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Die syrische Realität

Die syrische Realität

Der Fastenmonat Ramadan 2017 in Syrien.

Der Fastenmonat Ramadan ist für Muslime weltweit ein Monat der Besinnung. Üble Nachrede, Lügen, Verleumdung und Beleidigungen sind untersagt, Hilfsbereitschaft, Barmherzigkeit, das Nachdenken über das eigene Leben, das eigene Tun soll durch das Ruhen vom alltäglichen Tun, im Sinne von Enthaltsamkeit gefördert werden. Nach Auffassung der Gläubigen soll im Ramadan, dem 9. Monat des Islamischen Kalenders, der Koran, das göttliche Recht und Lebensregeln, über den Propheten Mohammad zu den Menschen gesandt worden sein. Als eine der fünf Säulen des Islam ist das Fasten eine Pflicht mit Ausnahmen. Sie gilt nicht für Kranke und Reisende. Auch Kinder und Schwangere sind von der Pflicht des Fastens befreit. Nach dem Sonnenuntergang wird das Fastenbrechen gefeiert, das gemeinsame Essen.

Doch die meisten Restaurants haben geschlossen, weil nicht nur der Krieg sondern auch schärfste Wirtschaftssanktionen der Europäischen Union das Wirtschaftsleben in Syrien zum Erliegen gebracht haben. Die Familien bleiben zu Hause und wer kein Zuhause mehr hat, weil er vom Krieg vertrieben oder sein Haus zerstört wurde, verbringt die Abende in den Parks, Sammelunterkünften und in Hauseingängen.

Vor dem Krieg wurde nach dem Fastenbrechen am Abend das Essen unter den Nachbarn und in Moscheen ge- und verteilt. Hotels und Restaurants boten üppige Speisen an, häufig aßen und feierten die Menschen bis tief in die Nacht. Heute fehlt es in Syrien an allem. Umso beeindruckender ist die Hilfe, die von privaten Hilfsvereinen und von vielen Freiwilligen kommt.

Ein reich gedeckter Tisch für alle

Ein alt eingesessenes Restaurant in der Altstadt von Damaskus hat aufgrund des Krieges, ausbleibender Touristen und zahlungsfähiger Gäste schon seit Jahren geschlossen. Doch jedes Jahr zu Beginn des Ramadan öffnet der Besitzer die Türen zur Küche, damit dort Essen für die Hilfsbedürftigen zubereitet werden kann. Täglich kommen Helfer und jugendliche Aktivisten, die Stunden lang Zwiebeln, Paprika, Kraut und Tomaten schnibbeln. Die Zutaten werden in großen Schüsseln gemischt, von freiwilligen Köchen mit Salz, Schwarzkümmel, Öl und Zitrone abgeschmeckt und als Salat serviert. In großen Töpfen wird derweil Reis gekocht. Die Stimmung in der Kochschar ist gut. Man lacht und singt, erzählt sich die letzten Neuigkeiten oder arbeitet einfach ruhig vor sich hin, den eigenen Gedanken nachhängend.

Abed Al Hafis Al Qasdi leitet die Initiative für gesellschaftliche Entwicklung „Bader“, die landesweit mit vielen Freiwilligen aktiv ist. Es sei bereits das 5. Jahr, in dem sie „Essen im Ramadan“ zubereiten, erzählt er. Täglich würden 5000 Mahlzeiten verteilt, oft auch mehr. Im Ramadan sei die Spendenbereitschaft für arme Menschen traditionell sehr hoch, das sei die Basis ihres Projekts. Seine Organisation nehme aber kein Bargeld an: „Wenn jemand z.B. 100.000 Lira (200$) spenden will, schicken wir ihn mit einem unserer Freiwilligen auf den Markt und kaufen zusammen mit ihm Reis, Öl, Butterfett“ und andere Dinge ein, die dann in der Küche landeten. Jeden Tag komme eine andere Gruppe, um das Essen zuzubereiten. Mal sei es eine christliche Pfadfindergruppe, mal eine Pfadfindergruppe einer Schule oder es kämen Freiwillige der Jugendorganisation der Baath Partei. 20 Aktive der Organisation „Bader“ organisierten die Arbeit in der Küche und kümmerten sich dann um die Verteilung der Mahlzeiten. „Hier in der Altstadt haben wir verschiedene Orte, wo wir das Essen verteilen. Wir bringen es auf Karren dorthin und die Leute kommen mit Schüsseln und lassen sich ihren Anteil einfüllen.“

Nicht nur an die Fastenden werde das Essen verteilt, sondern an alle Menschen, die bedürftig seien. Das Essenverteilen im Ramadan, die Speisung sei „allgemein eine syrische Tradition“, wer arm sei, erhalte seinen Anteil. „Bader“ habe 2012 in Schaarour begonnen, einem Altstadtviertel in Damaskus. Weil im folgenden Jahr die Familien des Viertels Schaarour die Speisung selber übernommen hätten, seien sie mit ihrer Gruppe ins Maktab Anbar gegangen.


