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Draußen ganz bei sich

Draußen ganz bei sich

Naturmeditation ist Slowfood für die Seele.

„Einfach wieder schlendern ohne höh´ren Drang.
Absichtslos verweilen in der Stille Klang.
Einfach wieder schweben, wieder staunen und
schwerelos versinken in den Weltengrund.“

So poetisch beschreibt der Liedermacher Konstantin Wecker das achtsame Gehen in der Natur. Ich habe diese Verse oft gehört und beklatscht, aber nur sehr selten ausprobiert. Normalerweise lege ich bei Wanderungen einen flotten Schritt vor. Da ich mich meist zu dick finde, sehe ich das Gehen auch als Training. Wandere ich mit meiner Frau, sind wir stets in intensive Gespräche vertieft; gehe ich allein, kreisen die Gedanken in unaufhörlichem Selbstgespräch. Dieses Jahr, zum Frühlingsanfang, entschloss ich mich, meine Gewohnheiten zu unterbrechen und es tatsächlich einmal mit dem „Schlendern“ zu versuchen.

Zu meinen liebsten Naturschauspielen nahe meinem Wohnort gehört die Leberblümchenblüte in der Ammerschlucht. Ich habe das Privileg, im bayerischen Oberland fast alle wichtigen Landschaftsformen in einem Umkreis von einer halben Autostunde zu haben: Wälder, Blumenwiesen, Vorgebirge, unberührte Moorlandschaft und Flusstäler. Der König-Ludwig-Steig an der Ammer ähnelt einem Hochgebirgspfad mit Felsen, gesicherten Wegen, steilen Auf- und Abstiegen sowie einer abwechslungsreichen Vegetation. Im März sprenkeln Teppiche von Leberblümchen in einem wunderbaren Lilablau den Waldboden. In manchen Momenten, in denen die Sonne durch die noch nicht ergrünten Baumkronen scheint, wirkt der Wald wie verzaubert.

Entschleunigung tut gut

Ich entschloss mich, nur mit halber Wandergeschwindigkeit zu gehen und außerdem kein „Grübelprogramm“ mit auf den Weg zu nehmen. Ich ließ außerdem die Absicht fallen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen oder zu „trainieren“. Keine andere Aufgabe stellte ich mir, als zu schauen, zu spüren, der Natur wirklich nah zu sein. Schon bald bemerkte ich erstaunliche Effekte. Alle Geräusche schienen lauter: der Gesang der Vögel oder das Knacksen der Äste.

Ich spürte den Wind um meine Ohren wehen. Die Bäume im Vordergrund wanderten in Zeitlupe am Himmel entlang, wo zwischen bleiernen Wolken manchmal aufklarend leuchtendes Hellblau durchschien. Ich nahm mir Zeit, die Leberblümchen-Matten und die Büschel von Märzenbechern, die sich zwischen Moos und Gehölz leise im Wind bewegten, wirklich wahrzunehmen. Ich kniete inmitten der Pracht und betrachtete ausgiebig die feinen Formen der Blüten und die Linien der Blätter.

Zudem wurde die Ammerschlucht an jenem Tag von einer „Froschwanderung“ heimgesucht. Mindestens 40 Exemplare, kleine grüne und große braune, hüpften über den Weg, verharrten auf einem Stein oder paarten sich mit den (größeren) Weibchen. Man musste aufpassen, keines der Tiere zu verletzen und ging schon deshalb lieber achtsam. Nach einiger Zeit geriet ich in eine Art von sanfter Trance, wie sie sich bei der Meditation einstellen kann. Ich fühlte mich so entspannt wie selten im Alltag und empfand ein unspektakuläres, friedliches Glück. Wieder zuhause, merkte ich, wie dieses Glücksgefühl nachwirkte und ich mich besser erholt hatte, als bei den üblichen ermüdenden „Grübelwanderungen“.

