefall auf eine unnatürliche Art der Landwirtschaft zurückgeführt, die keine lebendigen Ökosysteme abbildet oder herstellt, sondern die Pflanzen der Natur entreißt und damit ein komplexes Gefüge aus dem Gleichgewicht bringt.

Daher ist das Buch auch heute, 60 Jahre nach Erscheinen, noch aktuell. Denn noch heute ist die konventionelle Landwirtschaft ein ganz und gar unnatürlicher Vorgang, der zu schwachen Pflanzen führt, die immer wieder mit Pestiziden vor Insekten und anderen Pflanzen geschützt werden müssen.

Zwar wurden viele der Pestizide, von denen Carson schreibt, im Stockholmer Übereinkommen von 2001 verboten, doch gibt es eine Vielzahl neuer Pestizide wie Neonikotinoide oder Glyphosat, die nach wie vor verteilt werden und große Schäden anrichten.

Zudem befinden sich viele Rückstände immer noch im Boden, reagieren dort möglicherweise auch mit neuen Stoffen, mit der Luft oder dem Wasser und können über das Grundwasser oder die Wurzeln der Pflanzen den Menschen jederzeit erreichen. Auch privat werden Pestizide angewendet, die das Problem vor die Haustür bringen. Ebenso verschärft die Vielzahl an Reinigungs- und Desinfektionsmitteln sowie eine große Bandbreite anderer Chemikalien alle Probleme, wenn sie über das Abwasser ins Grundwasser gelangen und somit letztlich den Menschen erreichen. Auch heute noch gibt es immer wieder Berichte von Vieh, das auf mysteriöse Weise verendet, von Vogelsterben, Fischsterben und Insektensterben, alles Symptome, die schon Carson in ihrem Buch als Folge von Pestizideinsatz beschreibt.

Rachel Carson ist es gelungen, den Fokus nicht nur verengt auf ein bestimmtes Problem, ein Symptom zu legen, sondern ihr Werk nimmt, damals erstmalig für ein populäres Sachbuch, die Natur in ihrer Ganzheit in den Blick und zeigt auf vielfache Weise auf, wie grundlegend der Mensch in den komplizierten Kreislauf der Natur eingreift, ihn zerstört oder irreversibel verändert, mit Risiken und Gefahren letztlich für jedes Lebewesen auf der Erde.

Bereits gleich zu Anfang des Buches appelliert Carson, dass wir nicht nur die eine oder andere Art niederhalten und neue technische Möglichkeiten dazu erfinden müssen. Vielmehr ist es notwendig, dass wir ganz grundsätzlich über das Gleichgewicht der Natur Bescheid wissen. Dies sei, wie sie den amerikanischen Wissenschaftler Dr. Elton zitiert, für den Menschen eine Existenzfrage. „Warum“, so fragt sie und zitiert dafür den Ökologen Paul Shepard, „sollen wir alles geduldig ertragen, schwache Gifte als tägliche Nahrung, ein Heim in farbloser Umgebung, einen Kreis von Bekannten, die nicht unsere ausgesprochenen Feinde sind, den Lärm von Motoren, den wir eben noch so weit mildern, dass wir nicht wahnsinnig werden? Wer wollte in einer Welt leben, die just noch nicht ganz tödlich ist?“

Damit stellt sie radikal unsere gesamte Lebensweise infrage, die nicht dazu führt, dass es den Menschen bessergeht, sondern ein Leben zum Ideal erhebt, „das gerade noch den Kopf über Wasser hält, nur einen Zollbreit über der Grenze des Erträglichen, bis die eigene Umwelt verdorben ist.“

Daher ist „Der stumme Frühling“ auch heute noch eine aktuelle Warnung vor den Folgen eines Vernichtungskrieges des Menschen gegen die Natur, der letztlich nur ihn selbst zerstören wird.


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