Als Chronist politisch-gesellschaftlicher Entwicklungen wünscht man sich geradezu eine energische Gegenrede. Und ja, die gibt es – sie wird aber sofort von staatlicher Repression bedroht. Sogar der EU-Kommissar für Menschenrechte, Michael O’Flaherty, wurde aktiv und hat Bundesinnenminister Alexander Dobrindt zur Respektierung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit aufgefordert: „Ich bin besorgt über Berichte über übermäßige Gewaltanwendung durch die Polizei gegen Demonstrierende, darunter auch Minderjährige ...“
Stellvertretend für zahlreiche andere sei der Fall von Francesca Albanese genannt, der Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete. Sie hat sehr klar und präzise die Kriegsverbrechen, den Völkermord und die unfassbare Unmenschlichkeit der israelischen Kriegsführung gegen die palästinensische Bevölkerung verurteilt. In Deutschland wurden deshalb Vorträge, die sie in München und Berlin halten sollte, verboten. Die USA haben gerade Sanktionen gegen sie verhängt – laut Wikipedia, „weil sie eine Kampagne politischer und wirtschaftlicher Kriegsführung gegen die Vereinigten Staaten und Israel führe“; außerdem unterstütze sie den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den israelischen Präsidenten Netanjahu.
Die Verfolgung der engagierten UN-Beamtin bleibt eine Randnotiz in einer Welt, in der die ehemaligen Kolonialmächte – zusammen mit dem Staat, der für zwei Weltkriege und die Massenvernichtung von Menschen verantwortlich ist und derzeit wieder großkotzig militärische Führungsverantwortung beansprucht – mit aller Gewalt gegen ihren Niedergang kämpfen. Gemeinsam mit dem Imperium, das mit zahlreichen Kriegen, der NATO und 850 Militärstützpunkten um die alleinige Weltherrschaft ringt.
Heute titeln Tageszeitungen: „Trump stellt Kreml Ultimatum“ – das vermag natürlich nur ein Herrscher. Könnte beispielsweise Kuba dem Weißen Haus ein Ultimatum stellen? Laut UN-Charta beruht die Weltorganisation auf der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder. Aber diese Selbstverständlichkeit scheint niemand mehr einzufordern.
Die alten Mächte kennen keine Regeln mehr – es gilt das Recht des Stärkeren. Sie bieten ein groteskes Bild mit ihren Allmachtphantasien; sie führen mit Lügen und mit Parolen von Freiheit, Demokratie und Moral ihre Kriege um Hegemonie und für Regime Change. Sie ermächtigen sich dazu selbst, nicht etwa die UN. Die täglichen Meldungen von Krieg, Massakern, all dem menschlichen Leid, all der Zerstörung und den verlogenen Narrativen überfordern sogar uns als nur passiv Beteiligte. Unmöglich, all die Gräueltaten emotional zu verarbeiten. Der menschenverachtende Zynismus scheint grenzenlos zu sein: Israel errichtet auf den Ruinen der Stadt Rafah riesige Lager für die Menschen in Gaza – eine „humanitäre Stadt“, die der freiwilligen Emigration der Bevölkerung diene. Es ist „das moralischste Konzentrationslager der Welt“, wie die israelische Zeitung Haaretz ironisch bemerkt und es dient der Vertreibung, der ethnischen Säuberung. Und Deutschland liefert die Waffen; Protestierende werden von der Polizei verprügelt und bestraft.
Das israelische Militär erhielt den Befehl, auf unbewaffnete, ausgehungerte Menschen, die auf „humanitäre Hilfe“ warten, zu schießen, erzählten IDF-Offiziere und -Soldaten der Zeitung Haaretz. Während Zeitungen bei uns wie Presseorgane des israelischen Militärs wirken, resümiert einer der wenigen israelischen Kritiker, der Haaretz-Redakteur Gideon Levy:
„Man kann das, was dort seit mehreren Wochen geschieht, nur als Völkermord bezeichnen. Völkermord mit Vorsatz, Völkermord als Ziel, mit dem Ausmaß eines Völkermords, Völkermord um des Völkermords willen.“
Während Menschen in Gaza massakriert, Kinder zu Tausenden getötet oder verstümmelt werden und Kriegsminister Katz die Errichtung eines „jüdischen israelischen Staates“ auch im besetzten Westjordanland ankündigt, deklamiert US-Außenminister Rubio:
„Wir werden unseren Partnern bei ihrem Recht auf Selbstverteidigung stets zur Seite stehen.“
Derweil sitzt der deutsche Innenminister Dobrindt bei dem gesuchten Kriegsverbrecher Netanjahu und erklärt die volle Zustimmung Deutschlands zu dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Israels auf den Iran. Der habe die Welt sicherer gemacht. Kanzler Merz freut sich darüber, dass Israel die Drecksarbeit für uns erledigt. So reden Faschisten.