Innen und Außen sind eins

Kann man eine solche Erfahrung überhaupt „Meditation“ nennen? Tatsächlich lehren viele Meditationsschulen, die äußere Welt völlig auszublenden. Im Zen-Buddhismus sitzen die Schüler etwa mit den Gesichtern zur Wand. Die Augen sind geschlossen oder auf den Boden vor den Meditierenden gerichtet. Auch die christliche Kontemplation betont eher die Introversion. Tatsächlich ist es aber unnötig, Meditation im „stillen Kämmerlein“ und Naturmeditation gegeneinander auszuspielen.

Das, was der Meditierende sucht, ist hier wie dort gegenwärtig: auf dem Grunde seiner Seele genauso wie in jedem Leberblümchen oder Frosch. „Hebe einen Stein auf, und du wirst mich finden“, sagt Jesus im Thomasevangelium.

Seeleninnenraum und Außenwelt gehören zusammen, spiegeln und durchdringen einander. Es ist nicht weise, einen der beiden Bereiche abzuwerten. Man kann ja unter verschiedenen Meditationstechniken aufgrund von Vorlieben und Erfahrungen wählen. Wichtig ist aber, zunächst zu begreifen: Meditation ist überall möglich. Es gibt keine sinnvolle Spaltung unseres Erlebens in „spirituelle Zeiten“ und „banale Zeiten“, in heilige (Innen-)Räume und profane (Außen-)Räume. Der Unterschied ist: „Kämmerlein“-Meditation wird in vielen Schulen gelehrt, Naturmeditation braucht besondere PR, weil sie auch in spirituellen Kreisen meist „kein Thema“ ist.

Gottes unmittelbare Sprache

Dabei ist der Gewinn, der daraus zu ziehen ist, offensichtlich. In großen Kunstwerken und Heiligen Schriften spricht Gott „gefiltert“ durch den Geist eines Menschen, gleichsam übersetzt in einer Fremdsprache; die Natur dagegen ist direkt und unmittelbar die Sprache Gottes. Wer den Begriff „Gott“ vermeiden möchte, kann in der Natur jedenfalls ein geistiges Wirkprinzip erkennen. Kommunikation, ja Kommunion ist möglich, und sie ist wechselseitig. Dichter, Künstler und Mystiker haben dies erkannt. In der schönen Szene „Karfreitagszauber“ aus Richard Wagners „Parsifal“ heißt es:

„Wie dünkt mich doch die Aue heut so schön! (…) doch sah ich nie so mild und zart die Halme, Blüten und Blumen, noch duftet‘ all so kindisch hold und sprach so lieblich traut zu mir.“

Ist es wahr? Können Blumen, Bäume und Felsen sprechen? Sie können! Aber um ihre Sprache zu erlernen, braucht es Einübung in Achtsamkeit, Geduld und eine Verlangsamung unseres Lebens- und Wahrnehmungsrhythmus. Natur ist Slowfood für die Seele.

Der Schweizer Naturlehrer und Künstler Kari Joller schreibt in seinem lesenswerten Buch „Naturerfahrung mit allen Sinnen“:

„Wir müssen in uns wieder die Freude entdecken, uns auf die Natur einzulassen, achtsam unterwegs zu sein, immer wieder innezuhalten. Dazu braucht es die Fähigkeit zur Hingabe, zum Eintauchen in die Erfahrungswelt unserer Sinne. Nicht zuletzt ist dies eine Frage der Beziehungsfähigkeit überhaupt. Sind wir fähig, wach und aufmerksam durch die Welt zu gehen, uns von etwas beeindrucken und ergreifen zu lassen?“

Naturerleben verbindet Menschen über Nationalitäten, Altersstufen und andere Grenzen hinweg, während Technik oft trennt. Oma telefoniert, Mama schreibt Mails, der Enkel simst, skypt und whatsappt. Die Erfahrung, einem Büschel Lichtnelken oder einem Eichhörnchen am Wegesrand zu begegnen, hat dagegen etwas Zeitloses. Schon unsere Vorfahren könnten das ähnlich erlebt haben.

Gehmeditation: Die Erde heilt

Zu den wenigen spirituellen Meistern, die eine Brücke zwischen introvertierter und Naturmeditation schlagen, gehört der vietnamesische Zen-Mönch Thich Nhất Hạnh, der ein lesenswertes Büchlein über die Gehmeditation geschrieben hat.

