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Die toten Augenblicke

Die toten Augenblicke

Ein unheimliches Video von einer Neujahrsfeier auf den Pariser Champs-Élysées ging im Netz viral. Es zeigt, dass die Menschheit 2024 dabei ist, vollständig in der virtuellen Welt zu versacken.

„Lass diesen Augenblick in seinem Sosein. Das genügt“
(Eckhart Tolle)

An den Jahresübergang von 2014 auf 2015 wird sich einer meiner damaligen Freunde vermutlich nicht mehr erinnern. Und dass, obwohl er physisch anwesend war und bei den vorangegangenen Feierlichkeiten nicht zu tief ins Glas geblickt hatte. Doch während ich mit meinen Augen die farbenfrohe Pyro-Pracht am Abendhimmel bewunderte, hantierte besagter Freund unbeholfen auf seinem Smartphone herum. Vergeblich versuchte er, die am Himmel binnen Sekunden aufgehenden Lichtblüten einzufangen. Doch seine Smartphonekamera filmte das Spektakel viel zu überbelichtet. Er stupste mich aufgeregt an und fragte mich, was er an den Kamerasettings ändern müsse, damit er die Explosionen besser erfassen könne. Entnervt wies ich ihn an, er solle doch einfach sein blödes Smartphone wegstecken und — wie ich — das Erlebnis mit eigenen Augen genießen. Das Video selbst würde er sich nie wieder ansehen. Und selbst wenn, könne er es immer wieder an-schauen — den Moment sehen und erleben, könnte er nur jetzt. Zum Glück zeigte er sich einsichtig und steckte den Energieräuber weg, den er zuvor zwischen sich und seinem eigenen Glück gehalten hatte.

Dieses Phänomen war vor knapp zehn Jahren noch auf eine überschaubare Zahl an Einzelfällen beschränkt. Doch konnten viele kritische Menschen schon damals beobachten, wohin das führen würde, das Absaugen von Erlebnissen, weg von dem eigenen sinnlichen Erlebnisschatz hin zur elektronisch-tragbaren Datenbank.

Im Jahr 2014 beobachtete ich bereits bei einer Kroatienreise ein ähnliches Phänomen. Eines Abends wurde an der nördlichen Adria-Küste ein imposantes Feuerwerk in den Nachthimmel geschossen — fast imposanter als das Feuerwerk zu Silvester. Dabei betrachtete ich an der Strandbar eine Frau mittleren Alters, die mit ihrem Smartphone das Pyrolichterspiel aufzeichnete. Körper und Mimik ganz starr, so filmte sie die Farbexplosionen, mit einer emotionalen Beteiligung beim Filmen, wie man sie von Bereitschaftspolizisten kennt, die bei Demonstrationen mit Camcordern die Menge aufzeichnen.

Fast zehn Jahre sind seither vergangen, und was vorher ein vereinzelt auftretendes Phänomen war, hat nun pandemische Ausmaße angenommen. Zum Jahreswechsel 2023/24 ging ein Video viral, von einer öffentlichen Neujahresfeier auf der Pariser Champs-Élysées.

PARIS NEW YEAR 2024 - Champs-Élysées FIREWORKS - FOGOS DE ARTIFÍCIO - #fireworks #fogosdeartifício

Was wir hier sehen, ist gespenstisch. Tausende Pariser schauen dem Neujahresbeginn entgegen, der mit einem auf den Arc de Triomphe de l’Étoile projizierten Countdown angekündigt wird. Die Pariser schauen … durch das Display ihres filmenden Smartphones. Die berühmte Straße ist von dem kühlen Licht der hellblauen Smartphone-Displays erleuchtet. Als die Ziffern sich von „00:00“ in „2024“ verwandeln und ein riesiges Feuerwerk emporsteigt, sind die Reaktionen verhalten. Einige Jubelschreie, doch die allermeisten der teilnahmslosen Teilnehmer sind damit beschäftigt, den „Augenblick“ auf ihrer Kamera festzuhalten und sich selber von selbigem fernzuhalten.

