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Die Ukraine, Russland und der Westen

Die Ukraine, Russland und der Westen

Das richtige Verständnis der derzeitigen Krise setzt fundierte Kenntnisse der ukrainischen Geschichte voraus. Exklusivauszug aus „Russland verstehen“.

Im Dezember 1991 erklärte sich die Ukraine im Zuge der Auflösung der Sowjetunion für unabhängig. Wohin sollte sie sich wenden? Nach Westen, wo der Wohlstand zu liegen schien? Nach Russland, wohin die Bindungen aus den letzten Jahrhunderten wiesen und das durch die russische Sprache und eine starke russische Minderheit in der Ukraine verankert war? Musste sie überhaupt zwischen diesen beiden Optionen wählen? Angesichts ihrer Geschichte, ihrer inneren Zerrissenheit und ihrer geostrategischen Lage wäre es sicher besser für das Land gewesen, wenn ihm diese Entscheidung erspart geblieben wäre. Letztlich hätte die Ukraine nur dann eine Chance auf eine friedliche Entwicklung gehabt, wenn es ihr gelungen wäre, eine Art Brückenfunktion zwischen Ost und West einzunehmen und sich dem Gezerre zu entziehen, das unmittelbar nach der Unabhängigkeit von allen Seiten einsetzte. Dass sich dabei die Motive auf keiner Seite in selbstloser Menschenfreundlichkeit erschöpften, muss nicht ausdrücklich betont werden.

Seit wann gibt es „die“ Ukraine? Auf diese einfache Frage fällt eine einfache Antwort schwer, was Teil des aktuellen Problems ist. Denn selbst innerhalb des Landes ist die Antwort umstritten.

Ein Blick in die Geschichte: Ausgerechnet die Hauptstadt Kiew ist mit der Geburtsstunde des Russischen Reiches untrennbar verbunden.

Im Jahre 882 entsteht die Kiewer Rus, die erste aktenkundige Staatengründung auf diesem Territorium. Über Jahrhunderte hinweg wechselte das Gebiet der heutigen Ukraine zwischen den angrenzenden Mächten hin und her. Seit den Teilungen Polens (1772 bis 1795) gehörte das katholisch geprägte westliche Randgebiet zu Österreich-Ungarn, der orthodoxe Rest zum Russischen Zarenreich, das sich im Laufe des 18. Jahrhunderts auch das lose mit dem Osmanischen Reich verbundene Khanat der Krimtataren im Süden der heutigen Ukraine einverleibt hatte.

Wann genau sich die Ukrainer selbst als eine eigene ethnische Gemeinschaft beziehungsweise eine Nation sahen, ist umstritten. Erste Ansätze gehen wohl bis ins 16. Jahrhundert zurück. Allerdings ist wichtig zu wissen, dass das Gebiet der heutigen Ukraine nie ausschließlich von Menschen bewohnt wurde, die sich als Ukrainer begriffen. Aufgrund seiner geographischen Lage und seiner wechselvollen Geschichte gab es dort immer starke ethnische sowie religiöse Minderheiten, seien es Russen, Polen, Deutsche, Rumänen, Tschechen oder Juden und Muslime.

Nach der Oktoberrevolution und dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns am Ende des Ersten Weltkriegs bildeten sich kurzzeitig eine Westukrainische Volksrepublik auf dem ehemals habsburgischen Territorium und eine Ukrainische Volksrepublik aus der Konkursmasse des Russischen Reiches. Beide wurden jedoch von Begehrlichkeiten der im Entstehen begriffenen Sowjetunion, von Polen, Rumänien und auch der Tschechoslowakei bedrängt. Im polnisch-sowjetischen Krieg rückten polnische Truppen zeitweilig bis nach Kiew vor, doch musste sich Polen schließlich mit dem Gebiet der Westukrainischen Volksrepublik zufriedengeben.

Der größere Teil der heutigen Ukraine wurde im Dezember 1922 zur Sowjetrepublik, in der durch die Zwangskollektivierung unter Stalin und Hungersnöte Anfang der zwanziger (1921 bis 1923) und Anfang der dreißiger Jahre (1932 bis 1933) Millionen von Menschen elend zugrunde gingen. Als Hitler und Stalin Polen 1939 unter sich aufteilten, wurden dann auch die bislang zu Polen gehörenden westukrainischen Gebiete der Sowjetunion zugeschlagen.

