Zum Inhalt:
Europas Führer in Angst

Europas Führer in Angst

Die Rhetorik der Feindseligkeit gegenüber Russland hat sich mittlerweile verselbständigt und komplett von der Realität abgekoppelt.

Fakten, Meinungen, Wahrheit

Der Vormarsch der russischen Armee ist nicht aufzuhalten, und damit wächst bei vielen die Angst, dass sie nicht am Dnjepr Halt machen könnte, sondern auch die gesamte Ukraine einkassiert und den Rest Europas noch dazu. Hinzu kommt, dass der Schutz durch die USA nicht nur teurer geworden ist, sondern vor allem unsicherer. Die Vorstellungen von einer russischen Bedrohung haben sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mehr oder weniger tief in den Köpfen vieler Menschen festgesetzt. Sie haben eine lange Geschichte (1).

Das Verhältnis vieler Bürger zu Russland ist von Angst geprägt. Viele denken wie die westlichen Führungskräfte aus Medien, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, die solche Weltbilder in die Welt setzen. Sie sind es, die die Szenarien entwerfen, die den Menschen ängstigen. Aus ihrem Denken und ihren Theorien entstehen Sichtweisen, die das Bewusstsein der Gesellschaften durchdringen, es formen und damit immer mehr der Wirklichkeit entfremden. Viele dieser Meinungsmacher glauben selbst fest daran, und deshalb halten sie verbissen durch in der Unterstützung der Ukraine.

Das ist nicht nur Lüge und Propaganda.

Die Führer des politischen Westens sind verfangen in einem Weltbild von äußerer Bedrohung, sei es durch Russland, sei es durch China, durch den Iran oder Nord-Korea. Dahinter steckt nicht nur die Absicht, die Menschen zu täuschen. Neben aller Lüge und Propaganda handelt es sich dabei auch um ein hohes Maß an Selbsttäuschung.

Das können und wollen viele Kritiker der westlichen Eliten nicht glauben. Sie wollen nicht wahrhaben, dass es sich bei diesen Sichtweisen auch um Überzeugungen handelt, um ehrlichen Glauben an die Richtigkeit der eigenen Meinungen.

Unbestritten ist, dass die meisten europäischen Führungskräfte die Tatsachen hinter den Ereignissen genauso kennen wie deren Kritiker. Wenn also die Meinungsmacher andere Ansichten vertreten als ihre Kritiker, dann kann das nur in Täuschungsabsicht geschehen, so die Schlussfolgerung. Den Menschen werden wissentlich und gezielt Lügen aufgetischt. Unterschiedliche Meinungen aber entstehen nicht aus der Verschiedenheit der Fakten. Sie sind das Ergebnis unterschiedlicher Deutung dieser Fakten. Das aber wollen viele Kritiker nicht wahrhaben. Viele sind der Meinung, dass die westliche Behauptung, von Russland bedroht zu sein, wider besseres Wissen aufgestellt wird.

Sie sind davon überzeugt, dass, wer die Tatsachen kennt, zwangsläufig zu derselben Meinung kommen muss wie sie selbst. Anderenfalls kann es sich nur um Lug und Trug handeln. Dahinter steht die Vorstellung, dass es nur eine Wahrheit gibt, meistens verbunden mit der Annahme, dass man selbst im Besitz dieser alleinigen Wahrheit ist. Die Wahrheit ist unabhängig von den Meinungen. Sie offenbart sich in und durch die Tatsachen. Es gibt aber unterschiedliche Meinungen darüber, was die Wahrheit ist. Die Fakten selbst sind neutral; ihre Verknüpfung zu Meinungen macht den Unterschied zwischen Wahrheit, Irrtum und Lüge.

Bedroht

Der französische Präsident Emmanuel Macron ist ein gutes Beispiel dafür, wie jemand trotz der Kenntnis der Fakten zu Meinungen kommt, die nicht nur durch die Tatsachen geprägt sind, sondern vielmehr durch Vorstellungen, die sich aus einem verinnerlichten Weltbild speisen. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeine Zeitung behauptete er: „Wir befinden uns dauerhaft in einer Konfrontation. Neben dem Terrorismus ist Russland die größte strukturelle Bedrohung für die Europäer. Es gefährdet unsere kollektive Sicherheit.“ (2). Er kennt die Tatsachen, die die Entwicklung in der Ukraine bestimmt haben. Zu einem großen Teil war er selbst an der Vorgeschichte des bewaffneten Konflikts beteiligt.

Im Jahre 2021 hatte er noch vor Kriegsbeginn unter den NATO-Partnern um Verständnis für Russlands Sicherheitsinteressen geworben, dafür sogar von den Kollegen Vorwürfe einstecken müssen. Dennoch spricht er heute von einer Bedrohung durch Russland. Er weiß, dass es die NATO selbst war, die Russland immer mehr auf die Pelle gerückt ist und damit die Konfrontation auslöste. An der Vorgeschichte des Konflikts hat sich also nichts geändert. Auch Russlands Interessen sind noch dieselben, wenn man die heutigen Erklärungen mit denen von damals vergleicht. Geändert hat sich alleine Macrons Sicht auf beides. Nun sieht er eine Bedrohung, die von Russland ausgeht. Die Bedrohung Russlands durch die NATO hat er inzwischen unter den Tisch fallenlassen.

