Hier ein Ausschnitt aus dem Gespräch im Mai 2022 — mit dem Titel „Wissenschaft — eine absolutistische Religion“ —, in dem Gunnar Kaiser mit Jochen Kirchhoff dessen Buch "KoSMoS" und die darin geäußerten Ansichten über das Weltall und den Menschen diskutiert. Besonderes Augenmerk legen beide auf die lebensfeindliche Abstraktion und den Dogmatismus der modernen Wissenschaft, insbesondere im Bereich der Physik, und sie argumentieren, dass die wissenschaftliche Weltanschauung zu einer Religion mit einem starren Glaubenssystem geworden ist, die/das es zu überwinden gilt.
„(…) JK: … Also es ist der Wahn der Abstraktion, sage ich mal, der hat sich da perpetuiert und gesteigert und ist desaströs. Also der ruiniert uns alle.
GK: Was meinst du mit: der Wahn der Abstraktion? Also Naturwissenschaften?
JK: Ja, also die, ja, die, wie du ja auch weißt, genauso wie ich, dass die sogenannte moderne Denkbewegung, sage ich mal so, ja, wie das so schön immer heißt im Jargon, ist ja doch ganz stark von der Abstraktion bestimmt. Und die Naturwissenschaft, Naturphilosophie seit der Renaissance ist auch fokussiert gewesen, seit Galilei, auf diese Abstraktion. Das heißt, wie die Dinge eigentlich sind, ist nicht wichtig. Also Galilei sagt das ausdrücklich: Was die Schwere ist, darüber haben Philosophen nachgedacht, dieses und jenes gesagt, aber ich beschreibe, was wirklich passiert. Also die Beschleunigung Richtung Erdmittelpunkt, der Stein, der fällt, wird immer schneller usw. Das kann man in eine einfache Formel bringen, und das ist das Entscheidende, der Verzicht auf die Wesensfrage und der Verzicht auch auf die Qualitätsfrage, der Verzicht überhaupt auf das, was Menschen ausmacht. Nicht nur das Emotionale, auch das Spirituelle und all das, was einfach nicht quantifizierbar ist, was nicht aufgeht in der Abstraktion. Und das ist immer mehr in den Privatbereich gedrängt worden, nach dem Motto: Ja, du kannst es ja ruhig glauben, ja, aber die Wissenschaft ist immer ein Abstraktionsprozess. Und was nicht in den Abstraktionsprozess, auch in die Mathematisierung, eingeht, wird erst mal…, verfällt in Misskredit.
Das heißt, es ist nicht wirklich wissenschaftlich, und alle Wissenschaften haben ja da irgendwo einen Minderwertigkeitskomplex, wollen das auch so haben, auch Germanistik usw., auch die Deutschlehrer und was weiß ich alles. Die wollten (das) dann auch, irgendwie haben sie Minderwertigkeitskomplexe, sie können nicht so die ganzen Zahlenkolumnen an die Tafel schreiben, sie müssen das in Sprache kleiden, und das gilt dann auch als Geschwurbel oder so, aber sie haben auch eine Angst davor. Und noch kurz zu dem Punkt: Sie überschätzen auch diese Zahlenkolonnen. Die meisten Menschen haben richtig Angst davor. Sie denken, wenn sie sich da kritisch äußern, machen sie sich lächerlich. Dabei durchschauen (sie) nicht die Voraussetzungen, auf denen das Ganze basiert. Das Ganze ist ja nicht voraussetzungslos, es gibt ja Prämissen. Und meine Arbeit im Lauf von Jahrzehnten war ja auch unter anderem die Kritik an Grundlagenkritik, also an den Basics, Grundlagenkritik, an den Prämissen. Denn es wird von bestimmten Prämissen aus gedacht und die Welt betrachtet, der Kosmos betrachtet, und diese Prämissen werden oft gar nicht hinterfragt. Und das mache ich eben und da bin ich ja auch beeinflusst von anderen Leuten, also vor allem (von) Giordano Bruno und dann von Helmut Friedrich Krause. Da habe ich gelernt, dass man das alles hinterfragen kann und da eine Fragetechnik entwickelt, wie man da immer näher kommen kann. Ich habe geradezu mich zum Teil als fragenden Philosoph betrachtet. Immer wieder fragen, auch wie immer neu fragen. Wo manche Leute schon zum Ende (gekommen) sind, frage ich noch weiter. Was ist das? Wovon gehst du aus? Und dann kann man sich darüber verständigen. Ich lasse mich aber nicht auf die Prämissen da ein, in dem Sinne, dass mir das vorgegeben wird, sondern ich gehe (da weiter).