Gehmeditation verkörpert Weltzugewandheit statt Weltflucht, sanfte Aktivität statt körperlicher Starre, waches Sein im Augenblick statt esoterischer Spekulation.

Sie ist deshalb das gelebte Musterbeispiel für Thich Nhất Hạnh Philosophie des „Inter-Seins“ — der wechselseitigen Verbundenheit allen Lebens und ideal geeignet für alle, die sich mit der Sitzmeditation schwertun, aber auch für jene, die ihr bewährtes spirituelles Übungsprogramm um eine dynamische Methode erweitern wollen. Mit jedem wirklich achtsam gegangenen Schritt, sagt der Zen-Meister, pflanzen wir eine Saat des Friedens und des Glücks in den Boden, den wir betreten. Wir beginnen damit, die Erde, unsere Mutter, zu heilen und uns zugleich von ihr heilen zu lassen.

Thich Nhất Hạnh beschreibt, wie man geht und dabei lächelt und wie man jeden Schritt — ganz im Geist des Bodhisattva-Gelübdes — dem Frieden auf der Erde und dem Wohl der Wesen widmet. Das Gehen, oft als Mittel zum Rennen und Hetzen missbraucht, erhält so seine ursprüngliche Bedeutung zurück. Es geht nicht darum, irgendwo anzukommen, sondern um das Gehen selbst als Erfüllung und Genuss dieses Augenblicks. Gehmeditation ist somit auch geeignet, psychische Unausgeglichenheit, wie Unrast, Ängste und Ärger, zu kompensieren. Dies gilt natürlich für meditatives Gehen in der Natur erst recht. Sie ist neben dem Gehen im Meditationsraum, in Gärten und sogar in Menschenmengen eine der Spielarten, die Thich Nhat Hạnh beschreibt. In der Natur jedoch verstärkt sich der heilsame Effekt des achtsam-liebevollen Gehens durch einen zweiten, der mit dem Naturerleben selbst zu tun hat.

Naturbilder machen glücklich

Es ist ja wirklich keine Überraschung, aber jetzt haben wir es schwarz auf weiß: Joe Barton und Jules Pretty von der Universität Essex fanden heraus, dass Aktivitäten im Freien die Stimmung verbessern. Die englischen Forscher analysierten zehn Studien mit insgesamt 1252 Personen unterschiedlichen Alters und Geschlechts.

Das Ergebnis: Schon fünf Minuten körperliche Aktivität im Grünen verbessern Stimmung und Selbstwertgefühl, besonders bei jüngeren Menschen und solchen mit psychischen Problemen. Die Glücksfaktoren steigen in den ersten Minuten rasant an, um dann auf hohem Niveau zu bleiben. Gewässer, wie Bäche oder Seen, verstärken die Wirkung des Grüns. Schon das Betrachten der Bilder von Wiesen, Wäldern oder Wasser synchronisiert bestimmte Gehirnbereiche und bewirkt einen angenehmen Entspannungszustand. Ein Blumenposter, das Betrachten eines Wildnis-Bildbands oder einer Land-Zeitschrift hebt die Stimmung. Voraussetzung: Man lässt sich auf die Bilder wirklich ein und blättert nicht hektisch weiter.

Nach meiner Erfahrung umfasst Naturmeditation fünf Stufen, die aufeinander aufbauen. Man kann sie jedoch teilweise auch gleichzeitig oder abwechselnd praktizieren.

1. Schlendern

Hier geht es zunächst um den Entschluss, der Natur in unserem Leben mehr Raum zu geben und einfach die Existenz der Landschaftsformen, Pflanzen, Tiere und Elemente zur Kenntnis zu nehmen. Schlendern ist absichts- und zielloses Gehen in der Natur, unterbrochen vom Innehalten, wobei Anregungen aus der Natur aufgegriffen werden. Dazu gehören die Verlangsamung des Schritttempos und die Reduktion des inneren Monologs. Wie ich am Beispiel meines Ammerschlucht-Spaziergangs erörtert habe, sollte das Wort bildende Denken verebben, sollten alle Sinne geöffnet werden.