Was haben rund eineinhalb Jahrzehnte des Smartphones nicht nur aus den Franzosen gemacht? Für gewöhnlich ist es zum Neujahresbeginn französischer Brauch, sich um Mitternacht in — teils wildfremde — Arme fallen zu lassen und ungehemmt Küsschen zu verteilen. Nichts davon sehen wir auf diesem Video.

Online immer, Offline nimmer

„Das Sehen selbst wird an den Apparat delegiert.“
(Byung-Chul Han)

Angesichts dieses Videos sollten wir uns die Frage stellen: Leben wir bereits im Metaverse, in der Matrix?

In diesem Clip wird die reale, das heißt analoge Champs-Élysées von den digitalen Screens in den digitalen Äther eingesogen. Der Filmtheoretiker Francesco Casetti beschäftigte sich eingehend mit der Beschaffenheit von Screens. Diese können nach dem Medientheoretiker Lev Manovich unterteilt werden in klassische wie Fotos, Plakate, eingerahmte Bilder und Fenster und dynamische wie Smartphones, öffentliche Infoscreens und digitale Werbetafeln, TV und ebenfalls Fenster. Letzterer Typ ist für diese Betrachtung von besonderer Bedeutung.

Casetti schreibt dem Screen drei wesentliche Bestandteile zu: die Oberfläche, den Rahmen und die Spiegelfunktion.

  • Die Oberfläche ist der Filter zwischen dem analogen Raum und dem, was sich jenseits des Screens befindet: ein Bild, der Raum jenseits des Fensters oder eben die digitalen Benutzeroberflächen und Medieninhalte der digitalen Endgeräte.
  • Der Rahmen begrenzt die genannte Oberfläche und bildet folglich die Pforte zwischen dem analogen und dem digitalen Raum jenseits der Oberfläche.
  • Unter der Spiegelfunktion versteht Casetti unsere Identifikation mit den auf der Oberfläche gezeigten und von dem Rahmen eingegrenzten Inhalten und Räumen jenseits des Screens. Wir identifizieren uns in irgendeiner Weise mit den Medieninhalten des Screens, sei es mit einer Malerei, einem Fernsehprogramm oder den vielschichtigen Inhalten, die die digitale Sphäre für uns bereithält. Bei einem Fenster identifizieren wir uns mit dem Blick nach draußen mit unserem geographischen In-der-Welt-Sein: Was wir vor dem Fenster sehen, ist der Ort, an dem wir uns befinden, wir machen daran fest, wo in der Welt unser Sein stattfindet (1).

In der Natur des dynamischen Screens liegt es, dass der dahinter liegende Raum des Digitalen den analogen Raum diesseits des Screens dominiert. Wohl evolutionsbedingt können wir Menschen nicht umhin, unseren Blick dahin zu wenden, wo sich etwas tut, wo etwas in Bewegung ist. Manch einer wird das aus Lokalen kennen, die unsäglicherweise mit einem Fernseher ausgestattet sind, dessen umrahmte Oberfläche stets unseren Blick einfängt und uns den analogen Raum vergessen lässt, in dem wir uns physisch befinden.

Auf der Champs-Élysées haben wir nun nicht einen, sondern ein ganzes Sternenmeer an Bildschirmen. Und wie echte Sterne üben diese Screen-Sterne eine Gravitationskraft aus. Alles beginnt sich, um diese Sterne zu drehen, von ihnen angezogen zu werden und von dem Licht aus dem Rahmen verschluckt zu werden.

