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Die Pfandflaschen-Ökonomie

Die Pfandflaschen-Ökonomie

Da die Politik unfähig scheint, allen ein existenzsicherndes Einkommen zu garantieren, greifen immer mehr Menschen zu einer entwürdigenden Form der Selbsthilfe.

Seit rund 20 Jahren gibt es die Hartz-IV-Gesetze. Seit dieser Zeit hat sich in den Städten eine Parallelgesellschaft herausgebildet, deren Mitglieder in den „Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf“ leben. Seit dieser Zeit können sich diese Menschen in Suppenküchen oder auch in Lebensmitteltafeln ernähren und ihr Bier im „Trinkraum“, inklusive Sozialarbeiterbegleitung trinken. Seit dieser Zeit gibt es immer mehr Menschen, die Wäsche aus den Kleiderkammern der Kirchen und Wohlfahrtsunternehmen holen, gebrauchte Kleidung in den Secondhand-Läden der Verbände anprobieren, Gegenstände für die Wohnungseinrichtung in den gemeinnützigen Möbellagern abholen, in verschiedenen „Tauschbörsen“ für sie Nützliches erhandeln und, was sie sonst noch brauchen, in den großen Sozialkaufhäusern erstehen.

Seit dieser Zeit hat sich eine Szenerie entwickelt, die durch Benefiz-Veranstaltungen, Charity-Galas und Sammlungen ganz viel „stiftet“, spendet und möglichst öffentlichkeitswirksam sich selbst vermarktet. Seit dieser Zeit hat sich ein riesiger Markt der karitativen Arbeit und Barmherzigkeit ausgebreitet.

Seit dieser Zeit hat sich der Staat immer mehr aus seiner sozialstaatlichen Verantwortung zurückgezogen und vieles dem bürgerschaftlichen Engagement überlassen. Seit dieser Zeit gibt es die „Hartz-Vierer“, die Leidtragenden, die im Arbeitslosengeld-2-Bezug festsitzen, kaum Aussichten auf eine Arbeit haben, von der man leben kann und sich mittlerweile selbst als „überflüssig“ bezeichnen.

Seit dieser Zeit versuchen immer mehr Menschen, ihr Einkommen durch das Sammeln von Pfandflaschen aufzubessern, aber auch wegen der Sehnsucht nach einer festen Tagesstruktur und einer Aufgabe, die an Arbeit erinnert. Viele Sammler wollen durch die Streifzüge in ihrem Gemeinwesen einfach wieder Teil des sozialen Lebens werden, mal rauskommen, Leute sehen, mit ihnen reden.

Dort, wo alles zur Ware wird, geht es auch beim Flaschen sammeln darum, die Mülleimer wieder zu Goldminen der Bedürftigen zu machen. Dafür werden immer mehr kreative Vorschläge von „Sparkommissaren“, umweltbewegten Aktivisten und karitativen Funktionären gemacht.

Die meisten Flaschensammler sind im Schutz der Dunkelheit unterwegs. Sie möchten nicht gesehen werden, ihnen ist das Sammeln in aller Öffentlichkeit unangenehm.

Auf das Sammeln in der Dunkelheit müssen sie sich besonders gut vorbereiten. Kleine Taschen- oder Stirnlampen gehören zur nächtlichen Ausrüstung der Pfandsammler. Die gute Sicht in die Müllbehälter schützt sie vor unliebsamen Überraschungen, Scherben, ekelhaften Essensreste, scharfkantigem Metall- und Plastikschrott oder beißfreudigen Ratten, die schnell die sammelnden Menschen nachhaltig verletzen können.

Neuerdings erschweren die Müllbehälter das Leben der Flaschensammler. Die Behälter sind nämlich nicht nach oben hin offen, der prüfende Blick in die Mülleimer ist nicht mehr so einfach möglich. Sie sind gezwungen, blind hineinzugreifen und werden möglicherweise mit den oben genannten Gefahren konfrontiert.