Es geht beim Schlendern auch um die schlichte Wahrnehmung von Schönheit. Sehr geeignet sind hier auch Botanische Gärten, weil sie auf beschränktem Raum sehr viel Betrachtenswertes bieten und nicht dazu verführen, schnell „von Punkt A nach Punkt B“ zu rasen. Der Weg — das Betrachten der Pflanzen — ist hier buchstäblich das Ziel des Besuchs. Beim Durchschreiten eines von feuchtwarmer Atmosphäre dampfenden Orchideenhauses dachte ich: Es wäre schwer, zuhause mit Farbstiften auch nur eine Blume zu entwerfen, die so schön und dabei einzigartig ist. Mein Eindruck von Pflanzen ist: Es sind Kunstwerke, die zugleich in jedem ihrer Einzelteile „funktionstüchtig“ sind. Von Jesus ist über Blumen das Wort überliefert, „dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist wie derselben eins.“

2. Informieren

Wissen über die Funktionsweisen von Ökosystemen, über das Verhalten der Tiere und die Überlebensstrategien der Pflanzen ist für die weiteren Schritte der Naturmeditation hilfreich. Als ich begann, mich mit dem Thema zu beschäftigen, ging ich mit einem Bestimmungsbuch durch die Landschaft und lernte viele Namen von Blumen, Bäumen und Büschen auswendig. Ich schaute mehr als 30 Natur- und Tierfilme an, die wunderschöne Nahaufnahmen mit kundigen Erklärungen verbanden, vor allem solche des legendären Tierfilmers David Attenborough. Ich lieh mir eine Reihe von schönen Bildbänden aus und besuchte jede Gartenausstellung in meiner Nähe.

Eine „wissenschaftliche“ Vorgehensweise scheint einem meditativen oder gar mystischen Zugang zu widersprechen. Meine Erfahrung ist allerdings eine andere. Wenn ich lerne, Blumen voneinander zu unterscheiden, muss ich sie genau betrachten. Mit der Betrachtung kommt oft die Bewunderung, mit der Bewunderung die Liebe. Bekannte Pflanzen, wie das Buschwindröschen, betrachte ich wie Freunde: Ich freue mich, sie wiederzusehen. Der Offenheit für noch unbekannte Pflanzen tut dies keinen Abbruch.

3. Kontemplieren

Hier betritt man eine „transrationale“ Stufe jenseits von Worten und Namen. Das rationale Verständnis für Naturvorgänge wird integriert, zugleich gehen wir aber darüber hinaus. Beim Kontemplieren betrachtet man einen Naturgegenstand längere Zeit und versucht sich in die Betrachtung hinein zu entspannen. Das reine Schauen sollte ohne Wertung und ohne Eigeninteresse erfolgen. Wir versuchen, nicht zu denken: „Es ist schön.“ oder „Es würde gut schmecken.“ (zum Beispiel beim Anblick eines Hasen), sondern: „Es ist.“.

Der Franziskaner Richard Rohr definiert Kontemplation so: „Es bedeutet, ungeschützt vor dem jeweiligen Augenblick, einem Ereignis oder einer Person zu verweilen — ohne zu spalten und zu versuchen, die Dinge zu beherrschen und zu kontrollieren.“ „Ungeschützt“ meint hier wohl: Man verschließe seine Sinne und sein Herz nicht, um Eindrücke auszuklammern, die das eigene Selbstbild gefährden. „Spalten“ meint die Unterscheidung zwischen angenehm und unangenehm. „Kontrollieren“ würde man, indem man beispielsweise versucht, ein Tier länger festzuhalten, als es wünscht.

Rohr fährt fort: „Kontemplation ist Einübung darin, die Räume des Herzens und des Verstandes lang genug offen zu halten, damit der Verstand neues, bisher verborgenes Material sehen kann.“

Bezogen auf die Naturmeditation kann dieses „neue Material“ darin bestehen, dass wir etwas von der geistigen Innenseite der körperlichen Welt der Pflanzen, Tiere, Gesteine und Elemente wahrnehmen.

