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Der tote Winkel

Der tote Winkel

Wie wir die Welt sehen, ist notwendig perspektivisch verzerrt — da hilft es, den Blickwinkel anderer einzubeziehen.

„Whataboutism“ — das ist die Unsitte, auf Kritik mit Kritik zu antworten, statt sie sich zu Herzen zu nehmen. Und dieser reflexartige Whataboutism wird einem häufig an den Kopf geworfen, konfrontiert man sein Gegenüber in Diskussionen mit dem Vorwurf, mit zweierlei Maßstäben zu messen oder entscheidende Faktoren zur Beurteilung eines bestimmten Sachverhaltes unberücksichtigt zu lassen. Mit Whataboutism zu kontern, hat in manchen Fällen eine gewisse Berechtigung — wenn zum Beispiel ein Fleisch-Esser einen Vegetarier argumentativ dadurch aushebeln möchte, dass er ihn darauf hinweist, dass sein übermäßiger Palmöl- und Soja-Konsum auch nicht gerade sonderlich umweltverträglich ist.

In den meisten Fällen ist diese Konter-Methode jedoch schlicht eine eitle Abwehr, um sich selbst nicht eingestehen zu müssen, soeben einen toten Winkel in der eigenen Argumentation oder Sichtweise unter die Nase gerieben bekommen zu haben.

Der Begriff des toten Winkels stammt aus dem Straßenverkehr und bezeichnet den Bereich seitlich des Fahrzeuges, den der Fahrer weder im Rück- oder Seitenspiegel, noch aus den Augenwinkeln sehen kann, wenn er den Kopf starr geradeaus auf die Straße richtet. Erst durch Drehen des Kopfes sieht er diesen Bereich.

In unserem politischen Aktivismus, in hitzigen Diskussionen befinden wir uns in einer vergleichbaren Situation. So wie uns im Straßenverkehr der sture Blick auf Straße und Seitenspiegel in einer trügerischen Sicherheit wiegt, glauben wir auch in den Rechthaber-Schlachten, stets goldrichtig zu liegen. Dabei sehen wir gewichtige Aspekte nicht, die uns wie im Straßenverkehr aus der Bahn werfen können, wenn wir ohne Schulterblick auf der Autobahn abbiegen und der Wagen links hinter uns in die Seite fährt.

Beispiele für tote Winkel gibt es en masse. Damit diese Bezeichnung im politischen Kontext nicht abstrakt bleibt, hier zwei anschauliche Beispiele:

Der Weltrettungs-Tourismus boomt aktuell. Gerade bei Abi-Abgängern ist es eine heiß begehrte Sache, nach der Schulzeit in ärmere Länder zu fliegen (!), um dort der Bevölkerung zu helfen.

Das klingt erst mal nach einer sehr löblichen und edlen Tat, die sicherlich häufig auch aus einer ehrlichen und menschlichen Motivation heraus geschieht. In den toten Winkel geraten dabei allerdings die desaströsen Umweltschäden, die jeder mit dem Flug anrichtet, sodass die Weltverbesserungs-Rechnung „unterm Strich“ negativ ausgeht. Am Ende bleibt nicht nur der beabsichtigte, menschliche Nutzen, sondern auch der Schaden an der Umwelt.

Das nächste Beispiel entspringt einer persönlichen Erfahrung, die ich bei der Teilnahme an einer Stopp-CETA-Demo machte. Beim Marsch im bunten Flaggen- und Bannermeer durch die verregneten Straßen Münchens unterhielt ich mich mit einem Ehepaar angeregt über die neoliberale Ordnung. Positiv überrascht stellte ich im Verlauf des Gesprächs fest, dass der Mann wirklich ausgesprochen gut und tiefgehend informiert war. Sein Wissen ging weit unter die Oberfläche und umfasste auch zahlreiche Aspekte der Tiefenindoktrination. Ich konnte mich mit ihm auch sehr gut über die Thesen von Professor Rainer Mausfeld unterhalten.