Im Zweiten Weltkrieg geriet die Ukraine größtenteils unter deutsche Verwaltung, und etwa zwei Millionen Menschen wurden zur Zwangsarbeit „ins Reich“ verfrachtet. Diese Zeit war geprägt von Massenmorden und Verbrechen, denen sowohl Juden als auch Polen und sowjetische Kriegsgefangene zum Opfer fielen. Das Drama innerhalb der Ukraine bestand darin, dass der eine Teil mit Hitler kollaborierte, der andere auf Seiten der Roten Armee kämpfte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fanden sich so Sieger und Besiegte nicht in unterschiedlichen Staaten durch Grenzen getrennt wieder, sondern innerhalb eines Landes, dessen Territorium sich überdies ausdehnte. Die 1939 schon einmal in Besitz genommene, ehemals polnische Westukraine kam nun endgültig hinzu, ebenso einige kleinere rumänische und tschechoslowakische Gebiete. Schließlich wurde 1954 die Krim, bislang Bestandteil der Russischen Föderation, durch den bereits erwähnten sowjetinternen Verwaltungsakt an die Ukraine übergeben, ohne Befragung der Bevölkerung oder irgendwelche juristischen „Formalitäten“.

Da sich dieser Vorgang innerhalb der Sowjetunion abspielte, war er damals politisch allerdings relativ bedeutungslos.

Die Verflechtungen zwischen Russland und der Ukraine, die auf eine jahrhundertelange Geschichte zurückgingen, nahmen in der Folge weiter zu. Und so wuchsen auch die gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten, die unter dem Dach der Sowjetunion weder als solche wahrgenommen wurden noch als Anlass für größere Streitereien dienten.

Das änderte sich erst, als sich die Ukraine im Zuge der Auflösung der Sowjetunion für selbständig erklärte.

Ab 1991 also gab es die Ukraine, über die wir heute reden. Entgegen den Erwartungen — sowohl innerhalb der Ukraine als auch bei Finanzinstituten des westlichen Auslands — brachte die Selbständigkeit nicht den erhofften Aufschwung, sondern massive wirtschaftliche Probleme. Hunderttausende Menschen wanderten ab, vor allem in Richtung Westen, aber auch nach Russland, denn die familiären Verbindungen zwischen Ukrainern und Russen waren im Vergleich zu anderen ehemaligen Sowjetrepubliken besonders intensiv. Immerhin 22 Prozent der Gesamtbevölkerung in der Ukraine waren ethnische Russen, wobei ihr Anteil im Süden und Osten höher war als im Westen und auf der Krim sogar gut 67 Prozent ausmachte.

Die russische Sprache war allerdings durchaus nicht auf diese Landesteile beschränkt, sondern auch im Westen vorherrschend. Selbst bei den ukrainischen Nationalgardisten und den Freiwilligen Bataillonen „an der Front“ wird heute vielfach russisch und nicht ukrainisch gesprochen. Es gibt sogar eine Organisation mit Namen „Russischsprachige ukrainische Nationalisten“. Wieder ein Beleg dafür, dass die Dinge komplizierter sind, als Schlagzeilen es vermuten lassen.

Leonid Krawtschuk, der erste Präsident der unabhängigen Ukraine, sandte gleich zu Beginn versöhnliche Signale an die starke russische Minderheit in seinem Land. Russen seien „seit Hunderten von Jahren (hier) ansässig“ und man werde sie auf keinen Fall diskriminieren, so wie das in den baltischen Republiken zu dieser Zeit geschah. Nichtsdestotrotz gab es von Anfang an Streit um die Krim und um Sewastopol als Stützpunkt der Schwarzmeerflotte. 1992 erklärte sich die Krim für unabhängig, doch konnte ein Kompromiss gefunden werden, der ihr den Status einer autonomen Republik innerhalb der Ukraine verschaffte. Auf ein bereits geplantes Referendum zum Anschluss an Russland wurde damals noch verzichtet. Die separatistischen Kräfte erhielten allerdings 1994 bei den Parlamentswahlen auf der Krim eine klare Mehrheit, woraufhin der Streit wieder aufflammte und die Zentralregierung zeitweilig sogar die Autonomie der Krim aufhob. In einem 1995 gefundenen Kompromiss wurde diese zwar wiederhergestellt, doch zeigt die Episode, wie stark die Kräfte, die sich von Kiew trennen wollten, auf der Krim von Anfang an waren.