Wer in der Vorstellung dauerhafter Konfrontation lebt, wird dieses Bild auch überall bestätigt sehen, so lange er an diesem Bild festhalten will, und Macron will daran festhalten.

Denn er gibt sehr fragwürdige Hinweise, die die Richtigkeit seiner Behauptung bestätigen sollen, zum Beispiel „Migrationsströme, die als Druckmittel eingesetzt werden“ (3). Für ihn ist klar, dass Russland dahintersteckt. Ausgehend von der Vorstellung, dass Russland eine Bedrohung ist, werden alle Ereignisse in diesem Zusammenhang so gedeutet, dass sich diese Vorstellung als bewiesen herausstellt.

Man kann darin Lüge sehen, auch Propaganda. Das würde der moralischen Empörung dienen, wäre darüber hinaus aber wenig hilfreich, um die Zusammenhänge zu verstehen. Moralische Empörung vermittelt zwar das Gefühl eigener moralischer Überlegenheit, aber kein Verständnis für die gesellschaftlichen und politischen Vorgänge. Allein die Täuschungsabsicht herauszustellen, würde zu kurz greifen. Denn Propaganda und Lüge sind mehr. Sie sind getrieben von Angst, einerseits von der Angst, dass die eigenen Befürchtungen Wirklichkeit werden könnten, andererseits aber auch von der Angst vor der Wahrheit.

Das ist das andere Thema, das Macron in seinem Interview umtreibt: „Es wird unterschätzt, wie sehr die Russen unsere öffentliche Meinung durch die Verbreitung von Unwahrheiten beeinflussen“ (4). Das heißt, dass Russland durch Lügen Einfluss gewinnt. Diese Aussage ist aber das Eingeständnis, dass es den eigenen Meinungsmachern trotz ihrer Medienmacht und den Deutungshoheiten in allen Bereichen der westlichen Gesellschaften immer weniger gelingt, eine wachsende Zahl von Menschen bei der Stange ihrer Weltsicht zu halten. Macron führt das zurück auf Russlands Lügen. Er sagt damit aber auch, dass die eigene Bevölkerung zu blöde ist, Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden, Wahrscheinliches von Unwahrscheinlichem.

Die Kernfrage lautet aber doch: „Wieso gelingt es uns nicht, die Menschen zu überzeugen, wieso glauben sie lieber Putins Lügen als unseren Wahrheiten?“ Dabei hat doch Putin gar keine Macht im Westen, keine Gesetze, Gerichte, Vollstreckungsgewalt, die ihm gehorchen, keine Medien, die seine Sichtweisen unterstützen und verbreiten, keine Wissenschaftler und sonstige sogenannte Experten, die in den Talkshows und Informationsveranstaltungen seine Wahrheiten verkünden.

Aber diese Fragen scheint sich Macron gar nicht zu stellen, geschweige denn als Problem zu erkennen: Wie kann Russland erfolgreich sein, wenn seine Sichtweisen doch Unwahrheiten sind? Putin äußerte unlängst öffentlich, „die Wahrheit ist eine geheime strategische, hochpräzise Waffe mit interkontinentaler Reichweite“ (5). Da zeigt sich ein anderes Verständnis von Wahrheit als bei Macron. Ist Russland dem politischen Westen nicht nur waffentechnisch im Bereich der physischen Interkontinentalraketen überlegen, sondern auch intellektuell in Bezug auf die Wahrheit?

Selbsttäuschung als Grundlage

Propaganda und Lügen können die Menschen täuschen. Aber irgendwann täuschen sie auch jene, die sie verbreiten. Wenn sie nicht durch andere Sichtweisen in Frage gestellt werden, erscheinen sie vielen irgendwann als richtig. Das ist aber nur möglich, wenn kein freier Meinungsaustausch herrscht. So werden Ansichten über das bisherige Bild von der Wirklichkeit immer mehr vervollständigt.

Je mehr jedoch die Meinungsvielfalt verengt wird, umso lückenhafter und verzerrter wird unsere Vorstellung von der Realität. Das Erkennen der Wirklichkeit aber ist Voraussetzung für erfolgreiches Handeln.

Das Verhältnis des politischen Westens, besonders gegenüber Russland und China, ist geprägt von vielen Selbsttäuschungen. Sie sind in vielen Fällen das Ergebnis analytischer Unfähigkeit oder schlichtweg des Leugnens der Tatsachen. So behauptet Donald Trump, Russland sei ein Papiertiger, dessen Wirtschaft schwach ist. Das widerspricht aber allen auch für Trump verfügbaren Erkenntnissen internationaler Wirtschaftsorganisationen, die besagen, „das russische Budgetdefizit und die Staatsverschuldung sind im internationalen Vergleich niedrig“. (6).