Tom-Oliver Regenauer schrieb über den Energieraub-Effekt des Smartphones kürzlich einen sehr bemerkenswerten Beitrag. In diesem konstatiert er:

„(D)as Smartphone (hat) unsere eigene (Energie) bereits zu großen Teilen absorbiert. Als zapfe das Gerät beim Ladevorgang nicht nur den Strom aus der Steckdose an, sondern auch unseren persönlichen Akku. Unsere Lebensenergie. Unsere mentale Kapazität. (…) Starrer Blick. Permanent online. Orte ohne Netzabdeckung oder WLAN werden gemieden. ‚Generation Kopf unten‘, nennt man sie. Die Welt zieht an ihnen vorbei, wird nur noch bedingt wahrgenommen. Die Augen leer und teilnahmslos. Das Gesicht blass, aber hell beleuchtet vom hochtaktigen Flimmern des Displays. In Gruppen sind sie gemeinsam einsam.“

Genau das zeigt der Clip. Eine Vielzahl an Menschen, die gemeinsam einsam sind. Nur wenige Franzosen können sich in dieser Szenerie dem Bann entziehen. Wer ganz genau hinsieht, der sieht vereinzelte, wie aus der Zeit(enwende) gefallene Menschen, die den Moment leben, erleben, ihn mit Tanz oder Jubelrufen zelebrieren. Um diese ewiggestrig Lebendigen befindet sich das reine Nichts.

Der Großteil dieser Masse besteht aus Menschen, die den Moment nicht erleben können, weil sie damit beschäftigt sind, den Moment festhalten, um sich später an einen Moment erinnern zu können, den sie gar nicht als Moment erlebt haben.

Der Begriff „Moment“ entspringt unter anderem dem mittelhochdeutschen „mōmente“, was so viel bedeutet wie Augenblick. Dieser Text hier trägt nicht zufällig den Titel „Die toten Augenblicke“. Denn genau das liegt hier vor: ganz viele tote Augenblicke. Ein Augenblick ist, wie es das Wort bereits zum Ausdruck bringt, ein Blick, den man mit den Augen macht. Doch hier blicken keine menschlichen Augen, sondern elektronische Kameras, Linsen. Die Blicke der Menschen mäandern zwischen der analogen Realität und dem in Händen gehaltenen digitalen Screen, der ebendiese Realität des Analogen innerhalb des Screenrahmens in den digitalen Raum, den digitalen Äther überführt.

Analoges und Digitales verschwimmt zugunsten des Letztgenannten. Dieser Videoclip veranschaulicht auf erschreckende Weise, dass ein gewichtiger Teil der Menschen bereits an der Türschwelle zum Metaverse steht. Werden potenzielle Augenblicke in der analogen Welt von den meisten Menschen zerstört, weil sie mit der Reflexhaftigkeit eines Niesers die Smartphonekamera zücken und diese trennend zwischen ihr Auge und das Ergebnis halten, dann ist es nicht mehr weit hin, sich gleich mit VR-Brillen und Sensoren in ein virtuelles Metaverse zu begeben. Und dann sind wir schon sehr nah an der Matrix, wie wir sie aus der gleichnamigen Trilogie der Wachowski-Brüder kennen.

Das Video von der Champs-Élysées bekommt man manchen Stellen durch die farbliche Bildaufteilung auf der Horizontalachse eine Meta-Ebene, dann nämlich, wenn rote Feuerwerkskörper am Nachthimmel zerplatzen. In diesen Sekundenbruchteilen ist der obere Bildteil rosa-rot erleuchtet, während das Smartphone-Screen-Meer in blaues Licht getüncht bleibt. Sie erinnern sich vielleicht noch an die zwei Kapseln aus dem ersten Matrix-Film. Die rote Pille bedeutet den Exit aus der Matrix und den Eintritt in die Realität, die blaue Pille hingegen lässt jeden, der sie schluckt, in der Matrix zurück.

Bild

Eine unfreiwillige Farb-Allegorie für die rote und die blaue Pille.

