Wo ich derzeit bin, in einem kleinen Städtchen in Finnland, gibt es kein Theater. Manchmal fliegt mich schon so eine Sehnsucht an … Mal wieder ins Theater zu gehen, wäre toll. Dann sehe ich mir an, was so geboten wird. Wie Theater dieser Tage agiert. Womit sich Theater heute beschäftigt. Wie Theater und Kultur zum Beispiel mit der Frage nach einer Aufarbeitung der Corona-Krise umgehen. Oder mit dem Ukraine-Konflikt. Oder mit Öko-Problemen. Meine Sehnsucht wird mir klar, würde ins Leere laufen.
Da ist zum Beispiel die Berliner Schaubühne. Die hat eine „Vision“. Sollte man als Theater wohl auch haben. Man könnte zum Beispiel die Vision haben, mit den Mitteln der Kunst etwas auf die Bühne zu bringen, das wach macht. Aufrüttelt. Oskar Maria Graf hatte, auf die Literatur bezogen, eine solche Vision. Die Aufgabe eines Schriftstellers müsste darin bestehen, schreibt er im Vorwort seines 1927 erschienenen Buchs Wir sind Gefangene, „mit seinem Schreiben das Unrecht auf der Welt, wo immer es sich auch zeigt, zu bekämpfen, die Menschen für soziale und moralische Einsichten empfänglich und für sich selbst verantwortlich zu machen, jeden Krieg als Verbrechen zu brandmarken und auf die Gefahr hin, ein Leben lang verkannt und verdächtigt zu werden, stets einer Gesellschaftsordnung das Wort zu reden, in welcher gleiches Recht für alle gilt und die Freiwilligkeit zur Einordnung in das Ganze schließlich zur sittlichen Regel wird.“
Von einer solchen Vision ist die „Berliner Schaubühne“ weit entfernt. Die hat sich just der Idee “Net Zero“ verschrieben. Was so was Ähnliches wie Klimaneutralität bedeutet. Während einige hundert Kilometer von der „Schaubühne“ entfernt ganze Landschaften, Häuser und Städte in Schutt und Asche gebombt werden, womit ein einziges, unwidersprochen hingenommenes Öko-Desaster angerichtet wird, vertreibt sich der Musentempel die Zeit mit der Eruierung der „besuchenden Mobilität“.
Mir ist nicht bekannt, wie das genau funktioniert. Wird jeder, der das Theater betritt, analog oder digital mit der Frage behelligt, auf welche Weise er anfuhr? Und traut sich noch einer, der mit dem eigenen Auto kam, dies zuzugeben? Als Ökoschwein würde er ja die ganze schöne Net-Zero-Bilanz der „besuchenden Mobilität“ versauen. Ich würde mich jedenfalls nicht outen, wie ich zur Schaubühne gekommen bin. Ich würde mir dahingehende Fragen verbitten. Wenn ich da jemals hinkommen sollte. Was ich weniger denn je vorhabe.
Was darf, soll, muss Theater? Die Frage, die natürlich immer wieder gern der Kunst als solcher gestellt wird, ist uralt. Wer möchte dem Theater verbieten, zu unterhalten? Für Amüsement zu sorgen? Wer möchte dem Theater Boulevard untersagen? All das soll sein dürfen. Doch dafür braucht es keine Kunstfreiheit – oder nur eine äußerst bedingte.
Was den Auftrag von Kunst anbelangt, stimme ich Oskar Maria Graf zu. Im Nachdenken über die Kunst vor dem Ersten Weltkrieg kam er zu dem Schluss:
„Auch die Kunst war etwas wie ‚Opium für das Volk‘. Sie machte den Einzelnen und ganze Völker widerstandsunfähig gegen das Sinnwidrige und Böse im Allgemeinleben, das wir in den letzten Schreckensjahrzehnten erleben mussten.“
Auch Peter Handke verkörpert für mich, was Theater sein darf und sein muss. Theater darf – und Theater muss – für mich politisch sein. Theater muss kritisch sein. Auch gegenüber dem Publikum. Es darf das Publikum sogar anmotzen. Beschimpfen – was Peter Handke tat.