Hierzulande kommt kein Aufschrei; aber immerhin hat der alte Dieter Hallervorden Strafanzeige gegen Merz gestellt.
Dobrindts Reise diente nicht nur der unverbrüchlichen Unterstützung für Israels Angriffskriege gegen Iran, Syrien und Libanon, den Völkermord und die ethnische Säuberung; er will auch für Deutschland von den fundierten Erfahrungen Israels beim Kampf gegen Terror, Spionage und Sabotage profitieren. Der deutsche Minister denkt dabei primär an Bekämpfung der Flüchtlinge – wie auch an die innere Sicherheit mit mehr Überwachung und „Abwehr von Bedrohungslagen“.
Aus Sicht der Machtelite mag das folgerichtig erscheinen, denn auch in der Wirtschafts- und Kriegspolitik der Bundesregierung herrscht Unvernunft und grassiert der Wahnsinn. Symbolisch dafür steht die Verleihung des Janusz-Korczak-Preises für Menschlichkeit an die Kriegshetzerin und Rüstungslobbyistin Strack-Zimmermann (FDP). Die Preisrede hielt der Kriegshetzer Professor Carlo Masala.
Die Auswahl der Jury ist kein Fauxpas, sondern eine verstörende Pervertierung von Werten, historischem Gedenken und menschlichen Gefühlen.
Aber diese Geschmacklosigkeit wird vielleicht noch getoppt durch den Besuch des Kriegsverbrechers Netanjahu beim US-Präsidenten, dem er dabei den offiziellen Vorschlag der Nominierung Trumps für den Friedensnobelpreis überreichte. Trump zeigte sich gerührt.
Bekanntlich ist die deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik inzwischen eine Unterabteilung der Kriegsvorbereitung. Den Kommunen fehlt die Rekordsumme von 215 Milliarden Euro für Schulen, Straßen, Bäder, Sport und Kultur. „Wir geben hunderte Milliarden, um Schulen zu zerstören – aber um sie hier betreiben zu können, da gibts nichts,“ sagt die Frau an der Kasse des Supermarktes.
Grenzenlose Milliarden für Militär – für die Menschen: Armut, kaputte Infrastruktur, ausgemergelte Daseinsvorsorge. Von Altersarmut sind inzwischen 3,4 Millionen Menschen betroffen. Die Hälfte der Bürgergeldempfänger gibt an, dass im Haushalt nicht alle satt werden.
Mit dem staatlichen „Investitionsbooster“ werden Reiche beschenkt, ohne dass die Wirtschaft angekurbelt würde. Dafür dürfen Rüstungskonzerne obszöne Gewinne verbuchen. Der Wert der Rheinmetall-Aktien stieg seit dem Beginn des Ukraine-Krieges um 1720 Prozent.
Das Geld, das in die Aufrüstung gepumpt wird, fehlt bei Krankenversorgung, Rente, Bildung, Sozialversicherung und Infrastruktur.
Wer wird die gigantischen Schulden bezahlen? Wer leidet heute unter steigenden Preisen, höheren Steuern und sinkender Versorgung und Lebensqualität?
Das soziale Desaster soll durch neuen Nationalismus übertüncht werden. Kanzler Merz’ Regierungserklärung strotzte vor starken Sprüchen: Friedensarbeit heiße jetzt Sprache der Stärke, wir brauchen Stärke und Entschlossenheit.