Genau in Richtung einer solchen Matrix bewegt sich die Welt hin, hin zu einer digital-dementen Republik, deren gestalt- und gesichtslose Führer rufen: „Online immer, offline nimmer!“

Geschosse sind nicht für die Ewigkeit

„Fotografier‘ mir die Finger wund, akribischer Hintergrund /
Ich bin hier nicht zum Spaß, ich produziere Erinnerung /
Erinnerung für finst‘re Stunden / “

(Alligatoah „Wie Zuhause“)

Darüber hinaus entbehrt doch nicht einer gewissen Ironie, dass diese Orgie des Moment-Einfangens genau im Zusammenhang mit einem Event viral ging, das wie kein zweites im Jahr mit dem Zelebrieren der Zeit verbunden ist: Silvester. Wohl zu keinem Zeitpunkt im Jahr ist der Mensch sich so sehr der exakten Uhrzeit bewusst, wie in diesen Stunden, Minuten und Sekunden. Doch genau in diesem alljährlich wiederkehrenden Moment, der potenziell unvergesslich ist, wird ebendieser Moment mit einem digitalen Endgerät ein-gefangen. Das bloße Sosein des Moments scheint nicht zu genügen. In „Ansichten des Digitalen“ bemerkt der Philosoph Byung-Chul Han sehr treffend:

„Das digitale Medium vollendet jene ikonische Umkehrung, die die Bilder lebendiger, schöner, besser erscheinen lässt als die mangelhaft wahrgenommene Realität (…) Heute produzieren wir mithilfe des digitalen Mediums Bilder in enormer Menge. Auch diese massive Bildproduktion lässt sich als eine Schutz- und Fluchtreaktion deuten. Heute erfasst der Optimierungswahn auch die Bildproduktion. Wir flüchten uns in die Bilder angesichts der als unvollkommen empfundenen Realität“ (2).

Er stellt dabei einen Bezug her zu einer psychischen Störung, die passenderweise Paris-Syndrom genannt wird. Darunter wird gemeinhin der zumeist unter japanischen Touristen auftretende Kulturschock verstanden, wenn diese bei ihrem Parisbesuch mit der Dissonanz zwischen dem schönen Klischee und der grausamen Realität der Stadt konfrontiert werden. Han beschreibt die „fast hysterische Neigung der japanischen Touristen, Fotos zu machen“ als eine „unbewusste Schutzreaktion (…), die darauf abzielt, das erschreckend Reale durch Bilder zu bannen. Schöne Bilder als Idealbild schirmen sie von der schmutzigen Realität ab“ (3).

In dieser Silvesternacht haben wir es freilich mit einem umgedrehten Paris-Syndrom zu tun. Es werden keine Idealbilder geschossen, um eine unschöne Realität zu verdrängen. Es werden Idealbilder geschossen, weil den „Fotografen“ anscheinend die an und für sich ausreichend schöne Realität einer öffentlichen Silvesterfeier ob ihrer Flüchtigkeit und Vergänglichkeit nicht genügt. Nein, der Moment muss konserviert werden, muss in Zukunft als Beleg herhalten, um beweisen zu können, dass man „dabei war“. Aber war man denn wirklich dabei? Oder war man nur physisch anwesend, um das, wo man dabei zu sein gedachte, per Smartphone festzuhalten? Festzuhalten, um eben diesen audiovisuellen Beleg zu erhalten, den man auf Social-Media wiederum gegen Likes, Herzen und Kommentare eintauschen kann?

Im Grunde genommen versammeln sich hier tausende Menschen, um mit einem digitalen Medium Erinnerungen festzuhalten, die sie nicht gemacht haben.

Auch bei dem digitalen Medium gilt nach Marshall McLuhan wieder einmal, dass das Medium „the massage / message“ ist. Über den Gegensatz zwischen digitaler und analoger „Fotografie“ führt Han weiter aus:

„Das digitale Medium ist ohne Alter, Schicksal und Tod. In ihm ist die Zeit selbst eingefroren. Es ist ein zeitloses Medium. Das analoge Medium leidet an der Zeit. (….) Das digitale Bild, das digitale Medium dagegen (gegenüber der analogen Fotografie, Anmerkung des Autors) geht mit einer anderen Lebensform einher, in der sowohl das Werden als auch das Sterben ausgelöscht sind. Eine permanente Präsenz und Gegenwart zeichnet es aus. Das digitale Bild erblüht und erglänzt nicht, denn dem Erblühen ist die Negativität des Verwelkens, dem Glanz die Negativität des Schattens eingeschrieben“ (4).