Als sich die Demo dem Ende zuneigte und langsam aufzulösen begann, verabschiedete ich mich von den beiden. Beim Weggehen hörte ich dann, wie der Mann den Arm um die Schultern seiner Frau legte und vorschlug: „So, ich hab jetzt Hunger! Lass uns zu Burger King gehen!“
Autsch!

Der tote Winkel bedarf bei diesem Beispiel keiner ausführlichen Erläuterung, oder? Betrachten wir die Moral als einen die Weltkugel umspannenden Nylon-Strumpf, dann versuchen wir politischen Menschen stets, in diesem ein moralisches Loch zu flicken und verursachen dabei unfreiwillig und/oder unbewusst ein Loch an einer anderen Stelle, das dann durch die Spannung der Nähte aufplatzt.

Auf den Schultern von Riesen

Zu Beginn eines Studiums der Geisteswissenschaften bekommen die Erst-Semester häufig die Metapher vom Zwerg auf den Schultern eines Riesen zu hören. Wenn sie an die erste Hausarbeit herangehen, verfallen viele Studenten zunächst in ein Gefühl der Ohnmacht. Es wurde doch eh schon alles entdeckt und erforscht! Was soll man da als kleiner, ahnungsloser Schulabgänger schon großartig Neues herausfinden? Haben doch gerade die Dozenten erklärt, man sei als Student ein kleiner Zwerg, der auf den Schultern von Riesen (Wissenschaftlern) sitzt und von dieser Position aus einen minimal anderen Blickwinkel (wenn auch nur ein halben Grad) besitzt.

Eigentlich mag ich diese Metapher nicht, weil sie uns Studenten schlicht dazu anzuspornen soll, vorhandene Literatur etwas umzuschreiben. Doch birgt sie Potenzial, wenn man sie weiterdenkt. In der Darstellung vieler Uni-Dozenten sitzt jeder Student als Zwerg alleine auf den Schultern. Wenn wir das Bild jedoch konsequent weiterdenken, sind wir ja eigentlich ganz viele Zwerge.

Diese Sicht hat folgende Effekte: Einerseits eröffnen sich dadurch viele neue Perspektiven, mit denen sich wesentlich mehr Winkel des 360 Grad-Raumes einfangen lassen — vergleichbar mit dem Bullet-Time-Effekt aus dem Film Matrix. Gleichzeitig wird die Last der Zwerge auf seinen Schultern den Riesen etwas in die Knie zwingen. Also sieht er nicht mehr ganz so weit wie zuvor. Übersetzt bedeutet dies: die Überheblichkeit zahlreicher Akademiker wird abgemildert. Der Abstand zwischen akademischer und „bürgerlicher“ Sichtweise schrumpft etwas.

Eine ausgeglichene Epistokratie — die aus meiner Sicht erstrebenswert ist — kann nur entstehen, wenn sich das breite akademische Wissen mit dem realitätsgeprüften Lebenswissen der Bevölkerung durchmischt.

Tote Winkel sind gewollt!

Der Begriff „Lügenpresse“ ist irreführend und ideologisch hochgradig problematisch, da er aus dem dritten Reich stammt. Korrekter ist der Begriff „Lückenpresse“. Diese Lücken sind jene toten Winkel. Tot enden kann, wer wie viele Whistleblower auf diese Winkel hinweist. Der sichtbare Bereich zwischen den Lücken lässt sich — wenn auch nicht immer — als „Frame“ bezeichnen. Diese Frames schirmen die medialen Scheuklappen von den toten Winkeln ab.

Was zu einer guten Medienkompetenz gehört, muss — so denke ich — hier nicht noch einmal in aller Ausführlichkeit durchdekliniert werden. Es ist vermutlich jedem klar, dass man sich regelmäßig in unterschiedlichen Medien informieren sollte, um sich ein umfassendes Bild machen zu können und den toten Winkel möglichst klein zu halten. Eine „ich schau jetzt nur noch Russia Today“-Haltung führt nicht zu einem ausgewogenen Verständnis der Welt. Es mag durchaus eine interessante Perspektive entstehen, wenn man erst die NachDenkSeiten und dann die BILD liest.

