„Ist noch Kampf oder herrscht schon Ewigkeit?“
Niedergang — das Wort fand und findet reichlich Anwendung in letzter Zeit. Und ein Niedergang kommt niemals allein. Er kommt mit der Sprache. In den vergangen Jahren ist sie „niedergegangen“, die Corona-Wortschablonenindustrie der Sargnagel. Der Niedergang, von dem Emmanuel Todd und andere sprechen, ist längst auch Sprachwirklichkeit.
„Mit dem Wortfriedhof will ich jener Vokabeln und Begriffe gedenken, die sich im deutschen Sprachgebrauch aus unterschiedlichsten Gründen erschöpft haben. Sie lassen sich nicht mehr benutzen. Sir wurden gemordet, denunziert, diskriminiert oder der Lächerlichkeit preisgegeben.“
Es gibt viele Methoden, den Niedergang einer Sprache zu untersuchen. Syntaktische Untersuchungen zeigen zum Beispiel, dass die Komplexität des Satzbaus seit 1970 drastisch zurückgegangen ist. Allerdings leidet die Sprache auch auf der Seite der Dissidenz. Nicht im gleichen Ausmaß, weil ja doch ein Bewusstsein immerhin für die radikalste Sprachzerstörung, die Propaganda, gegeben ist. Und doch verkommt die Sprache auch in der angepeilten Gegenbewegung zum seelenlosen Informationsmittel, das schnell entschlüsselt und konsumiert werden können muss.
Digitalismus und Effizienz tun das Werk hüben wie drüben. Eine Sprache, dicht, poetisch, seelisch, literarisch: Das jedenfalls findet man auch auf Seiten der Systemkritik selten.
„Ein Hamburger auf Reisen, mit einem 24 Grad warmen Tag im Gepäck. Windumschmeichelt und aus purem Licht. Alle Farben im Urgrund getroffen. Ein Hamburger auf Reisen. Fegt mit seinem goldenen Schatz über verseuchte Sümpfe und Wüsten. An einem solchen Tag blüht das Gekreische auf den Schulhöfen zu Jubelarien auf, die als akustische Pilze in den Städten wachsen. An einem solchen Tag sollten wir uns verschwören: zu Feinden der Angst.“
Es gibt jedoch Stimmen, die aus diesem Unglück herausfallen. Sie haben gerade in den Jahren der Repression und in der Auseinandersetzung mit dieser zu einer Kraft gefunden, die unverkennbar ist. Einzigartig, schön. Und die allein durch diese Schönheit dem Niedergang, den sie diagnostiziert und aufzeigt, eine Tür öffnet. Die Tür zur Trance.
Dirk C. Fleck ist dieser Hamburger auf Reisen und eine der seltenen Stimmen. In langen Jahren vor Corona hat er das Schreibhandwerk perfektioniert und gar ein neues Genre kreiert: den Öko-Thriller. Seine Bücher waren auf ein großes Publikum angelegt und verbanden politisches Engagement mit Elementen der Spannung und Unterhaltung.
Nun aber hat Fleck, mittlerweile das 82. Lebensjahr überschreitend, alles Narrative hinter sich gelassen und seine Kunst zur literarischen Meisterschaft geformt — ohne, und das ist entscheidend, die Wirklichkeit aus den Augen zu verlieren. Es ist nicht die Kunst der Ausblendung, der Sedierung und des Pseudohaften, wie sie heute überall da gegeben ist, wo Staat und Konzerne Geld verteilen, es ist die Kunst der radikalen Romantik und also der Auflösung von System und Macht, die Fleck zur Essenz verdichtet.
„Plötzlich wurde mir klar, welch spektakuläres Schauspiel wir Zeitzeugen gerade geboten bekommen. Wir befinden uns in den Geburtswehen des so lange geweissagten Armageddons. Es scheint, als hätten sich sämtliche Endzeit-Prophezeiungen der vergangenen Jahrhunderte zu einem Körper zusammengeschoben und verdichtet, der nun unter enormen Schmerzen sein apokalyptisches Monsterbaby in die Welt presst, von der nach der Abnabelung nichts mehr übrig sein wird.“
Es ist eine Ur-Schönheit, die aus Flecks Sprache, aus ihrer betörenden Bild- und Sinnlichkeit entspringt. Dass die „Sopranstimme“ immer wieder auf andere Geister aus der Kulturgeschichte verlagert wird, nicht nur europäische, macht das Werk zu einer „überindividuellen symphonischen Dichtung“, die, auf ihre literarische Kraft bauend, sich in alle Höhen und alle Abgründe vorwagen kann.
„Angesichts der sich türmenden Leichenberge bei diesem Weltfest des Todes stehen wir ohnmächtig beiseite und alle Friedensappelle sind nur noch ein mattes Krächzen. Wir sind heiser geworden, unsere fiebrigen Seelen tragen Trauer, jeder Versuch, sich auch nur ansatzweise in das Leid millionenfach zerfetzter Kinderseelen hineinzufühlen, zerreißt uns.“
Gestalten, Figuren, Muster, die wir aus den Coronajahren und aus der folgerichtigen Militarisierung, die daraus hervorgegangen ist, zu kennen glauben — in zig Artikeln abgehandelt —, treffen wir in „Ohgottohgott“ wieder, jedoch in Szenen, in Lebenssplitter, in Träume, in Zitate andere Menschen und am Ende in eine betörende Bildsprache eingebettet, welche der schonungslosen Aussichtslosigkeit eine Aussicht verleiht.
Metaphysisches, Religiöses, Heilendes findet zusammen — losgelöst von Ideologien, getragen von einer Sprache, die ohne Umschweife die tiefsten Seelenregionen erreicht. Energie wird nicht ab-, vielmehr zugeführt.
„Der Friedhof der Worte erinnert daran, dass die Sprache ein organisches Wesen ist. Wenn man ihr genügend Poesie zuführt...“, dann — was dann? Die Antwort gibt dieses paradoxerweise schwebend leicht zu lesende Buch in 54 Gedankengängen und Miniaturen. Ein Streifzug durchs Leben, durch das Unglück des Menschen und sein Jauchzen, durchs literarische Schaffen Flecks, durch eine Weltkulturgeschichte in etwas über 40 Stimmen und eine Versöhnung mit Leben, Tod und sich selbst. Zu denen, die kurze Solopartien übernehmen, gehören Nietzsche — damit kein Kitsch aufkommt…—, John Lennon, Johann Wolfgang von Goethe, Leonard Cohen, Ingeborg Bachmann, Franz Kafka, Gertrude Stein, Anna Magnani, der Schamane Rauura, der Präsident Tahitis und viele mehr.
„Wenn der Träumer stirbt, was passiert dann mit seinem Traum?“
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Quellen und Anmerkungen:
Die eingestreuten Zitate stammen alle aus dem besprochenen Werk.