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Die unterschätzte Weltmacht

Die unterschätzte Weltmacht

Eros und Sex führen, wo sie unterdrückt werden, zu Gewalteruptionen — können sie liebevoll gelebt werden, ist auch für die Gesellschaft Heilung möglich. Exklusivabdruck aus „Und sie erkannten sich“. Teil 3/3.

Ein Projekt zur „Rettung der Liebe“

1978 lernte ich Dieter Duhm kennen, der ein Sprecher der Studentenbewegung gewesen und durch sein Buch „Angst im Kapitalismus“ sehr bekannt geworden war. Gemeinsam mit meinem langjährigen Freund Rainer Ehrenpreis beschlossen wir, die sogenannte Bauhütte zu gründen — eine Friedensforschungsgemeinschaft und ganzheitliche Universität für die Zusammenführung von Wissensbereichen, die an normalen Universitäten getrennt waren oder erst gar nicht gelehrt wurden. Unsere Idee war, ein gewaltfreies Kulturmodell aufzubauen, in dem ganzheitliches Friedenswissen für eine neue Kultur entwickelt wird.

Dieter Duhm war jahrelang in Deutschland und anderen Ländern unterwegs gewesen, um Kontakte zu Forschern und Projekten zu knüpfen. Die Anfangsgruppe mietete einen Bauernhof in Süddeutschland. Bald kamen interessierte Menschen aus den verschiedensten Richtungen hinzu — aus der politischen Linken, aus spirituellen Gruppen, aus Kunst und Wissenschaft oder sozialen Einrichtungen.

Bei aller Anfangsbegeisterung wurde bald deutlich, dass der Aufbau der Forschungsbereiche nicht reibungslos verlaufen würde. Es kam zu den typischen Konflikten, die in allen Gruppengründungen auftauchen. Wir erkannten, dass wir einen neuen Umgang mit den zwischenmenschlichen Konflikten finden und sie lösen mussten und dass das Wissen über Gemeinschaftsaufbau und speziell über Liebe, Partnerschaft und Sexualität ein zentraler Forschungsbereich für eine neue Kultur ist.

Wir lernten, die aufkommenden Verliebtheiten nicht mehr vor den anderen zu verheimlichen, sondern machten sie zum Gegenstand unserer Forschung. Wir wollten herausfinden, unter welchen sozialen Bedingungen Liebe und Treue, Wahrheit und Freiheit möglich sind.

„Wie kann ein Zusammenleben aussehen, in dem die sexuelle Zuwendung eines Menschen zu einem anderen nicht so viel Angst, Wut und Eifersucht hervorruft?“, war eine zentrale Forschungsfrage. Viele Jahre rangen wir darum, die große Sehnsucht nach der intimen Zweierliebe zu verbinden mit einem Leben in Freiheit, vor allem auch in sexueller Freiheit.

Wir wurden dabei mit vielen Vorurteilen und moralischen Vorstellungen der Gesellschaft konfrontiert: in der Öffentlichkeit, in unserer Nachbarschaft, in unseren Elternhäusern und auch noch in uns selbst. Wir erkannten, dass wir die unbewussten Ängste und Tabus in uns selbst bearbeiten und auflösen mussten, um zu einer umfassenderen Liebe und Treue zu finden. Wir erkannten, was für eine gesellschaftliche Macht dieser Untergrund an unterdrückten Emotionen, Ängsten und Moralvorstellungen hat und wie viel Macht wir ihm auch in unserem Leben noch einräumten, wenn wir blind Eifersuchtsanfällen oder Besitzansprüchen oder nur romantischen Vorstellungen in der Liebe folgten. Hier das Licht des Bewusstseins hineinleuchten zu lassen, war eine Entdeckungsreise ohne Ende.