„Ihr Kriegstreiber”
In Peter Handkes 1966 uraufgeführten Einakter Publikumsbeschimpfung war der Zuschauer, damals noch kein „Zuschauender“, der Antagonist. Schweres Geschütz fuhr der aufmüpfige 24-Jährige auf. Als „willenlose Werkzeuge“ beschimpften die „Sprecher“ jene, die vor ihnen saßen. „Ihr Massenmenschen“ riefen sie ihnen zu, „ihr Kriegstreiber“, „ihr Bestien in Menschengestalt“, „ihr Nazischweine“, „ihr Mitläufer“, ihr „Ewiggestrigen“. Wie der Deutschlandfunk berichtete, gab es nach der Publikumsbeschimpfung eine volle Stunde Applaus, Buhen, Johlen. Der Autor des Stücks wurde über Nacht berühmt.
Peter Handke ist spürbar einer, der mit Worten ringt, dem das Schreiben nicht leicht von der Hand geht. Zurecht erhielt er 2019 den Nobelpreis für Literatur. Berichtet wurde darüber, unter anderem im Spiegel, mit der heute inflationär verwendeten Floskel „umstritten“. Hatte Peter Handke doch 1996 durch sein Buch Gerechtigkeit für Serbien für einen Empörungsskandal gesorgt. Das Buch wirkt aktueller denn je. Auf Seite 34 zum Beispiel wird sinniert: „Wer also war der Aggressor? War derjenige, der einen Krieg provozierte, derselbe wie der, der ihn anfing? Und was hieß ‚anfangen‘? Konnte auch schon solch ein Provozieren ein Anfangen sein?“
Wahrscheinlich hatte Peter Handke damit gerechnet, dass man auf solche Sätze keine Artigkeiten zu hören bekommt. Der Aufstand war im Gegenteil enorm. Schließlich hatte man auch beim Jugoslawien-Krieg ganz genau gewusst, welche die „richtige“ Seite ist. Dessen unbenommen betonte der Autor 2019 anlässlich der Nobelpreisverleihung an ihn, dass er zu seiner damaligen, wegen der völlig einseitigen Berichterstattung über den Jugoslawienkrieg eingenommenen Haltung bis heute steht.
Mit militanter Vehemenz
Viel nahm er dafür in Kauf. Sein Buch galt, wie der österreichische Autor Kurt Gritsch in seiner Rezeptionsgeschichte des Werks beschreibt, als „politisch indiskutabel”. Peter Handke wurde als „Serbenfreund“ gebrandmarkt („Serbenversteher“ hätte zu komisch geklungen).
Die Diffamierungen gingen so weit, dass ihm „absichtliche Irreführung“ vorgeworfen wurde. Aber all das kennen wir ja heutzutage nur zu gut. Und zwar von jenen, so Kurt Gritsch, „die ihrerseits die traditionelle Interpretation des Jugoslawien-Krieges allen zur Skepsis mahnenden Indizien zum Trotz mit beinahe militanter Vehemenz verteidigten“. Es scheint wirklich nicht sehr viel Neues unter der Sonne zu geben.
Tobias Riegel von den „Nachdenkseiten“ ergriff anlässlich der Nobelpreisverleihung im Oktober 2019 für Peter Handke Partei. Die Preisverleihung, konstatierte er, habe infame Reaktionen in zahlreichen großen Medien hervorgerufen. „Diese Reaktionen haben wenig mit Literatur und viel mit Politik und Propaganda zu tun“, hob er hervor. Peter Handke habe es als einer der wenigen gewagt, „vor den völkerrechtswidrigen Jugoslawienkriegen in den 1990er Jahren Einspruch gegen die damals fast monolithische Pro-Kriegs-Meinungsmache westlicher Medien und Politiker einzulegen“.