Das nehmen die Flaschensammler in Kauf, um ihre Grundsicherung oder Rente mit dem Pfandsammeln aufzubessern. Man schätzt den durchschnittlichen monatlichen Verdienst eines Sammlers, der täglich auf Tour geht, auf etwa 100 bis 150 Euro. Für die sammelnden Menschen stehen nicht die Einnahmen so sehr im Vordergrund, sondern für sie ist das Pfandsammeln eine gute Möglichkeit, die große Menge an freier Zeit auszufüllen, etwas Tagesstruktur zu finden und vor allem der soziale Kontakt, und wenn es nur das Pläuschchen am immer gleichen Mülleimer mit immer der gleichen Person ist.

In vielen Städten werden nun neue Wege gegangen, um die Sammler vorgeblich zu unterstützen.

Ähnlich wie die Tafeln, die auf das soziale Gewissen der Wegwerfgesellschaft setzen, verhält es sich beim Flaschenpfand. Es geht darum, die Mülleimer wieder zu Goldminen der Bedürftigen zu machen, denn monatlich 150 Euro sollte man nicht brachliegen lassen, sondern auch dieses Geld „arbeiten lassen“.

Die armen Menschen sollen sich abseits von den entwürdigenden, konkurrierenden und kräftezehrenden Überlebenskämpfen an den Tafeln, möglichst still und heimlich, rund um die Uhr ihr kärgliches Zubrot aus den Mülleimern fischen können.

Dafür werden immer mehr kreative Vorschläge gemacht.

Gemeinsam ist diesen Vorschlägen, dass sie das Problem der zunehmenden Armut in unserer Gesellschaft nicht an der Wurzel packen wollen, sondern darauf abzielen, den Menschen, die darauf angewiesen sind, das Sammeln etwas würdiger zu organisieren und in das wirtschaftliche System zu integrieren.

Ein paar Beispiele dieser abstrusen Ideen:

  • Aufkleber in der Nähe der Mülleimer anbringen, die auffordern, Pfandflaschen neben den Mülleimer zu stellen.
  • Neben Mülleimern werden Pfandboxen oder um Müllbehälter herum Pfandringe angebracht, um zu verhindern, dass sich die Sammler verletzen.
  • Aus ökologischen Aspekten sollen die Sammler Kunststoffe, Aluminium und Glas einer Wiederverwertung zuführen, um Ressourcen zu schonen.
  • Das Pfandflaschen-Sammeln wird verstaatlicht, um das wilde Sammeln von Pfandflaschen auf Amüsiermeilen und rund um Großveranstaltungen in Zukunft nicht mehr zu gestatten. Stattdessen soll es „Pfandsammel-Lizenzen“ geben, wer weiterhin wild sammelt, dem droht ein hohes Bußgeld.
  • Dieser „Schwarzarbeit“ soll Einhalt geboten werden, um so ein Verzerren der Arbeitslosenzahlen und „Ausnutzen von Sozialleistungen“ zu verhindern. Die Ordnungsämter sollen künftig Flaschenpfandsammler auf eine Lizenz hin kontrollieren. Wer keine Lizenz hat, aber sammelt, muss entweder ein Bußgeld von bis zu 4.000 Euro zahlen, oder soziale Arbeitsstunden bei einem „Pfandsammel-Lizenznehmer“ leisten.
  • Der Lizenznehmer arbeitet vertraglich geregelt direkt mit den Arbeitsagenturen und Jobcentern zusammen: Das Jobcenter stellt Ein-Euro-Kräfte zur Verfügung, streicht diese Personen aus der Statistik und senkt so die offizielle Zahl der Arbeitslosen. Die Städte und Gemeinden verdienen gut daran, denn 25 Prozent der Einnahmen gehen an den Lizenzgeber, zuzüglich 7,50 Euro pro Tag und eingestelltem Sammler. Der ganze Rest wird, nach Abzug der Gewinne, an den Sammler ausgeschüttet.
  • In den Augen der „Start Ups“ besucht der typische Flaschenpfandsammler bienenmäßig Mülleimer um Mülleimer, ohne große Erfolgsgarantie. Wenn der Sammler als Micro-Jobber mit System arbeitet, könnte er von Job zu Job laufen und die Arbeiten erledigen. Mit der Zeit würden sich beim Flaschenpfandsammeln die kleinen Beträge summieren. Einzige Voraussetzung soll ein GPS-fähiges Handy sein. Das Handy sollte das Jobcenter als Arbeitswerkzeug zur Verfügung stellen.
  • Eine besonders skurrile Idee hatte im Sommer 2021 ein Stadtratsmitglied der CSU in Hof, einen Pfandtower in der Innenstadt aufzustellen um Pfandsammlern das Suchen nach Flaschen zu erleichtern. Aktuell ist die Idee schon umgesetzt, der erste Tower steht vor der Tourist-Information. Durch die Röhrenform des Towers können die Pfandflaschen einfach in den Tower eingeschoben und verdeckt aufbewahrt werden. Gleichzeitig ermöglicht die Fläche ein bequemes Entnehmen der Flaschen. Praktisch ist auch, dass es beim Hineingeben der Flasche nicht zum Kontakt mit dem Pfandgut des Vorgängers kommt. Für den Stadtrat ist diese „bewusste Bereitstellung“ von Flaschen für Arme, zum Beispiel von den Fans einer Großveranstaltung, eine überaus menschliche Geste, die auch in anderen Orten durch seinen Tower möglich werden sollte.
  • Die Legende überliefert, dass ein Versuch der Industrie- und Handelskammer (IHK) in einer Ruhrgebietsstadt den Pfandsammler-Beruf an eine Ausbildung zu knüpfen, leider von der Arbeitsagentur beziehungsweise dem Jobcenter verhindert wurde. Die Begründung der staatlichen Institution lautet: Geregelte Ausbildungen und die damit verbundenen Arbeitsschutzgesetze sind in heutigen Zeiten nicht mehr tragbar, weil flexible, kurzfristig einstell- und kündbare Arbeitnehmer benötigt werden.