Gebaut im 19. Jahrhundert als Residenz des jüdischen Händlers Yousef Anbar wurde das Gebäude nach dessen wirtschaftlichem Scheitern 1887 von der Regierung (Osmanisches Reich) konfisziert, der Bau beendet und das Gebäude dann in eine Schule umgewandelt. Bis Sommer 2011 war das Maktab Anbar Sitz von UN-Habitat und der deutschen GTZ (Gesellschaft für technische Zusammenarbeit, heute GIZ, Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit). Die GTZ bereitete damals im Rahmen eines Programms für nachhaltige Stadtentwicklung - nach dem Vorbild von Aleppo – die Sanierung der Damaszener Altstadt vor. 2011 wurden alle deutsch-syrischen Projekte gestoppt, im September folgten die ersten EU-Sanktionen. Anfang 2012 schloss die deutsche Botschaft in Damaskus. Seitdem hilft die Bundesregierung einer ausgewählten Gruppe syrischer Oppositioneller mit dem Namen „Nationale Koalition der oppositionellen und revolutionären Kräfte“ (Etilaf, Sitz in Istanbul) und „Hoher Verhandlungsrat“ (Sitz in Riad).


2014 hätten die Familien um das Maktab Anbar die Ramadan-Speisung selber übernommen und so seien die Freiwilligen von „Bader“ erneut in ein anderes Altstadtviertel umgezogen. In südlichen Stadtteilen ziehen die Freiwilligen mit dem Essen auf Karren von Haus zu Haus. Auch in Sweida (Südsyrien), in den Küstenstädten und an anderen Orten koche und verteile „Bader“ Mahlzeiten im Ramadan, so Al Qasdi: „Wenn ich mein Essen mit meinem Nachbarn teile, denke ich an ihn. Und der Arme hat genau wie der Reiche einen reich gedeckten Tisch.“

„Bader“ kommt von „Mubadera“, die Initiative

Am Anfang der Krise (2011) sei für ihn und seine Freunde alles noch normal gewesen, erinnert sich Abed Al Hafis Al Qasdi. Jeder sei mit sich selbst beschäftigt gewesen, mit dem Studium, der Arbeit, als Händler. Dann seien die ersten Inlandsvertriebenen aus den Vororten von Damaskus in die Stadt gekommen, die Situation habe sich zugespitzt. Er selber sei damals als „Direktor einer Lehranstalt an der Universität von Damaskus“ angestellt gewesen, er habe gekündigt und sich gesellschaftlich engagiert. Mit zehn Freunden und Bekannten habe er die Gruppe „Bader“ gegründet. „Das ist abgeleitet von dem Wort „Mubadera“ (deutsch: Initiative).

Später haben wir uns umbenannt in „Initiative für gesellschaftliche Entwicklung. Wir haben Spenden bei Freunden und Bekannten gesammelt, um den Flüchtlingen zu helfen. Wir haben Essen gekauft und verteilt.“ Mit der Eskalation des Krieges hätten sie mehr tun wollen, so Al Qasdi: „Wir haben Symposien und Diskussionsrunden organisiert, die sich mit verschiedenen Themen beschäftigten. Im Vordergrund stand die Frage der „Staatsbürgerschaft“, was unsere Rechte und Pflichten als Bürger seien und wie wir unser Bürgerengagement geordnet und organisiert umsetzen konnten.“