In „Undinge“ führt er diesen Gedanken zur Fotografie im Kapitel über „Selfies“ in Bezugnahme auf Roland Barthes weiter aus:

„Das analoge Foto ist ein Ding. Nicht selten hüten wir es sorgsam wie ein Herzensding. Seine fragile Materialität setzt es dem Altern, dem Verfall aus. Es wird geboren und erleidet den Tod (…). Als fragiles Ding ist die Fotografie zwar dem Tod geweiht, aber sie ist gleichzeitig ein Medium der Auferstehung. Sie fängt Lichtstrahlen ein, die von ihrem Referenten ausgehen, und hält sie auf Silberkörnchen fest. Sie ruft nicht bloß die Toten ins Gedächtnis zurück. Vielmehr macht sie eine Präsenz-Erfahrung möglich, indem sie sie wieder lebendig werden lässt. (…) Das digitale Medium zerreißt die magische Beziehung, die das Objekt übers Licht mit der Fotografie verbindet. Analog bedeutet ähnlich. Die Chemie hat ein analoges Verhältnis zum Licht. (…)

Es gibt hingegen keine Ähnlichkeit, keine Analogie zwischen Licht und Zahlen. Das digitale Medium übersetzt das Licht in Daten. Das Licht geht dabei verloren. In der digitalen Fotografie weicht die Alchemie der Mathematik. Sie entzaubert die Fotografie. Die analoge Fotografie ist eine ‚Beglaubigung von Präsenz‘. Sie legt Zeugnis ab für das ‚Es-ist-so-gewesen‘. (…) Die analoge Fotografie als Erinnerungsmedium erzählt eine Geschichte, ein Schicksal. Ein romanhafter Horizont umgibt sie (…). Die digitale Fotografie ist nicht romanhaft, sondern episodisch. Das Smartphone lässt eine Fotografie mit ganz anderer Zeitlichkeit entstehen, eine Fotografie ohne temporale Tiefe, ohne romanhafte Weite, eine Fotografie ohne Schicksal und Erinnerung, nämlich eine Augenblickfotografie. (…)

Selfies werden nicht gemacht, um aufbewahrt zu werden. Sie sind kein Erinnerungsmedium. Aus ihnen stellt man daher auch keine Abzüge her. Wie jede Information sind sie an die Aktualität gebunden. (…) Selfies werden nur einmal zur Kenntnis genommen. Danach gleicht ihr Seinsstatus dem einer abgehörten Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Die digitale Bildkommunikation entdinglicht sie zur reinen Information“ (5).

Der Korrektheit halber muss hinzugefügt werden, dass die Smombies von Paris in diesem Moment überwiegend gefilmt und keine Fotos geschossen haben. Der Unterschied nimmt sich allerdings nicht viel. Im Grunde genommen stellen Videoclips eine Aneinanderreihung von Handyfotos dar. Häufig werden diese auch als Einzelbild extrahiert und zweitverwertet, um dann den „Seinsstatus“ „einer abgehörten Nachricht“ zu fristen.

Das Argument des „Erinnerungen-Aufbewahren-Wollens“ nennen Menschen mit „Foto-Knipseritis“ zuerst, spricht man sie darauf an, warum sie den Moment nicht einfach genießen. Sie könnten sich nämlich — so wird dann häufig weiter ausgeführt — später nicht mehr an diese Augenblicke erinnern. Die Henne-Ei-Frage wird dabei von ihnen nicht gestellt, nämlich die, was zuerst da war: das schlechte Erinnerungsvermögen oder das Nicht-Erinnerungsmedium der digitalen Bildproduktion?

Direkter gefragt: Könnte es sein, dass „man“ sich nicht mehr an diese Augenblicke erinnern kann, weil „man“ diese Momente von Augen- zu (Kamera)Linsenblicken gemacht hat?