Im Umgang mit dem toten Winkel unterscheidet sich die Mainstream-Presse grundsätzlich von den Alternativ-Medien. Erstere negiert die Existenz des toten Winkels und gibt dem Rezipienten vor, wie er zu denken und zu handeln hat. Sie gibt ihm auch vor, in welche Richtung er abbiegen soll. Der Rezipient hat das nicht zu hinterfragen, auch dann nicht, wenn ihn die Blattlinie — etwa durch Kriegspropaganda — in den Abgrund führt.

Ganz anders treten hier die meisten Alternativ-Medien auf — die um die Existenz dieses toten Winkels wissen. Journalisten wie Ken Jebsen fordern am Ende ihrer Beiträge die Rezipienten sehr häufig dazu auf, die vorgetragenen Inhalte, Analysen und Sichtweisen auf ihre Richtigkeit, respektive auf einen toten Winkel hin zu überprüfen.

So etwas findet in den Mainstream-Nachrichten nicht statt! Claus Kleber hat nach einer Ausgabe des Heute-Journal dem Zuschauer noch nie mitgeteilt, dass das ZDF nun die nächste halbe Stunde bis zur Wettervorhersage „offline“ geht, damit der Zuschauer die im Heute-Journal vorgetragenen Inhalte prüfen kann.

Raus aus der Schieflage!

Wir müssen uns gegenseitig helfen, die eigenen Schieflagen unserer Weltbilder zu erkennen! Und zwar auf eine Weise, wie das äußerst selten geschieht — respektvoll! Die Suche nach der Wahrheit wird häufig zu einem Wettstreit um „Rechthab-Ressourcen“. Wer hat am meisten von der Wahrheit gepachtet?

Häufig geht es dann gar nicht mehr darum, der Wahrheit um des Gemeinwohls willen näher zu kommen, sondern darum, am Ende als derjenige dazustehen, der von Anfang an Recht hatte. Rechthaberei dürfte nach der Schönheit die größte Wurzel aller Eitelkeiten sein.

Und es ist eben auch nicht einfach, sich dieser Sherlock-Eitelkeit zu entledigen! Wir müssen unserem Ego beibringen, es zu verkraften, wenn jemand eine andere Ansicht äußert oder im Gegensatz zu uns Recht hat. Statt mit Abneigung auf andere Perspektiven zu schielen, sollten wir sie als eine Bereicherung betrachten. Dies gilt natürlich nicht für menschenfeindliche Perspektiven, die dem Begriff „toter Winkel“ eine ganz andere Bedeutung verleihen.

Um der Wahrheit näher zu kommen, bedarf es einer täglichen — ja, wirklich täglichen — Neujustierung unserer eigenen Perspektive. Nur so bleiben unsere Denkprozesse intakt, gut geölt und rostfrei. Wenn unser Weltbild weder in Stein gemeißelt, noch ein windanfälliger Laubhaufen, sondern so flexibel wie eine Götterspeise ist, kann es uns gelingen, mithilfe Anderer die toten Winkel auszumachen. Unser Weltbild muss die Konsistenz einer Götterspeise besitzen, weil sich diese nicht so leicht verformen lässt — von den flachen Plattitüden irgendwelcher rattenfängerischer Scharlatane, beispielsweise. Wenn jedoch deutliche und schwer bestreitbare Indizien einer Andersartigkeit vorliegen, kann dieses Weltbild eine andere, neue Form annehmen.

Um in Kontakt zu bleiben, mache ich gerne den ersten Schritt. Haben Sie einen toten Winkel in meinen Artikeln gefunden? Dann schreiben Sie mir bitte an jugend@rubikon.news!


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