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Die geliebten Herrscher

Die geliebten Herrscher

Die „Lämmer“ schweigen nicht nur, sondern verehren Autoritäten und machen sich hierdurch mit ihrer eigenen Unterdrückung gemein.

Es ist skurril. Angela Merkel gibt den Parteivorsitz der CDU und damit den Kanzleranspruch ab und veranstaltet eine scheinemotionale Theateraufführung vom Feinsten (1). Während ihrer letzten Rede hat sie Tränen in den Augen und auch ihre Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer klatscht minutenlang energisch weinend. Schließlich wird der Kanzlerin als Abschiedsgeschenk von ihrer Partei der Taktstock des Dirigenten überreicht, welcher 2017 während des G20-Gipfels vor den teilnehmenden Staatschefs Beethovens Neunte Symphonie dirigierte, während es draußen zu gewalttätigen Ausschreitungen bei Polizei und Demonstranten kam. Wer kein eingefleischter CDU-Nostalgiker ist, muss spätestens jetzt lachen.

Nach 18 Jahren „Weiter so“, „richtig und wichtig“, „alternativlos“ und „Wir schaffen das“ inszeniert sich Merkel geradezu historisch als revolutionäre Ikone. Dass es sich hier um Show handelt, sollte insbesondere anhand ihres mangelnden schauspielerischen Talents klar werden.

Viel interessanter ist ein Blick weg von der Bühne, ins Publikum des CDU-Parteitags. Während Merkels Rede gibt es nicht nur ständig aufbrausenden Beifall. Ein Großteil der Delegierten hält auch Schilder in die Höhe mit der Aufschrift: „Danke Chefin“. Ein Spruch, an dem das Auge des Betrachters zumindest kurz hängen bleiben sollte. Eine „Chefin“ ist schließlich autoritär und hat nichts mit demokratischer Legitimation oder Repräsentation zu tun. Na und, könnte man meinen. Das weiß doch jeder. Aber weiß das wirklich jeder? Baut nicht ein großer Teil der Stabilität unseres Systems darauf, dass die Praktiken der Herrschenden von der Bevölkerung als demokratisch und ihren Willen repräsentierend angesehen werden? Doch insbesondere in den letzten Wochen und Monaten zeichnet sich ein Trend von erstaunlich offener politischer Rhetorik ab.

Die Verachtung gegenüber den Armen und Ausgebeuteten der Gesellschaft tritt immer deutlicher zu Tage. Mehr als ein kleines Murren hört man nicht, wenn Jens Spahn Sätze verlautbaren lässt wie: „Jeder Job ist zumutbar“ (2) und „Harz IV bedeutet nicht Armut“ (3). Oder erinnern wir uns doch an den geistigen Twitter-Erguss von Peter Tauber vor etwa einem Jahr: „Wenn Sie was ordentliches gelernt haben, brauchen Sie keine drei Minijobs“ (4). Allein die Kandidatur von Friedrich Merz, der in den letzten neun Jahren in annähernd jedem deutschen Aufsichtsrat gesessen hat, müsste den Zeiger eines halbwegs funktionalen Demokratieradars ausschlagen lassen.

Die Politiker der herrschenden Parteien scheinen jedoch nicht einmal mehr die Notwendigkeit zu sehen, ihre verächtliche und elitäre Haltung gegenüber der Bevölkerung zu verstecken. Und warum nicht? Vielleicht, weil sie es gar nicht mehr müssen. Offensichtlich ist die gesellschaftliche Entfremdung schon so weit fortgeschritten, dass die Anwendung vieler Herrschaftsstrategien wie Ablenkung oder Verschleierung gar nicht mehr in dem Maße notwendig ist wie noch vor 50 Jahren. Doch die Frage bleibt: Wie kann das sein?

Die neuen Methoden

Eine Antwort lautet: Macht ist sehr faszinierend. Und zwar für sehr große Teile der Bevölkerung. In der Psychologie ist dieses Phänomen bereits ausführlich erforscht. Seine Wurzeln finden sich in frühester Kindheit und der oft in diesem Zeitabschnitt stattfindenden frühkindlichen Traumatisierung. Der Schweizer Psychologe Arno Gruen schrieb 2014:

„Unsere Entwicklung wird dadurch gestört, dass sie Gehorsam verlangt und eine Identifizierung mit demjenigen, der Gehorsam einfordert“ (5).

Gruen meint hier mit dem, der sie einfordert zwar konkret die Eltern des unterdrückten Kindes, sieht diese aber als metaphorisches Exempel einer pathologisch gehorsamen Gesellschaft.

Mittels Projektion werden insbesondere gesellschaftliche und politische Autoritäten idealisiert und als unterwerfungswürdig anerkannt. Notwendig ist hierfür ein rund um die Uhr funktionierender Personenkult – in der internationalen Politikszene hat dieser bereits Tendenzen einer Seifenoper angenommen. Wahrscheinlich wäre es für viele deutsche Bürger schwer zu sagen, welches neu erlassene Gesetz ihr Lieblingsgesetz ist. Doch die Frage nach dem beliebtesten Politiker, wie beispielsweise beim ZDF-Politbarometer, fällt leicht. Da kann man ja schließlich auch nach Sympathie entscheiden. Und das ist der nächste interessante Punkt. Paradoxerweise scheint sich die Idealisierung der Macht nicht auf die Macht an sich zu beziehen, sondern auf – politisch gesehen – absolute Nebensächlichkeiten wie etwa das Privatleben.