Das zwangsneurotische Abfilmen eines jeden Augenblicks ist der lebendigen Erinnerung außerordentlich abträglich. Im Wort „Erinnern“ steckt der Begriff „Innern“. Eine echte Erinnerung steckt in unserem Inneren. Was viele Menschen, wie die in Paris, machen, könnte man mit dem Neologismus „Erexternalisieren“ — statt „Erinnern“ — beschreiben: Die potenzielle Erinnerung wird auf einen Datenträger externalisiert und entschwindet damit unserem Gedächtnis.

Das Kulturwissenschaftlerpaar Aleida und Jan Assmann unterscheidet dabei zwischen einem lebendigen, selektiven und subjektgebundenen Funktionsgedächtnis – wie wir Menschen über ein solches verfügen — und einem unlebendigen, aber alles Abgespeicherte erfassenden Speichergedächtnis, wie wir es von Festplatten, SD-Karten und Cloud-Diensten kennen (6). Wenn wir nun alles abknipsen, statt es mit eigenen Sinnen bewusst zu erfassen, verschleißen wir nicht nur unser Erinnerungsvermögen, sondern verlagern unser Erlebtes auf ein Speichermedium, welches nicht unserer Kontrolle unterliegt.

Das zunächst schleichende, aber sich immer schneller vollziehende Hinabgleiten des Menschen in die digitale Matrix verlangt eine Entwurzelung des Menschen, die sich eben mit dieser Auflösung von Raum und Zeit vollzieht.

Eckart Tolle — man mag von ihm halten, was man will — bezeichnet zurecht alles als Illusion, was jenseitig der Gegenwart ist, also Vergangenheit und Zukunft. Nur das „Jetzt“ ist real. Bis jetzt. Denn selbst das „Jetzt“ ist im Verschwinden begriffen, wenn der Moment durch den Sog der digitalen „Foto-Knipseritis“ vernichtet wird. Raum und Zeit verschwinden, aufgesogen im Frame des digitalen Screens. Die Menschen sind nicht mehr anwesend in der Gegenwart, die Vergangenheit beziehungsweise die Erinnerung daran liegt vergessen in der Cloud abgespeichert und die Zukunft wird bereits durch die Big-Data-Vorhersageprodukte des Überwachungskapitalismus nach Shoshana Zubhoff bestimmt (7).

Die unheimliche Neujahresfeier in Paris kann auch als posthumanistische Totenmesse betrachtet werden. Die für einen solchen Anlass gespenstische Stille ist ja immerhin schon fast gegeben. Als posthumanistische Totenmesse lässt sich dieses Spektakel deswegen bezeichnen, denn — und nochmals: „the medium is the message“(!) — mit dem digitalen Medium, welches hier Tausende in Händen halten, wird genau das angestrebt, wonach technische Posthumanisten trachten: Die Überwindung der Vergänglichkeit auf Kosten der Lebendigkeit.

Was etliche Menschen anstreben, die Tod und Krankheit als zu lösendes Problem betrachten, sehen wir hier auf einer Metaebene. Nicht umsonst habe ich weiter oben Han so ausführlich zitiert. Seine Beschreibung der analogen Fotografie ist sehr elementar für das Verständnis dessen, was sich hier zugetragen hat. Bei dieser posthumanistischen Totenmesse wird ein lebendiger und sehr flüchtiger Moment — das Feuerwerk — auf einem quasi unsterblichen Medium festgehalten, zum Preis, dass der das Bild knipsende Mensch ihn nicht mit Lebendigkeit erlebt. Der Moment existiert — statt in einem Subjekt weiterzuleben — fortan nur noch als Datensatz auf einem Speichermedium, welches trotz seiner Digitalität nicht unsterblich ist.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Ähnlichkeit, die Beziehung zwischen der analogen Fotografie und dem Feuerwerk. Beides — Fotos und Raketen — kann man schießen. Beides blitzt für einen kurzen Moment helllicht auf. Und beides ist durch — unterschiedlich schnell eintretende — Vergänglichkeit charakterisiert. Der Daseinszweck der Silvesterrakete beschränkt sich auf die wenigen Sekunden des Emporfliegens und der noch weniger Sekunden andauernden Lichtexplosion. Hernach fällt die leblose Hülle vom Himmel. Und die Fotografie — wie Han sie beschreibt — „fängt Lichtstrahlen ein, die von ihrem Referenten (in unserem Fall die Silvesterrakete, Anmerkung des Autors) ausgehen, und hält sie auf Silberkörnchen fest.“ Und hernach wird die „fragile Materialität (des analogen Fotos) (...) dem Altern, dem Verfall aus(gesetzt). Es wird geboren und erleidet den Tod (…).“