Zum Kontemplieren gehört es, die Naturwesen als Subjekte und sich selbst als Objekt zu erleben. Der Betrachter beeinflusst stets das, was er betrachtet. Bei einer geführten Naturexkursion machte unser Leiter Thomas darauf aufmerksam, dass wir beim Betreten eines Waldes die Rufe der Vögel durchaus auf uns beziehen können. Es sind oft Warnrufe, die unsere Ankunft als mögliche Gefahr ankündigen. Kommunikation mit der Natur bedeutet nicht nur zu sehen, sondern auch gesehen zu werden; nicht nur zu hören, sondern auch gehört zu werden; nicht nur zu spüren, sondern auch gespürt zu werden. Bei Tieren ist dies offensichtlich; aber auch die Sensibilität von Pflanzen wurde in eindrucksvollen Experimenten deutlich. Ein Versuch mit Parmaveilchen hat gezeigt, dass Pflanzen, die gelobt werden, besser gedeihen, als solche, die beschimpft werden. Ein Bauer steigerte seinen Ertrag an Tomaten um 22 Prozent, indem er sie täglich mit „Guten Morgen, liebe Tomaten!“ begrüßte.

Cleve Backster aus Kalifornien war eigentlich kein Botaniker, sondern Experte für Lügendetektoren. Eines Tages schloss er die Elektroden zuhause an seinen Drachenbaum an. Er wollte prüfen, wie lange es dauerte, bis das Wasser nach dem Gießen vom Wurzelbereich in den Blättern angekommen war. Zu seinem Erstaunen zeigte sein Schreiber eine Kurve, wie sie auftritt, wenn sich ein menschlicher Proband „freut“. Backster wollte nun prüfen, ob sein Baum auch auf negative Reize reagierte. Schon als er daran dachte, ein Blatt mit dem Streichholz zu versengen, zeichnete der Lügendetektor jedoch eine dramatische Kurve auf.

Dies führte zu einem weiteren, noch erstaunlicheren Experiment: Backster stellte zwei Pflanzen nebeneinander. Die eine wurde von einer Versuchsperson, einem Studenten, „ermordet“, also ausgerissen und zertrampelt. Der Forscher ließ nun nacheinander fünf Studenten den Raum betreten. Bei vier von ihnen reagierte die zweite Pflanze nicht. Als der „Mörder“ hereinkam, zeichnete der Detektor jedoch heftige Ausschläge auf: „Angst“. Man kann daraus verschiedene Schlussfolgerungen ziehen. Meine ist: Wenn ich mich Blumen mit einer liebevollen Einstellung nähere, kann ich nicht ausschließen, dass sie das spüren und sich „freuen“.

4. Lieben

Die Liebe zur Natur kommt meist von allein. Man kann sie jedoch auch als Ergebnis und Steigerung der bisher gegangenen Schritte (bewusstes Wahrnehmen, Informieren, Kontemplieren) verstehen. Wir betrachten eine Schwertlilie in einer Sumpflandschaft, nehmen die Details ihres Aufbaus in uns auf, die Farben, die Formen. Wir lassen sie eine Weile auf uns wirken und stellen uns vor, dass auch sie uns wahrnimmt. Es kann sich nun ein warmes Gefühl von Liebe einstellen. Man kann dies nicht erzwingen, wohl aber begünstigen, indem man gewisse Vorlieben pflegt.

Empfehlenswert ist es, einen „Kult“ um Lieblingspflanzen, -tiere und -plätze zu machen. Ich habe mittlerweile zum Beispiel viele Informationen und Bilder rund umEichhörnchen gesammelt, merke mir Plätze, wo sie häufig auftreten. Zu meiner Freude sehe sie nun wesentlich häufiger als früher. Es ist, als ob sie speziell zu mir kämen. Denselben Effekt erlebte ich vor rund zehn Jahren mit Igeln. Ist man auf ein Tier fokussiert, sieht es man es „überall“ — sofern es einheimisch und nicht zu selten ist.

