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Freiheit kommt von innen

Freiheit kommt von innen

Wir müssen aus abhängigen Beziehungsformen aussteigen um innere Unabhängigkeit zu erlangen.

Auslöser für meine Gedanken in diesem Text war ein Bestseller, welcher mir vergangenen Herbst an einem Bücherstand ins Auge sprang: Radikale Zärtlichkeit — warum Liebe politisch ist von Şeyda Kurt. Die Autorin „nimmt unsere allzu vertrauten Liebesnormen im Kraftfeld von Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus auseinander“, verspricht der Klappentext zutreffend. Die Liebe ist politisch, da bin ich sicher. Ich nahm das Buch also mit, fuhr aufs Land und las es dort an einem digitalen Timeout-Wochenende durch.

Die Fragen, die Şeyda Kurt und ich uns stellen, sind ähnlich, die Herangehensweise ist unterschiedlich. Würden wir beide zu ähnlichen Schlüssen gelangen?

Ist das, was wir Liebe nennen, wirklich Liebe? Was ist eine romantische Beziehung? Hängen Liebe und Wahrheit zusammen und wie? Leben wir danach? Stärken unsere Beziehungsformen uns oder die Superreichen? Ist die Ehe systemimmanent? Welche Alternativen gibt es, wie wollen wir lieben?

Bücher, Bildung, Hierarchien und Chancenungleichheit: Spuren des Patriarchats

Şeyda Kurt studierte Philosophie, Romanistik und Kulturjournalismus und baut ihre Überlegungen erfrischend kritisch auf den bekannten philosophischen Ansätzen auf. „Die Hierarchisierung von Vernunft und Gefühl ist ein Ordnungsprinzip, das sich seit Jahrhunderten auch in der Konstruktion von Geschlechtern widerspiegelt: Das männliche Prinzip ist das rationale, objektive. Das weibliche Prinzip ist das emotionale, das subjektive. Die Rangfolge ist wohl selbsterklärend“ (1).

So bringt Kurt eine dem Patriarchat zugrunde liegende Fehlannahme auf den Punkt. Unsere Gefühlswelt ist tatsächlich tief mit unserer Körperlichkeit verbunden, wie Kurt auch betont. „Insgesamt wurde die Körperlichkeit — und mit ihr gemeinsam die Emotionalität — in den Philosophien der Aufklärung in der Tradition antiker Philosophen wie Platon und Aristoteles abgewertet“, schreibt sie dazu. „In dieser erdachten Hierarchie wurde die Vernunft, die Ratio, aufgewertet“ (2).

Die Patriarchatskritik am Universitätsbetrieb lese ich zwischen den Zeilen in eher subjektiven Äußerungen Kurts:

„Was kann ich etwa dafür, wenn Philosophieseminare in ihren Lerninhalten in den 1960er-Jahren stecken geblieben sind und Platon-Erben mir mit ihren langweiligen Monologen so viel Lebensenergie rauben, dass ich mich nur erschöpft in die letzte Reihe zurückziehen kann?“ (3).

Im Zusammenhang mit beliebter Literatur unter Philosophiestudenten bemerkt die Autorin zutreffend:

„Sexistische Zuschreibungen über vermeintlich weibliche oder männliche Charaktere, die Passivität und Fürsorglichkeit des Weiblichen und die Kraft und der Veränderungswillen des Männlichen sind auch heute nicht begraben“ (4).

Die Auswirkungen des Patriarchats zeigen sich schon während unserer Schulzeit: „Wer in Deutschland Abitur macht, liest in der Schule vielleicht kein einziges Buch einer Frau“ (5), stellt der Journalist Simon Sales Prado in seiner Reportage Auslese fest. Şeyda Kurt ermutigt dazu, das Patriarchat hinter uns zu lassen: „Beim Status quo zu verharren scheint mir auch keine Option. Denn das ist Teil einer patriarchalen Logik: Sie macht Alternativen unsichtbar“ (6).

Ein weiteres Merkmal unseres noch immer bestehenden Patriarchats offenbaren Studien zum sogenannten Gender Pay Gap. Diese „ergaben, dass Frauen im Jahr 2019 in Deutschland 20 Prozent weniger verdienten als Männer“ (7). Den Autoren der Studie zufolge sind dreiviertel der Gründe für die Ungleichheit strukturbedingt: „Frauen würden häufiger in Branchen und Berufen arbeiten, in denen sie schlechter bezahlt werden. Auch würden sie häufiger als Männer in Teilzeit und in Minijobs arbeiten und deshalb im Durchschnitt pro Stunde weniger verdienen“ (8).