Wie willfährig in Bezug auf den Ukraine-Krieg heute im Theater agiert wird, zeigt das im Bochumer Schauspielhaus kürzlich aufgeführte Stück Gundhi. Die Inszenierung zum Thema „Pazifismus“, schreibt die WAZ, versuche, sich „dem Kern-Dilemma einer demokratischen Friedenspolitik im Angesicht eines totalitären Regimes (wie dem eines Putin) anzunähern: ‚Auschwitz ist nicht von Pazifisten befreit worden.‘“
Der Feind ist auf jeden Fall ausgemacht. Das geht auch aus der Rezension der Nachtkritik hervor. Das Stück, heißt es da, beginnt bereits im Foyer. Schauspieler laufen durch die wartenden Zuschauer. „Einer fragt direkt mal nach: ‚Wenn du die Möglichkeit hättest, Putin zu töten – tötest du ihn?‘ Die Zuschauerin antwortet mit ‚Ja‘.“
Nein, ich glaube, es lohnt nicht mehr allzu oft, für eine Theatervorstellung bis spät in der Nacht aufzubleiben. Tobias Riegel hatte vor sechs Jahren schon das fatale „Verstummen der deutschsprachigen Intellektuellen zum Komplex Krieg und Frieden, zur Sozialen Frage und zum forcierten West-Ost-Konflikt” beklagt. Aber wen sollte das wundern. Wer ausschert, wird isoliert. Das ist eine ganze Weile schon so. Mit immer heftigeren Konsequenzen.
Abgenutzten Strategien
Bereits im Mai 2019 ging es auf den „Nachdenkseiten“ um das Schweigen der deutschen Kulturszene, damals mit Blick auf die französischen Gelbwesten. Anlass war ein Solidaritätsappell von 1.400 französischen Künstlern und Kulturarbeitern mit der Gelbwestenbewegung. Auch diese damaligen Vorgänge erinnern an heute. Die Unterzeichner stellten fest: „Wir können die übermäßig abgenutzten Strategien sehen, mit denen die Gelbwesten diskreditiert werden sollen, die als Antiökologen, Extremisten, Rassisten beschrieben werden.“ Auch das kennen wir heute nur zu gut. Wobei die Strategien noch viel stärker abgenutzt sind.
Ein Peter Handke hatte das Publikum noch aufzuputschen vermocht. Welche Erregung am Ende der „Publikumsbeschimpfung“ – eine volle Stunde Applaus, Buhen, Johlen! Wie hingegen schaut Theater heute aus? Da ist zum Beispiel Kay Voges, neuer Intendant in Köln. Der hat zwar keine bisher publik gemachte Vision, allerdings ein hehres Ziel. Davon schreibt Dorothea Marcus auf dem Portal „Nachtkritik“: In Zeiten von Populismus und Fake wolle er „Recherchetheater“ stark machen. Geschehen soll dies durch eine verstärkte Zusammenarbeit mit „Correctiv“.
Statt anzuprangern, dass das Faktenchecking ausartet, statt, wie Norbert Häring im Juli 2024 in einem Beitrag für „Radio München“, die gesteuerte „Faktencheck-Mafia aus Correctiv, DPA, NewsGuard und Co.“ anzuprangern, soll ausgerechnet mit „Correctiv“ kooperiert werden. Übrigens: Kay Voges ist derjenige, der, damals noch Regisseur und Intendant des Volkstheaters Wien, die szenische Lesung „Geheimplan gegen Deutschland“ inszeniert hatte. Dafür gab es jede Menge Lob. Nicht zuletzt aus der Theaterszene.