Ja, gut, das sagst du aber doch nur aufgrund dieser Prämissen. So, und wie kommst du zu diesen Prämissen? Ja, das sind natürlich irgendwie auch Axiome, die gesetzt werden, metaphysisch. Das ist dann Metaphysik letztlich, so, das ganz knapp gesagt. Also diese, und das ist ja auch die Wissenschaft, ist eben in viel höherem Grade, weißt du, Gunnar, Metaphysik, als sie selber denkt. Und Menschen mit ihren Konzepten können von Metaphysik gar nichts wissen oder interessiert sie vielleicht gar nicht. Ist das alles Gerede oder so, ja. Aber letztlich haben sie ihre Prämissen, ihre Voraussetzungen. Und die sind oft ganz eisern festgeschraubt, und sie durchschauen sie selbst nicht. Und da setze ich an, also an diesen entscheidenden Punkten bin ich, glaube ich, der Einzige oder (mit) ganz wenigen weit und breit, die das überhaupt machen heute. Die meisten haben Angst davor und trauen sich nicht oder haben auch keine Konzepte.
GK: Man wird ja schnell als Wissenschaftsleugner dargestellt, wenn man diesen herrschenden Dogmatismus, wie du auch sagst, ein knallharter Dogmatismus, purer Glaube, quasireligiös in den Naturwissenschaften, wenn man das hinterfragt. Jetzt erstaunt das doch, weil man doch eigentlich sagen müsste, die Naturwissenschaft verzichtet doch auf den Glauben, sie will alles hinterfragen und sie will eben nur das Messbare und empirisch Feststellbare, auch erst mal eben der Verzicht auch auf die Wesensfrage ist doch auch sozusagen eine Absage an jeden religiösen Wahn. Aber genau das wirfst du der Naturwissenschaft (vor).
JK: Ja, so ist es ursprünglich auch gewesen. Also, aus einem gewissen Überdruss an der kirchlich-christlichen Dogmatik hat man gesagt, okay, das ist alles Glaubenssache. Die Naturwissenschaft grenzt sich davon ab, aber sie ist im Laufe der Zeit selber genau in diese religiöse Schiene reingeraten. Letztlich ist es auch Religion. Ich meine, da bin ich ja nicht der Einzige, der sagt, Naturwissenschaft ist eine Religion geworden, und zwar, ich würde sogar sagen eine absolutistische Religion. Ja, es ist vielleicht sogar der Absolutismus oder schlechthin der Fundamentalismus geradezu. Die stärkste Kraft auf diesem Planeten ist die abstrakte Naturwissenschaft, denn alle machen vor ihr den Kotau, egal wo man ist, egal, wo man sich befindet, weil sie denken, die Maschinen funktionieren doch, also muss der Rest auch stimmen. (...)“
Das inspirierende Wirken und die liebenswürdige wie streitbare menschliche Art Gunnar Kaisers ist vielen Menschen noch gut im Gedächtnis. Sein Freund und Wegbegleiter Raymond Unger zeichnet in seinem Buch: „Habe ich genug getan? In memoriam Gunnar Kaiser“ (2) die Entwicklung des Ausnahmetalents zu einem der bekanntesten philosophisch-gesellschaftspolitischen Video-Blogger in unserem Land nach. Der Philosoph, Freidenker, Aufklärer Gunnar Kaiser wird durch seine Bücher und Videos unvergessen bleiben.
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Quellen und Anmerkungen:
(1) „PHILOSOPHISCHE PERSPEKTIVEN, Wahrheit, Menschsein und Lebenssinn, Gunnar Kaiser & Jochen Kirchhoff im Gespräch, Ein Denk- und Gedenkband, edition dionysos, 2024
(2) Raymond Unger, „Habe ich genug getan? In memoriam Gunnar Kaiser“, Europa Verlag, 2024