Der Wirtschaftswissenschaftler Jeffrey Sachs sagte 2013 bei einer Tagung der Federal Reserve in Philadelphia in einer Video-Liveschaltung über die ihm bekannten Leute an der Wall Street am Ende der Nahrungskette im Finanzwesen: „Sie glauben ehrlich, sie hätten das von Gott gegebene Recht, sich so viel Geld zu holen, wie es in irgendeiner Weise möglich ist, sei es legal oder auch anders“ (9). Doch wer gibt ihnen dieses Recht? Und macht es sie glücklich?

Der Ex-Milliardär Florian Homm, ehemals einer der erfolgreichsten Hedgefonds-Manager der Welt, berichtet in einem recht persönlichen Interview mit Dominik Kettner über sich selbst, bezogen auf die Zeit vor seinem Ausstieg 2008: „Wenn man das mal so beschreibt: Relativ seelenloses digitales Monster. Alles ist durchgetaktet. Du hast gar kein Gefühl mehr zu dir. Du lebst in so einer Art weit von dir, vom Kern entfernten menschlichen Pseudo-Identität. Du bist auch zurückgezogen. Du fühlst recht wenig. Eigentlich bist du ‘ne Gelddruckmaschine. Und dass das nicht erfüllend ist, ist offensichtlich“ (10).

Partnerschaft im Patriarchat

Şeyda Kurt stellt in Radikale Zärtlichkeit unsere gängigen Beziehungsformen grundlegend infrage beziehungsweise zur Diskussion: „Menschen wie ich merken, wie die monogame Zweierbeziehung — zumal die heteronormative — ein Produkt und gleichzeitig Stabilisator patriarchaler, kolonialistischer sowie kapitalistischer Tradierungen und Ökonomien ist“ (11).

Unsere patriarchalische Gesellschaft bezeichnet Kurt als Dominanzgesellschaft (12). Die Paarbeziehung sei „in der Dominanzgesellschaft immer noch die unangefochtene Norm schlechthin“ (13). Den damit verbundenen Druck und die Unfreiheit innerhalb dieser Norm beschreibt sie wie folgt:

„Viele Menschen denken romantische Beziehungen als Unternehmungen, die scheitern können, die in einem Spektrum von Erwartungen verwertbar sein müssen. Den Kategorien von Erfolg und Scheitern liegt immer ein System von Normen, Erwartungen und Abweichungen zugrunde. Und wenn Menschen an ihnen scheitern, machen sie dafür oftmals ein Ich verantwortlich, das von Platon bis Descartes verstanden wird als rational und autonom von seiner Körperlichkeit, von den Körpern anderer Menschen und den Normen und Regeln, die ihnen Plätze zuweisen wollen“ (14).

Die Monogamie hat Kurt zufolge auch eine koloniale, rassistische Geschichte.

Im Juli 1885 hatte der französische Politiker Jules Ferry vor der Pariser Nationalversammlung die „Pflicht der überlegenen Rassen, die minderwertigen (Rassen) zu zivilisieren“ verkündet. Damit wollte er das Recht Europas auf gewaltsame, koloniale Eroberungen begründen, sowie die Versklavung der Bewohnenden in Afrika, Asien und in Südamerika (15).

„Von den weißen Frauen erhofften sich die Kolonialisierer eine vermeintlich zivilisierende, moralische Wirkung auf die angeblich unzivilisierte schwarze Bevölkerung (und Zivilisiertheit bedeutete in diesem Zusammenhang vor allem, die kolonisierten Menschen und ihre Arbeitskraft zu disziplinieren, sie für die Ausbeutung ihrer selbst und ihrer Länder verwertbar zu machen).“

Weil die weißen Frauen in den Kolonien das „Deutschtum“ verbreiten sollten, schlossen sie sich etwa im Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft zusammen, gegründet 1907. „Das Ideal einer heterosexuellen (…) Zweierbeziehung beziehungsweise einer Familie mit Eltern und Kindern wurde auf diese Weise in die Kolonien transferiert und umgekehrt von dort aus in den westeuropäischen Gesellschaften stabilisiert“, erklärt die Historikerin Gabriele Metzler (16).

Kurt stellt in ihrem Buch verschiedene Alternativen zur Diskussion, etwa offene Beziehungsformen mit mehreren Partnern. Ich möchte in diesem Aufsatz einen anderen Punkt betonen:

In unserer patriarchalischen Gesellschaft gilt die Norm einer lebenslangen Partnerschaft als unangefochtenes Ideal. Das ist im Sinne der Liebe, solange wir eine Partnerschaft mit ganzem Herzen leben, aber nicht mehr, wenn wir uns entfremdet haben und unser Weg eigentlich kein gemeinsamer mehr ist.