und

in der aktuellen Diskussion bezieht man sich auf die rechtliche Sachlage und fordert, Pfandsammler sollen ein Gewerbe anmelden und Steuern zahlen.

Rechtlich gelten alle Tätigkeiten mit Gewinnerzielung als gewerblich. Das Finanzministerium Nordrhein-Westfalen bekräftigte zuletzt, dass auch ein Pfandflaschensammler mit seinem Gewinn gewerbliche Einkünfte erzielt und er somit auch steuerpflichtig wird.

Streng genommen kann es zu einer Geldbuße führen, wenn jemand ohne einen Gewerbeschein ein Gewerbe ausübt.

Für das Finanzamt gilt, wenn jemand Pfandflaschen sammelt und mehr als den steuerfreien Grundbetrag von 11.604 Euro im Jahr verdient, dann muss er den überschüssigen Gewinn versteuern. Unter dem Freibetrag besteht keine Steuerpflicht und es muss auch keine Steuererklärung dafür abgeben werden.

In der Praxis wird kein Behördenvertreter die Pfandsammler nach ihrem Gewerbeschein fragen. Anders sieht es in vielen Geschäften aus. Dort werden Pfandsammler ungern gesehen. Die Rechtsgrundlage, nach der Pfand sammeln ein Gewerbe darstellt, bietet eine neue Möglichkeit, die ungeliebten „Kunden“ zunehmend zu schikanieren. Einige Geschäfte sind dazu übergegangen, dass Flaschensammler, die sich nicht mit ihrer Umsatzsteuer-Identifikationsnummer ausweisen können, mit ihren Flaschen den Laden verlassen müssen.

Pfandsammeln, Pfandgeben und Pfandnehmen wird in Zukunft das Leben vieler armer Menschen begleiten müssen, denn die Armut in Deutschland verharrt auf hohem Niveau: 16,8 Prozent der Bevölkerung leben nach den jüngsten Zahlen in Armut, wobei sich im Vergleich der Bundesländer große regionale Unterschiede zeigen. Fast zwei Drittel der erwachsenen Armen gehen entweder einer Arbeit nach oder sind in Rente, ein Fünftel der Armen sind Kinder.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Zur konkreten Lebenssituation armer Menschen — Vom Pfandsammeln, Pfandgeben und Pfandnehmen“ auf gewerkschaftsforum.de.


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Quellen und Anmerkungen:

WAZ, pfandring.de, abcsuedstadt.de, pfandgeben.de, der Paritätische 

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