Es ist aber gut, seine Vorliebe auszuweiten, indem man weitere Objekte zu schätzen lernt. Ziel ist es ja auch, die Spaltung zwischen „erwünschten“ und „unerwünschten“ Naturphänomenen zu überwinden. Der Regen ist für das Wohl des Ganzen ebenso wichtig wie der Sonnenschein. „Hässliche“ Regenwürmer sind für die Bodenbeschaffenheit genauso wichtig wie „niedliche“ Eichhörnchen für die Verteilung von Baumsamen im Wald. Wer sehr vieles, idealerweise alles liebt, fühlt sich stets aufgehoben in einer freundlichen, ja befreundeten Umgebung. Fjodor Dostojewski beschreibt die wachsende Liebe zur Natur in „Die Brüder Karamasow“ als Weg zum Gottesbewusstsein:

„Liebet die Tiere, liebt die Gewächse, liebet jegliches Ding. Erst wenn du jedes Ding lieben wirst, wird sich dir das Geheimnis Gottes in den Dingen offenbaren. (…) Und zu guter Ltzt wirst du die ganze Welt schon mit ungeteilter, allumfassender Liebe lieben.“

Um Pflanzen lieben zu lernen, empfiehlt es sich natürlich auch, sich um einige von ihnen besonders zu kümmern. Man kauft und pflanzt sie, pflegt sie und erlebt den ganzen Zyklus vom Werden, Blühen und Vergehen hautnah mit. Es ist wie mit der Rose in Antoine de Saint-Exupérys Buch „Der Kleine Prinz“: Sie ist nicht perfekt, und für Außenstehende unterscheidet sie sich nicht sehr von anderen Rosen. Aber der Prinz liebt sie, „da es meine Rose ist.“.

5. Eins werden

Seltener berichten Menschen von dem Gefühl, mit ihrer Umgebung zu verschmelzen. Die Bäume, die Wiese, das Wasser und der Himmel erschienen ihnen dann wie ihr erweiterter eigener Körper. Gerade im indianischen Kulturkreis wird oft erzählt, jemand habe sich mit dem Geist eines Wolfes vereinigt, sei mit dem Adler durch die Lüfte geflogen und so weiter. Er habe durch die Augen des Tieres gesehen und gefühlt, was das Tier fühlte.

Auf einer noch tieferen Stufe nimmt der Mystiker Gottes Gegenwart in allem wahr. Der griechische Philosoph Plotin beschreibt, „wie die Seele von allen Seiten in die ruhende Welt einströmt, sich in sie ergießt, sie durchdringt und in sie hineinleuchtet.“

Mit „Seele“ ist dabei eine überpersönliche Weltseele gemeint. Sicher sind mystische Gipfelerlebnisse — wie auch bei der Sitzmeditation — nicht planbar. Manche erleben dergleichen nie und bezweifeln daher die Existenz außergewöhnlicher Naturerfahrungen. Aber probieren Sie es einfach aus.

Auf der letzten Stufe sind Einheitserfahrungen immer ein Geschenk, eine „Gnade“. Ich glaube aber, dass sie durch die von mir beschriebenen Schritte eins bis vier vorbereitet werden können. Noch mehr als in anderen spirituellen Schulen ist bei der Naturmeditation der Weg das Ziel. Selbst wenn wir nie „ankommen“, empfinden wir auf dem Weg doch viel Freude. Wir verbessern unsere Chancen, damit Körper und Seele gesunden können.

Einige Naturmeditationen — konkret

Einen Lieblingsplatz kultivieren.

Am besten einen Ort, der viele reizvolle Landschaftselemente bietet: Wasser, Bäume, Blumen, vielleicht auch eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Tiere auftauchen. Suchen Sie diesen Platz im Laufe der Monate und Jahre immer wieder auf, und nehmen Sie die Veränderungen aufmerksam wahr. Die Freude über den Reichtum der Natur vermischt sich hier mit einer Kontemplation über Vergänglichkeit. Manches bleibt fast unverändert: Steine, Tannen … Vieles verblüht fast schmerzlich schnell. Aber es kommt auch wieder — nicht in identischer Gestalt, aber in unzähligen Varianten. Ziehen Sie Parallelen zum menschlichen Leben.