Nichts Menschliches sollte uns fremd bleiben. Unter Tränen und auch Lachen offenbarten wir einander Liebeserklärungen, erotische Geständnisse und sexuelle Fantasien. Wir stellten überrascht fest, dass fast alle ähnliche Fantasien kannten. Wir verbrachten oft Stunden und Tage zusammen, sprachen über Themen, über die man sonst nie spricht, über Hoffnungen und Ängste.

Mithilfe von Kunst und Theater brachten wir die verborgensten Gedanken auf die Bühne, lernten, uns voreinander sichtbar zu machen und zu erkennen, wer wir wirklich sind. Wir entdeckten den Wert des Vertrauens in einer Gemeinschaft. In ihrem Schutz konnten sich Partner einer Liebesbeziehung Dinge sagen, die sie sich zu zweit niemals hätten sagen können. Nach und nach kamen wir an die seelischen Orte in uns, wo wahre Liebe möglich wird.

Wir hatten die große Entdeckung gemacht, dass das Heimlichste und Intimste nicht privat ist. Das ganze Leben, jede menschliche Gesellschaft ist durchzogen von heimlichen Gedanken und der Verdrängung sexueller Sehnsüchte. Sie bilden einen Untergrund, der den Austausch und die Zusammenarbeit in einer Gruppe enorm erschwert und an dem jede Utopie zerbricht. In einer Gemeinschaft, in der wirkliche Verständigung auch über seelische Abgründe und heimliche Fantasien möglich ist, löst sich dieser Untergrund auf.

Wir erkannten tief: Nur im Geist der Nächstenliebe wird sich die gewaltige untergründige sexuelle Kraft manifestieren können, ohne Chaos zu erzeugen. Nur im Geist der Nächstenliebe wird sich der wahrhaft partnerschaftliche Traum erfüllen lassen, den Mann und Frau schon so lange träumen.

Wir waren mutig, auch in der Öffentlichkeit, vielleicht in unserem jugendlichen Leichtsinn manchmal etwas zu mutig. Unsere Thesen waren provokativ, sie wurden von einigen als bedrohlich empfunden — was gar nicht unsere Absicht gewesen war. Das rief schließlich auch Anfeindungen hervor.

In den Achtzigerjahren ging eine Pressewelle durch Deutschland und die Schweiz. „Sexklinik im Südschwarzwald“, „Orgie mit 150 Paaren“ — so lauteten einige Überschriften. Die Fantasie, die in den Artikeln zum Ausdruck kam, kannte keine Grenzen. Besonders verletzend für uns war die groteske Aussage, wir befürworteten Sex mit Kindern. Nichts lag uns ferner. Es war ja gerade unser tiefstes Motiv, die Sexualität unter Erwachsenen so in Vertrauen und Wahrheit zu betten, dass die Kinder vor den Übergriffen sexuell gestauter Erwachsener geschützt sind.

Man sagte uns unter anderem nach, wir seien eine Nachfolgeorganisation der AAO (Aktionsanalytische Organisation) aus Österreich. Dessen Gründer Otto Mühl wurde 1999 wegen Kindesmissbrauchs zu sieben Jahren Haft verurteilt, die Gemeinschaft aufgelöst.

Dieter Duhm hatte auf der Suche nach gesellschaftlichen Alternativen die Kommune in ihren Anfangsjahren tatsächlich mehrmals besucht, einmal sogar für mehrere Monate. Das letzte Mal war er 1979 dort. Am Anfang war er inspiriert und begeistert, distanzierte sich aber bald aus verschiedenen Gründen wieder von der Kommune. Nur sehr wenige von uns waren jemals dort gewesen. Trotzdem wurde jetzt in der Öffentlichkeit immer wieder behauptet, wir seien eine Nachfolgeorganisation. Damit wurde eine Weile auch der Verdacht von Kindesmissbrauch bestärkt.