Geradezu lachhaft wirkt es, etwas von Natur aus so Flüchtiges wie ein Feuerwerk — ob nun analog oder digital – einfangen zu wollen. Der Filmemacher Andrej Tarkowskij unterscheidet zwischen „Schauen“ und „Sehen“. Ein Feuerwerk sehen, das heißt, es erleben, kann man nur, wenn die eigenen Augen ungefiltert den Augenblick einfangen und auch alle weiteren Sinne von ihm in Beschlag genommen werden — wenn wir das Donnern in den Ohren hören, den Detonationsdruck in der Magengrube und die Hitze auf der Haut spüren und den Rauch in der Nase wahrnehmen. Nachträglich können wir ein Feuerwerk — etwa auf dem Smartphone — nur anschauen. Denn das undingliche „Filmmaterial“ ist dann visuell überbelichtet und der Ton vollkommen übersteuert. Die restlichen Sinne kommen gar nicht auf ihre Kosten.

Ein Feuerwerk kann man im Grunde genommen nur erleben. Nichts symbolisiert binnen so kurzer Zeit die Geburt, das Leben und den Tod wie eine aufsteigende Silvesterrakete.

Ihre Nabelschnur ist der hinter ihr sprühende Feuerschweif, ihr Dasein ist die Lichtexplosion und ehe der in weiter Ferne stehende Betrachter ihren donnernden Laut vernimmt, ist sie auch schon wieder erloschen.

Wer weiß … Vielleicht muss einem der Smombies von Paris — oder anderorts — die leichte Hülle einer solch ausgebrannten Silvesterrakete auf den Kopf plumpsen, sodass er oder sie aus seiner digitalen Hypnose erwacht? Vielleicht entspricht diese herabfallende Hülle dem herabfallenden Scheinwerfer aus der allgegenwärtigen Truman-Show?

„Dann geht halt rüber!“

Dieser Beitrag soll mit einem konstruktiven Vorschlag schließen. Im Vorangegangenen wurde herausgearbeitet, dass die Schwelle hin zum Metaverse bereits beschritten wurde. Es fehlt nicht mehr viel. Darüber hinaus gab es viele Anspielungen auf die DDR: Digital-Demente-Republik oder abgeleitet von Erich Honecker „Vorwärts immer, rückwärts nimmer“, „Online immer, offline nimmer“. Wer in der alten Bundesrepublik etwas zu Nörgeln hatte, bekam schnell ein flapsiges „Dann geh doch nach drüben“ zu hören.

Wer weiß … Vielleicht liegt in diesem neuen „Rüber gehen“ eine Lösung. Das „da drüben“ ist natürlich nicht mehr das Jenseits einer Mauer, sondern der komplett virtuelle Raum in 3D, so wie er von Meta angedacht ist.

Im vergangenen Jahr hat die KI in ihrer Entwicklung gigantische Sprünge gemacht. Wer weiß, in welchem Entwicklungsstand sich Meta Ende 2024 befinden wird.

Sollte die Entwicklung bis dahin entsprechend weit gediehen sein, wäre es dann nicht denkbar, dass alle Menschen vom Schlag derer, die in Paris apathisch das Feuerwerk filmten, ab sofort Silvester im Metaverse feiern? Damit würden sich auch all die emotionalen Debatten um das Böllerverbot erübrigen. Weil dann wird ab sofort einfach nur noch virtuell geböllert.