Damals habe es viele „spontane und unorganisierte Demonstrationen und Proteste“ gegeben, „Bader“ wollte es anders machen. „Wir haben Veranstaltungen in Damaskus, Qunaitra, Homs, Lattakia organisiert, um über unsere Pflichten und Rechte als Bürger zu diskutieren und darüber, wie wir unsere Forderungen vortragen und umsetzen konnten.“ Nach einem Jahr hatten sich viele junge Leute angeschlossen, viele wollten aktiv werden. Viele seien aber auch gegangen, erinnert Al Qasdi sich. Einige lebten nicht mehr, andere hätten Syrien verlassen und lebten heute in Europa. Doch immer wieder seien neue Leute dazu gekommen: „Wir leben in sehr unruhigen Zeiten. Wie alle Initiativen oder Firmen haben auch wir viele Führungskräfte verloren. Einige sind jetzt in Deutschland, in Schweden, in Frankreich oder in der Türkei.“

Auch er selber habe zwei Mal das Land verlassen. „Das erste Mal war es Ende 2015. Jeder der heute hier aktiv wird steht unter Druck. Der Geheimdienst schreibt Berichte über Dich, es gibt Drohungen, man könnte entführt werden. Ich wollte nach Europa, um dort mit den syrischen Flüchtlingen zu arbeiten.“ Ausgebildet auf dem Gebiet des „Human Recources Development“ (Personalentwicklung), “Body Language” (Körpersprache verstehen), “Communication Skills” (Kommunikationsfähigkeit) sei er zunächst in die Türkei gefahren und habe sich dort umgesehen. Die Lage der syrischen Flüchtlinge dort sei „chaotisch“ gewesen:

„Sie lebten völlig entfremdet von sich selbst, plan- und ziellos. Ihre Lebensplanung war durcheinander geraten und sie konnten nichts mehr für die Zukunft planen.“ Er sah keine Möglichkeit für sich, dort zu arbeiten und sei nach Syrien zurückgekehrt. „Bader“ hatte große Fortschritte gemacht, vier Gruppen arbeiteten mit Tausenden Inlandsvertriebenen. Sie erhielten Lebensmittelspenden, organisierten Schulunterricht für die Kinder und arbeiteten mit den Menschen in vielen Kursen. Dennoch habe er sich ein zweites Mal entschieden, Syrien zu verlassen, so Al Qasdi. Über die Türkei und Griechenland wollte er nach Deutschland kommen. „Aber in Griechenland habe ich mich anders entschieden. Ständig erhielt ich per WhatsApp Nachrichten von meinen Freunden und unseren Freiwilligen bei „Bader“. ‚Abed, wir warten auf Dich. Viele Familien hier brauchen Hilfe, sie wollen Kurse, Ausbildung, komm zurück‘.“ Er sei hin- und hergerissen gewesen. Sollte er zurück in den Krieg und ins ungewisse Syrien oder sollte er seine persönliche Ruhe und Arbeit in Europa suchen?

„Anfang 2016 habe ich mich entschieden zurückzukehren. Und natürlich gab es weiter Probleme und Drohungen, auch vom Geheimdienst. Dann wurde ich als Reservist wieder in die Armee eingezogen. Grundsätzlich habe ich damit kein Problem, aber ich wollte meine Arbeit weitermachen. Ich wurde dann durch eine Granate am Knie und am Arm verletzt und musste zwei Monate untertauchen. Aber glücklicherweise kennen mich viele Leute in einflussreichen Positionen, die sich für mich eingesetzt haben, weil sie meine Arbeit schätzen. Darum konnte ich weitermachen.“

Die Arbeit von „Bader“ geht heute weit über die Ramadan-Speisungen hinaus. Es werden humanitäre und entwicklungspolitische Projekte angeboten. Inlandsvertriebene werden ausgebildet, um wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden zu können. Allein in Damaskus arbeiten heute 400 Freiwillige, die geschult und für Leitungspositionen ausgebildet werden. Zwei Mal im Jahr werden Erhebungen über die Bedürfnisse der vertriebenen Familien erstellt, so Al Qasdi: „Woher kommen sie, wie groß ist die Familie, wie viele Kinder gibt es, gibt es Behinderte, Analphabeten? Können die Männer und Frauen arbeiten?“ Die erhobenen Daten helfen bei der Organisation und bei der Entscheidung, wo welche Hilfe gebraucht wird. Die Pläne für das kommende Jahr stehen schon fest. Ein Wohltätigkeitsbasar soll organisiert werden, um selbst hergestellte Produkte der Inlandsvertriebenen zu verkaufen. „Wir haben so viele Witwen, ihnen wollen wir helfen, Arbeit zu finden und davon auch zu leben.“

Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit NN, Damaskus.


Foto: Karin Leukefeld
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