„Deutschland ist wieder zurück auf der europäischen und der internationalen Bühne.“
Und es geht stramm gegen den Russen. Generalmajor Christian Freuding sagt im ZDF:
„Wir brauchen Waffensysteme, die weit (…) in die Tiefe des russischen Raumes reichen, die angreifen können …“
Können wir begreifen, was das bedeutet? Angreifen, in der Tiefe des russischen Raumes? Führt Deutschland schon Krieg gegen Russland? Die USA wollen nun doch Patriot-Systeme an die Ukraine liefern. Trump erklärt: „Die EU übernimmt die Kosten. Wir zahlen keinen Cent.“
Eine wahnsinnige Kriegspolitik zu Lasten der überwiegenden Mehrheit. Weder die EU noch Deutschland ergreifen eine Initiative für Friedensverhandlungen und für Abrüstung. Stattdessen deutscher Führungsanspruch und Vasallentreue: grotesk. NATO-Generalsekretär Rutte schickte nach dem NATO-Gipfel, bei dem die drastische Erhöhung der Militärausgaben der EU auf fünf Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) beschlossen wurde, eine ebenso peinliche wie verräterische Ergebenheitsadresse an „Daddy“ Trump:
„Mr Präsident, lieber Donald, Gratulation und Dank für deine entschiedene Aktion im Iran, das war wirklich außergewöhnlich (…) Es war nicht leicht, aber wir haben sie (die EU-Minister) alle dazu gebracht, den fünf Prozent zuzustimmen! Europa wird in großem Stil zahlen, wie geplant, und es wird dein Sieg sein“ (Übersetzung des Autors).
Warum lässt man sich all die Heuchelei, die Verlogenheit, die Verachtung und Entmündigung gefallen? Schon Kinder sind der Kriegspropaganda ausgesetzt. Wir alle sind als Verbrauchsmaterial in kommenden Kriegen eingeplant. Eine wahnsinnige Politik erzeugt eine Krankheit der Gesellschaft.
Hannah Arendt schrieb 1967, man biete uns Unwahrheiten als Ersatz für die Wirklichkeit. Das Ergebnis der Gehirnwäsche sei Zynismus:
„Wo Tatsachen konsequent durch Lügen und Totalfiktionen ersetzt werden, stellt sich heraus, dass es einen Ersatz für die Wahrheit nicht gibt. Denn das Resultat ist keineswegs, dass die Lüge nun als wahr akzeptiert und die Wahrheit als Lüge diffamiert wird, sondern dass der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet wird.“ (1)
Staat und Medien betreiben die seelische Destabilisierung. Die Folgen: Das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen, in Parteien und Regierung schwindet, Angst, Ohnmachtsgefühl und seelische Krankheiten nehmen zu. Der Pegel des Irrationalen steigt, ebenso die destruktiven, aggressiven Impulse. Und die Faschisten erstarken in ganz Europa.
Das neoliberal-kapitalistische System der Instrumentalisierung der Menschen für die Interessen der Machtelite fördert schädliche, antisoziale Eigenschaften; die allgegenwärtige Propaganda und Manipulation machen anfällig für faschistisches Gedankengut und Ablehnung der Demokratie.
Im hochgerüsteten hegemonialen Westen sind alle Regeln, Wahrheiten, internationalen Normen zerstört oder missachtet; UN-Charta, Völkerrecht, Menschenrechte und internationale Rechtsinstitutionen sind genau von denen gegen Faustrecht und Gewalt eingetauscht worden, die sie ständig zu verteidigen behaupten.
Wenn wir nicht untätig warten wollen, bis die Verrohung der Politik zum neuen Faschismus in Europa und den USA führt oder in einen grenzenlosen Krieg mündet, dürfen wir nicht auf Lösungen von der Machtelite warten.
Wir müssen selbst tätig werden, um der UN-Charta, dem Friedensgebot des Grundgesetzes und den wirtschaftlich-sozialen Menschenrechten Geltung zu verschaffen.

Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem Dauerauftrag von 2 Euro oder einer Einzelspende unterstützen.

Oder unterstützen Sie uns durch den Kauf eines Artikels aus unserer Manova-Kollektion .
Quellen und Anmerkungen:
(1) „Wahrheit und Lüge in der Politik“, Piper 1987, Seite 83