Auf Krawtschuk folgte Leonid Kutschma, der ein marktwirtschaftlich orientiertes Reformprogramm vorlegte, das allerdings im Parlament scheiterte. Wegen seiner Innenpolitik und mit Blick auf Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit ist Kutschma hochumstritten. Es wird ihm sogar Anstiftung zum Mord an einem Journalisten vorgeworfen, was sich aber nicht beweisen lässt. Außenpolitisch verfolgte er einen Kurs des Ausgleichs zwischen Russland auf der einen und der EU auf der anderen Seite. So wurde mit der EU 1994 ein Vorläufiges Partnerschafts- und Kooperationsabkommen unterzeichnet und mit Russland 1995 ein gesondertes Handelsabkommen. Ebenfalls 1995 trat die Ukraine dem Europarat bei und 1997 folgte ein Freundschaftsvertrag mit Russland. Zwar bezeichnete Kutschma den Beitritt zur EU als strategisches Ziel der Ukraine, betonte jedoch immer, dass dadurch nicht die guten Beziehungen zu Russland gefährdet werden dürften.

Nach zwei Amtsperioden konnte Kutschma laut Verfassung nicht mehr antreten. Das war 2004, das Jahr der „Orangenen Revolution“. Es standen sich zwei Präsidentschaftskandidaten gegenüber: Eben der Viktor Janukowitsch, der im Februar 2014 von der Maidan-Bewegung aus dem Amt gejagt wurde, in das ihn die Ukrainer 2010 schließlich gewählt hatten, und Viktor Juschtschenko, auf den im Laufe des Wahlkampfes von 2004 ein Giftanschlag mit Dioxin verübt wurde. Die näheren Umstände dieses Anschlags sind bis heute ungeklärt. Eine Stichwahl mit knappem Ergebnis, die seinen politischen Gegner Janukowitsch zum Wahlsieger machte, war der Auslöser für die Aktivitäten auf dem Maidan, die unter dem Begriff „Orangene Revolution“ in die Zeitgeschichte eingegangen sind. Die wochenlangen friedlichen Proteste gegen eine von den Demonstranten vermutete Wahlfälschung führten zur Wiederholung der Stichwahl, und im Januar 2005 wurde Juschtschenko vom Obersten Gericht zum rechtmäßigen Wahlsieger erklärt.

Spätestens jetzt war das Land gespalten. Der Ausgang der Wahlen war denkbar knapp gewesen und der Süden und der Osten der Ukraine hatten sich mehrheitlich für Janukowitsch entschieden. Man fühlte sich betrogen, nicht zuletzt deshalb, weil man, nicht ganz zu Unrecht, wie sich zeigen sollte, westliche Einflussnahme vermutete.

Was bei der „Orangenen Revolution“ so spontan aussah und sie für den mitfühlenden Betrachter so sympathisch machte, folgte einer Regie, bei der auch der Westen die Hände im Spiel hatte. Die Ukraine ist nicht das einzige Beispiel dafür.

Die Spur der „Revolutions-GmbH“, wie sie der Spiegel im November 2005 nannte, zieht sich von der „Bulldozer-Revolution“ in Serbien (2000) über die „Rosen-Revolution“ in Georgien (2003), die „Orangene Revolution“ in der Ukraine (2004), die „Tulpen-Revolution“ in Kirgistan (2005) bis zur „Zedern-Revolution“ im Libanon (2005). Junge Aktivisten des jeweiligen Landes — meist Studenten und Intellektuelle — bekommen in jedweder Hinsicht Unterstützung. Die professionellen westlichen Berater werden auch aus dem Westen bezahlt, wahlweise direkt von Regierungen oder über Institutionen wie beispielsweise politische Stiftungen.

Laut der britischen Tageszeitung Guardian waren bei der „Orangenen Revolution“ das amerikanische Außenministerium beteiligt sowie „Freedom House“, eine Organisation, die ihrerseits zu großen Teilen von der amerikanischen Regierung finanziert wird. In der Wochenzeitung Die Zeit war von mindestens 65 Millionen US-Dollar die Rede, die aus den USA für den Wahlkampf von Juschtschenko in die Ukraine geflossen sein sollen. Auch hier taucht der Name George Soros auf, der jetzt wieder mit der Finanzierung des Kiewer Pressezentrums (Ukraine Crisis Media Center) in Verbindung gebracht wird, wo jeden Tag ein Vertreter des Sicherheitsrates der Ukraine zur Lage im Osten des Landes Stellung nimmt. Diese Erklärungen werden dann am nächsten Tag im Kern vom State Department in Washington weiterverbreitet.

Statt allenfalls im Hintergrund diplomatisch unterstützend zu wirken, um ein zur Demokratisierung entschlossenes Land auf seinem Weg in die Rechtsstaatlichkeit uneigennützig zu begleiten, wurde heute wie damals vom Westen Öl ins Feuer gegossen. Ich will gar nicht bestreiten, dass dabei auch viel Idealismus und Hoffnung auf die Verbreitung von Demokratie und Wohlstand im Spiel ist. Aber ist das wirklich alles? Gibt es da nicht auch noch andere Motive?




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