American Daddy

Das wahrscheinlich eindrücklichste Beispiel ist der ehemalige US-Präsident Barack Obama. Trotz der Ausweitung der amerikanischen Kriegseinsätze und einem riesigen Schuldenberg, den er der amerikanischen Bevölkerung hinterlassen hat, gilt er als der coolste Präsident in der US-Geschichte (6). Und warum? Nicht etwa, weil die steigenden Obdachlosenzahlen und Mietpreise im Interesse der amerikanischen Bevölkerung wären oder weil sich der ausgeweitete Drohnenkrieg oder der Folterstützpunkt Guantanamo großer allgemeiner Beliebtheit erfreuen würden. Nein – Obama ist sympathisch. Beziehungsweise, um es mit den Worten eines Psychologen zu sagen: Er ist eine gute Projektionsfläche.

Videos, in denen er ein schreiendes Baby beruhigt oder die Fragen von begeisterten Kindern im Vorschulalter liebevoll beantwortet, erreichen auf YouTube Millionen von Klicks. Die Liebesgeschichte, die ihn mit seiner Frau Michelle verbindet, schien sogar die neunzigminütige Verarbeitung in einem Hollywood-Streifen wert zu sein. Betrachten wir das wieder aus der psychologischen Perspektive, erscheint dieses Theater über einen Politiker als paradox.

In einer Gesellschaft mit grundlegenden psychischen Defiziten an elterlicher Liebe braucht die Bevölkerung Kompensationsfiguren. Figuren, die alles richtig machen. Und weil es sich hier um einen emotionalen frühkindlichen Triggerpunkt handelt, funktioniert „alles richtig machen“ ebenfalls auf einer emotionalen Ebene. Es bezieht sich nicht auf Dinge wie wirtschaftliche Kompetenz, verantwortungsvolle Konfliktregelung oder gar die Qualität der Interessensrepräsentation der Bevölkerung. Es geht um Situationen, die an längst vergessene, aber dennoch unterbewusst gespeicherte Erinnerungen andocken.

Wer selbst als Kind massive Bindungstraumata erlitten hat, kann deren Kompensation leicht in den für zwei Minuten mit einem fremden Baby kuschelnden Obama lenken. Dabei ist er zwar nicht, wie von Arno Gruen beschrieben, die klassische Reinszenierung des autoritären Elternteils, denn konkret im Triggermoment verhält er sich weder autoritär noch restriktiv. Er ist sozusagen der gute Führer. Dennoch tut er dies aus einer herrschenden Position heraus, denn schließlich ist er auch in dieser Situation noch Präsident der Vereinigten Staaten. Und was er in dieser Funktion tat, wird einfach mit in die Heroisierung eingeschleust. Denn einmal idealisiert, genießt er praktisch absolute Narrenfreiheit.

Bis heute wissen viele Amerikaner nicht, dass Barack Obama jeden einzelnen Tag seiner Amtszeit Krieg führte. Er ist Identifikationsfigur und deshalb verschwinden seine Handlungen in dem, was Alice Miller „Das Schwarze Loch“ nannte (7). Das Loch, in dem jegliche Verbrechen der Eltern am Kind verschwinden. Denn das Kind verzeiht den Eltern alles. Genauso verhält es sich mit Obama als Projektionsfläche. Natürlich hat dieses Verdrängen seiner Verbrechen auch mit der mangelhaften amerikanischen Berichterstattung zu tun. Doch die Informationen sind da. Nur, wäre nicht schon ihr Konsum ein unverzeihlicher Verrat am guten Führer?

Wenn die Bevölkerung glaubt, oder besser gesagt fühlt, den Regierungen absoluten Gehorsam schuldig zu sein, nimmt sie sich sowohl aus der Verpflichtung, Verbrechen zur Kenntnis zu nehmen, als auch, dagegen aufzustehen. Und das ist ein Freifahrtschein in die Diktatur.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.youtube.com/watch?v=4pra6GYN5qM
(2) https://www.nnz-online.de/news/news_lang.php?ArtNr=246527
(3) https://www.ndr.de/ndr1niedersachsen/Jens-Spahn-Hartz-IV-bedeutet-nicht-Armut,spahn160.html
(4) https://www.faz.net/aktuell/politik/bundestagswahl/peter-tauber-loest-mit-tweet-ueber-minijob-shitstorm-aus-15090424.html
(5) Arno Gruen: Wider den Gehorsam; 2014; Klett-Cotta
(6) http://www.fr.de/politik/obama-bilanz-der-coolste-praesident-in-der-us-geschichte-a-737478
(7) Alice Miller: Am Anfang war Erziehung; 1983; Suhrkamp


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