Wolken beobachten.

Sich auf den Rücken legen und in den Ozean über unseren Köpfen blicken, die Veränderung der Wolkenformationen wahrnehmen und vielleicht „Bilder“ in ihnen sehen. Diese Übung bewirkt automatisch eine Verlangsamung unseres Geistes, ein Zur-Ruhe-kommen. Wir können die Gedanken schweifen lassen, ohne sie festzuhalten oder zu verdrängen. Wir lassen uns vom Anblick dieser Weite anstecken, und mit der Zeit wird auch unsere Seele weiter.

Einen Fluss oder Bach beobachten.

Jedes Wassermolekül fließt unaufhörlich weiter, die Wirbel, Strömungsmuster und Spiegelungen verändern sich. Der Fluss ist in keinem Augenblick derselbe und bleibt doch in seiner Form konstant. Man kann darüber philosophieren, wie alles von der Quelle her fließt und im Meer mündet. Oder „nirgendwohin denken“ — und den Fluss oder den Bach einfach auf sich wirken lassen. Schon sein Rauschen ist auf eine unaufdringliche Art schön, die uns zur Ruhe kommen lässt.

Sich an einen Baum lehnen.

Man wird hier nach einiger Zeit eine Kraft spüren, die den Rücken und den ganzen Körper durchdringt. Vor allem im Frühjahr, wenn die Wachstumskräfte auf dem Höhepunkt sind, ist die Energie sehr stark. Man hat das Gefühl, der Baum lebt, ist uns wohlgesonnen und stärkt uns sogar psychisch. Auch der Wind in den Blättern, die Baumblüte (etwa bei Linden oder Kastanien), das Betrachten der unzähligen Verzweigungen, die den Himmel in kleine Abschnitte teilen — all das ist in höchstem Maße erfreulich. Und denken Sie an das Experiment mit dem Drachenbaum: Der Baum nimmt uns wahr.

Blumen betrachten.

Man geht einmal nicht einfach vorbei, sondern bleibt stehen und sieht genauer hin. Man kauert sich zum Beispiel in eine Wiese voller Schlüsselblumen oder Wiesenschaumkraut; setzt sich auf einen Stein am Bach, nahe einem Büschel Sumpfdotterblumen. Wir beginnen nun, die Blume zu „scannen“, jedes Detail wahrzunehmen, die Zahl der Blütenblätter, die Anordnung der Blätter, die Verbindung zum Boden und zu anderen Pflanzen. Wir versuchen die Schönheit der Blume ganz in uns aufzunehmen und, wenn möglich, etwas von ihrem „Geist“, ihrer „Persönlichkeit“ zu spüren. Nach einer Weile kehrt tiefe Ruhe ein, und wir fühlen uns durch den Kontakt mit der Blume „genährt“.

Tiere beobachten.

Wir können Tiere aufsuchen, die sich zuverlässig an einem bestimmten Ort befinden, etwa eine Schafherde in einem Gatter oder Enten, die im Frühling mit einem „Kindergarten“ voller Küken im Gefolge über einen Teich gleiten. Manche Tierbegegnungen kann man nicht vorhersehen oder erzwingen, wie zum Beispiel das plötzliche Auftauchen eines Eichhörnchens auf einem Baumstamm. Hier heißt es, wachsam zu sein und ein paar Grundregeln zu beachten: Die Tiere nicht „verfolgen“, nicht nach ihnen greifen, nicht laut sein, still dasitzen, schauen und im Geist mit ihnen Verbindung aufnehmen. Das Tier entscheidet selbst, wann es wieder aus unserem Blickfeld verschwindet.

Gelingt eine längere Tierbeobachtung, so kann sich ein Gefühl der Vertrautheit, der Zuneigung und des inneren Friedens einstellen. Was immer das Eichhörnchen, das Reh oder die Blaumeise tut: Staunenswert ist ihre bloße Existenz, ihre Körperform und ihr Geschick, mit dem sie sich bewegen. Jetzt die Tiere nicht vergleichen und bewerten. Jedes ist gut so wie es ist.


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