Für uns war es eine Zeit der Prüfung und des Erwachens. Wir erfuhren am eigenen Leib, was es heißt, eine Randgruppe in der Gesellschaft zu sein, ein schwarzes Schaf. Wir sahen, wie überall derselbe Prozess Feindschaft hervorruft: Wer sich bedroht und angegriffen fühlt, geht automatisch in Angriff über, um nicht verletzt zu werden. Diese Reaktion geht so schnell, dass sie meistens unbewusst abläuft.

Die Folgen trafen uns mit einer Wucht, die ich mir in einem demokratischen Land nicht hätte vorstellen können. Die Gemeinnützigkeit unseres Vereins wurde gekündigt. Die Besitzer des Grundstücks, das wir bewohnten, verschärften ihre Bedingungen. Baugenehmigungen wurden entzogen. Wenn Dieter Duhm oder ich öffentlich auftreten wollten, wurden die Veranstalter vor uns gewarnt und kündigten häufig kurzfristig den Veranstaltungsort. Es war wie ein öffentliches Redeverbot. Buchhandlungen nahmen unsere Bücher aus ihrem Sortiment. Wer für uns Partei bezog, galt bald selbst als „Sekte“.

Und doch konnten all die Angriffe uns nicht zerstören: Da wir gelernt hatten, unseren Fehlern ins Auge zu schauen, hatten wir keine Angst mehr vor der Verurteilung anderer. Der innere Zusammenhalt gab uns Kraft durchzuhalten.

Die Gemeinschaft ist inzwischen so stabil geworden, dass sie sicher nicht mehr an zwischenmenschlichen Konflikten zerbrechen wird — und damit auch vor Angriffen von außen stark geschützt ist. Unsere vierzigjährige Erfahrung im Aufbau von Gemeinschaft hat ein Feld von Solidarität und Kreativität entstehen lassen, von dem jetzt viele neu entstehende Gemeinschaften profitieren können.

Immer wieder werden wir gefragt: Wie habt ihr das geschafft? Indem wir taten, wovor viele uns gewarnt hatten: Wir haben das Thema Eros aufgegriffen und sind ihm durch alle Konflikte hindurch treu geblieben. Trotz Sektenvorwurfs und anderer Verleumdungen haben wir das Thema nie verschwiegen, das hat unserer Arbeit eine klare Richtung gegeben.

Wir haben mit dem Aufbau unseres Projektes eine hohe Schule durchlaufen. Wir haben lernen müssen, auf Angriffe nicht mit Angst, Wut und Gegnerschaft zu reagieren. So erfüllte sich unser Vorhaben, ein ganzheitliches Friedensprojekt aufzubauen, zunächst im Inneren. Wir konnten an uns selbst trainieren, wie man Angst, Wut und Gewalt überwindet. Das hat unsere Arbeit auf eine solide Basis gestellt.

Das sexuelle Grundlagenwissen hilft uns heute auch in unserer politischen Arbeit in Krisengebieten. Wir sind in der Lage, Wahrheitsräume aufzubauen zum Beispiel für Frauen, die vergewaltigt wurden und nie gesprochen haben, oder für Männer, die nicht wissen, wohin mit ihrer gestauten Sexualität.

Manchmal fühlen wir uns wie die Lachse im Wasser, die immer gegen den Strom schwimmen. Auf diese Weise haben wir vieles, was andere für unmöglich hielten, möglich werden lassen.

Gleichzeitig sehe ich uns noch nicht am Ende unserer Entwicklung, das Thema der ganz intimen Partnerschaft mit der freien, erkennenden Sexualität zu verbinden.


Hier können Sie das Buch bestellen:Und sie erkannten sich: Das Ende der sexuellen Gewalt“.

Hier finden Sie den Online-Kurs zum Buch:Heilung der Liebe“.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch von Sabine Lichtenfels und Dieter Duhm. Er stammt aus dem zweiten Teil des Buchs, den Sabine Lichtenfels verfasste, weshalb nur sie als Autorin dieses Exklusivabdrucks angegeben ist.


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