Kaja Kallas hat die Realität schon so weit aus den Augen verloren, dass sie behauptet, kein Land müsse Angst vor Enteignung haben, wenn es keinen Krieg gegen Europa beginnt. Führt Russland Krieg gegen Europa? Trotzdem will sie es enteignen. Auch Ursula von der Leyen und Annalena Baerbock wollten Russland ruinieren und sahen seine Wirtschaft bereits kurz nach den ersten Sanktionen in Fetzen. Heute erklären Fachleute, die nicht durch Hass auf Russland und eigene Wunschvorstellungen verblendet sind, „dass sich Russland den Ukrainekrieg noch lange leisten kann“ (7).

Endlos sind auch die Weissagungen sogenannter westlicher Experten, die schon bald nach Beginn des Krieges Russlands Durchhaltevermögen mit absoluter Gewissheit als gering darstellten, seine Waffen als schlecht und veraltet, seine Soldaten als unmotiviert und schlecht ausgebildet abtaten. Doch wieso wird Russland dann als diese Bedrohung angesehen, die Marcon in seinem Interview an die Wand malt? Solche Äußerungen zeigen nicht nur Überheblichkeit, sondern auch die Unfähigkeit, die Wirklichkeit zu erkennen. In dem aufgezeigten Widerspruch offenbart sich nicht nur schwache Analysefähigkeit, sondern auch Uneinsichtigkeit. Man will die Tatsachen nicht wahrhaben.

So kommt es, dass der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz am 20. Oktober 2025 im Rahmen der Feierlichkeiten zum 80. Geburtstag der CDU erklärt: „Wir werden uns wieder verteidigen müssen.“ Er spricht nicht davon, dass man sich verteidigen muss, sondern dass man sich „wieder“ verteidigen muss und zwar gegen Russland. Er sitzt also der Selbstlüge auf, dass nicht Russland von Deutschland mehrmals überfallen wurde, sondern umgekehrt. Dass er das unwidersprochen äußern kann, zeigt, wie weit Selbsttäuschung und Leugnung der Tatsachen das Bewusstsein der westlichen Führungskräfte bestimmen. Sie glauben ihren eigenen Theorien, Wahnvorstellungen und Lügen.

Wieso aber empfinden sie Russland als Bedrohung? Auf diese Frage werden die Meinungsmacher schnell mit den üblichen Schlagworten um sich werfen: hybride Kriegsführung, Cyberwar, Schattenflotte, Drohnen und so weiter. Mit Sicherheit wird keine der westlichen Führungskräfte tiefer in die Beantwortung dieser Frage eindringen können. Man beschränkt sich auf das Aufführen von Verbrechen, die man vorgibt, nur bei der russischen Kriegsführung zu finden. Als gäbe es Vergleichbares nicht in den westlich geführten Kriegen von Vietnam bis Gaza.

Die Antwort ist banaler: Man weiß es selbst nicht mehr.

Die Konfrontation mit Russland und zunehmend auch mit China hat sich inzwischen so verselbständigt, dass man selbst nicht mehr sagen kann, was die Feindseligkeit gegenüber beiden ausmacht.

Zuzeiten der Sowjetunion gab es noch einen Systemkonflikt. Man befürchtete die Enteignung des Privateigentums durch die Kommunisten. Das war ein handfestes nachvollziehbares Interesse. Aber heute herrscht in Russland nicht die kommunistische Partei, sondern Kapitalismus wie im gesamten politischen Westen auch.

Also was ist der tiefere Grund dieser dauerhaften Konfrontation, die Macron feststellt, der tiefere grundlegende Konflikt? Das wird vermutlich niemand sagen können. Es ist dieselbe verfahrene Situation wie in den USA. Was soll denn der grundlegende Unterschied zwischen Demokraten und Republikanern sein, dass sie sich so unversöhnlich gegenüberstehen? Außenstehende verstehen das nicht. Können die Anhänger dieser Parteien Grundsätzliches benennen? Ist es vielleicht einfach nur die Feindseligkeit, die sich immer mehr ausbreitet innerhalb der westlichen Gesellschaften?


Finden Sie Artikel wie diesen wichtig?
Dann unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer Spende.

Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem kleinen Dauerauftrag oder einer Einzelspende unterstützen.

Oder unterstützen Sie uns durch den Kauf eines Artikels aus unserer Manova-Kollektion .


Quellen und Anmerkungen:

(1) siehe Rüdiger Rauls: Erbfeind Russland und Bedrohung aus dem Osten
(2) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 2. Oktober 2025: „Es gibt kein Zurück mehr“
(3) Ebenda
(4) Ebenda
(5) TASS vom 17. Oktober 2025: Putin bezeichnete die Wahrheit als „eine Waffe mit interkontinentaler Reichweite“
(6) FAZ 23. Oktober 2025: „NATO-Aufrüstung stärkt Osteuropa“
(7) Ebenda

VG-Wort Zählpixel

Weiterlesen

Russisches Roulette in Brüssel
Thematisch verwandter Artikel

Russisches Roulette in Brüssel

Europa will zur weiteren Kriegsfinanzierung ohne Skrupel auf russisches Geld zugreifen und setzt so international seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel.

Wehrdienst-Lotto
Aktueller Artikel

Wehrdienst-Lotto

Kriegstüchtige Politiker planen, buchstäblich mit dem Leben unserer Kinder zu spielen.