Das Lichtspektakel lässt sich dann sicherlich auch noch individuell in Form und Farbe dem eigenen Geschmack entsprechend anpassen. Gefilmt werden muss dann nichts mehr, weil sowieso alles im Metaverse gespeichert wird.

Das Silvester-Feiern im Metaverse wäre auch hilfreich mit Blick auf die junge „Event- und Partyszene“ in Berlin, die droht, ihre Ausschreitungen zur silvesterlichen Tradition werden zu lassen. Vielleicht kann Olaf Scholz noch ein wenig Sondervermögen locker machen, um beim Game-Produzenten „Rockstar Games“ ein Virtual-Reality-Leveldesign für ein „Grand Theft Auto Neukölln“ zu ordern. Mit dem anstehenden „Grand Theft Auto VI“ haben die Game-Programmierer durchschimmern lassen, was grafiktechnisch in Sachen virtuellem Fotorealismus dieser Tage schon möglich ist.

Was spräche also dagegen, nicht mehr genutzte Wärmehallen oder Coronaimpfzentren mit Gaming-Stühlen, VR-Brillen und guten Headphones zu bestücken und es damit der „Event- und Partyszene“ zu ermöglichen, sich in einem virtuellen Neukölln ungestüm auszutoben, ohne dass dabei irgendjemand zu Schaden kommt? Die Berliner Polizei müsste nicht mehr darum betteln, nicht angegriffen zu werden, in der Atmosphäre wäre es prima für‘s Klima und die AfD hätte darüber hinaus weniger politisches Kapital. Und wir, die Antiquierten, die immer noch am analogen Leben festhängen, könnten endlich wieder ungestört und in lebensbejahender Weise das neue Jahr willkommen heißen.

Dieser „konstruktive Vorschlag“ war natürlich sarkastisch und überspitzt. Doch er sollte die Absurdität der gegenwärtigen Zeitqualität sichtbar gemacht haben. Letztendlich können wir dem Phänomen von Paris sogar dankbar sein, immerhin führt es uns in aller Deutlichkeit vor Augen, wie dramatisch die Mehrheit der Menschen mittlerweile entwurzelt ist.

Für gewöhnlich heißt es ja, es sei am dunkelsten, bevor es wieder hell wird. Aber es ist ja gerade die Helligkeit der vielen Smartphones, die charakteristisch für den Missstand ist. Somit könnten wir schließen, dass die Verblendung wohl am grellsten ist, ehe der falsche Schein sich wieder zu dimmen beginnt und wir statt eines maschinellen Displayfirmaments wieder das Sternenfirmament des Zwischenmenschlichen zu sehen bekommen. Von diesem können wir zehren, wahrhafte Augenblicke erleben, die in uns weiterleben, sodass wir eines — hoffentlich — fernen Tages in unserem Sterbebett nicht auf dem Smartphone durch eine digitale Bildergalerie scrollen, um dann zu erkennen, was wir alles verpasst haben.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Vergleiche Casetti, Francesco: „The Lumiere galaxy - Seven key words for the cinema to come“, New York, 2015,
Seite 157 bis 159.
(2) Siehe Han, Byung-Chul „Im Schwarm: Ansichten des Digitalen“, Berlin, 2013, Matthes & Seitz, Seite 40 Fortfolgende.
(3) Siehe Ebenda, Seite 41 Fortfolgende
(4) Siehe Ebenda, Seite 43 Fortfolgende
(5) Siehe Han, Byung-Chul: „Undinge: Umbrüche der Lebenswelt“ Berlin, 2021, Ullstein, Seite 39 Fortfolgende.
(6) Vergleiche Assmann, Aleida; Assmann, Jan: „Das Gestern im Heute — Medien und soziales Gedächtnis“, in Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt, Siegfried Weischenberg (Herausgeber): „Die Wirklichkeit der Medien — Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft“, Wiesbaden, 1994, Seite 121 bis 122.
(7) Vergleiche Zuboff, Shoshana: „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“, Frankfurt am Main, 2018, Seite 385.

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