„Bin entsetzt“
Eine kritische Stimme war vernehmbar im Blog nach der Veröffentlichung des Livestreams der Lesung auf der Plattform „Nachtkritik“: „Bin entsetzt über die ganze Geschichte. Angefangen bei den so genannten ‚Enthüllungen‘ (…) – über die Verharmlosung des Nationalsozialismus durch die Vergleiche mit der Wannseekonferenz – völlig daneben und geschichtsvergessen!!! – bis hin zur raschen Bühneninszenierung innerhalb ein paar Tage. Zeitliche Koinzidenz mit anderen Protesten? Ein Schelm, wer... usw. Nein. Ich bin kein Anhänger. Im Gegenteil. Ich habe einen Doppelpass und mehr Angst vor Bischöfen und ihren Wahlempfehlungen als vor österreichischen Querdenkern.“
Mit ausgreifenden Schritten hechtet die Theaterszene den Herrschenden hinterher.
Noch bis Jahresende zum Beispiel findet an der Sechta-Ries-Schule in Unterschneidheim das Projekt „Mitdenken, mitbewegen – Demokratie erleben durch Theater“ statt. Dabei kooperiert die Schule mit Schauspielern der Initiative „People’s Theater“. Es geht um „vier zentrale Werte für die Demokratie“.
Hmmmm – was könnte das wohl sein. Ich komme spontan auf: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Kunstfreiheit und Versammlungsfreiheit. Doch weit gefehlt. Die Schüler hören weder etwas von diesen Grundrechten noch von der Demontage derselben. Die Schüler lernen im Projekt des „People’s Theater“, dass Respekt, Toleranz, Verantwortung und Solidarität die vier zentralen demokratischen Werte seien.
Die Theaterszene unterstützt mit gebotener Ausschließlichkeit die herrschenden Thesen beziehungsweise die Thesen der Herrschenden. Interessant ist in diesem Zusammenahng, wie sich der Deutsche Kulturrat, der auch die Theaterszene mitvertritt, aktuell zur Aufarbeitung der Corona-Krise positioniert. Geschäftsführer Olaf Zimmermann ist es wichtig, die „richtigen Lehren” zu ziehen. Das sei deshalb wichtig, weil die Kulturbranche noch immer „unter dem Schock des Corona-Lockdown” stehe. Bis heute habe das den Kulturbereich nachhaltig beschädigt.
Die richtigen Lehren zu ziehen, heißt für Olaf Zimmermann nicht, zu hinterfragen, was in der Corona-Krise verbrochen wurde. Womöglich mit vollster Absicht. Wie so viele, die nun mit aller Zaghaftigkeit in Richtung „Aufarbeitung“ denken, tut auch er dies mit Blick auf „zukünftige Pandemien“. Man könnte zum Beispiel, schlägt er vor, in Zukunft, wenn es wieder mal so weit ist, kleinere Kulturbetriebe mit „Notfallplänen“ unterstützen.
Wörtlich erklärte er am 10. Juli im NDR: „Ich habe die Hoffnung, dass die Enquete-Kommission im Bundestag jetzt nicht nur versucht, irgendwelche Skandale aufzudecken und irgendwie großen Wind zu machen.“ Er hoffe, dass man sich „wirklich ernsthaft mal Gedanken darüber macht, welche Vorleistungen müssten wir erbringen, um bei einer ähnlichen Krise besser aufgestellt zu sein“.
Letztlich nimmt diese Aussage nicht wunder. Ist doch auch die Kulturszene tief in den Corona-Skandal verstrickt, indem sie vollkommen kritiklos, wie bei allen anderen Themen auch, einfach willig mitgemacht hat. Menschen, die sich nicht haben injizieren lassen, durften nicht mehr ins Theater oder in Ausstellungen hinein. Nicht injizierte Schauspieler und Musiker erhielten aus den eigenen Reihen Auftrittsverbot. Was angeordnet worden war, wurde auch in der Kulturszene durchgezogen. Unkritisch. Dialogscheu. Gnadenlos. Zeit wär’s für eine „Kulturschaffendenbeschimpfung“.

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