Wem also dient dieses Ideal, und warum tun wir uns mit Umbrüchen so schwer?

Die Rolle der Frau

Viele Feministinnen kritisieren Kurt zufolge, dass unsere Paarbeziehungen ungleiche Machtverhältnisse stabilisierten und emotional rechtfertigten. „Die Liebe rechtfertigt alles, denn sie ist heilig. Ich nenne diese Überzeugung toxische Romantik“ (17). Die Künstlerinnen Konstanze Schmitt und Bini Adamczak brachten das in ihrer Performance Everybody Needs Only You. Liebe in Zeiten des Kapitalismus zum Ausdruck: „Wir sollten zugeben, dass der Kapitalismus unsere Arbeit unsichtbar gemacht hat, und das sehr erfolgreich. Er hat uns die Hausarbeit als unsere natürliche Bestimmung angedreht, indem er ihr den Lohn verwehrt und sie verwandelte in einen Liebesbeweis,“ hieß es darin, und weiter: „Du machst dir immer noch vor, aus Liebe zu heiraten. Dabei haben schon viele von uns erkannt, dass wir es für Geld und Sicherheit tun“ (18).

Heiraten wir für Geld? Ich glaube und hoffe, nicht allzu oft. Aber: Bleiben wir für das Geld zusammen? Führen wir Ehen zur Existenzsicherung? Ist das Leben alleine zu teuer? Ist das Leben alleine mit Kindern sogar viel zu teuer? Werden Alleinerziehende und Patchworkfamilien heute noch mit einem moralischen Stempel versehen? Infolgedessen könnte es sein, dass wir um jeden Preis an unseren bestehenden Beziehungen festhalten.

Das „koloniale Ideal einer weißen Traditionsfamilie“ besteht Kurt zufolge immer noch fort. Sie sei für die Politik eine berechenbare und deshalb willkommene Einheit. Die bürgerliche Kernfamilie existiere aus Eltern und Kindern „zum ökonomischen Vorteil aller Beteiligten, zum Vorteil des Staates und der EhepartnerInnen. Doch zu welchem Preis?“ Ein Forschungsteam aus dem italienischen Padua kam 2016 zu dem Ergebnis, dass der Stress und Druck, den Frauen durch die Bindung an ihren Partner empfinden, krank machten, da sie isoliert von ihrem sozialen Umfeld lebten (19).

Fürsorge, also Haushalt und Kindererziehung, ist unbezahlte Arbeit. Diese Aufgaben sind Kurt zufolge in den meisten Heterobeziehungen und -ehen immer noch die Aufgabe der Frauen.

Die Feministin Silvia Federici weist darauf hin, dass das Problem nicht zu lösen sei, indem jene Frauen eine Lohnarbeit als zweite Arbeit aufnähmen.

„Zwei Arbeiten zu erledigen habe Frauen nicht befreit, sondern immer nur bedeutet, über noch weniger Zeit und Energie zu verfügen — für sich selbst und vor allem für den politischen Kampf gegen alle Formen der Ausbeutung“ (20).

Die „vergeschlechtlichte und räumliche Aufgabenteilung“ sei keineswegs ein „Naturgesetz“, bemerkt Kurt treffenderweise. Sie sei tief verankert in westlich-europäischen Philosophien, einer künstlichen Grenzziehung zwischen dem Öffentlichen als vermeintlich männliche und dem Häuslichen als vermeintlich weibliche Sphäre, die auf antike Denker wie Aristoteles zurückgeht. „Damals wie heute sicherte sie das männliche Vorrecht bei politischen Belangen“ (21).

Feministinnen wie Federici haben wertvolle Vorarbeit geleistet. Heute geht es aus meiner Sicht jedoch darum, dass weder Männer noch Frauen sinnvoll in diesen alten Strukturen leben und wirken können. Meiner Ansicht nach ist die Aufgabenverteilung in der heutigen Form nicht sinnvoll, egal ob der Mann oder die Frau Haushalt und Fürsorge übernimmt. Diese Tätigkeit ist zugleich sehr fordernd und sehr einseitig, aufgrund der mangelnden Zeit im eigenen sozialen Umfeld und in der Außenwelt. Abhilfe schafft hier meiner Meinung nach nur ein Neudenken unseres gesellschaftlichen Miteinanders hin zu gemeinschaftlichen Strukturen, in welchen etwa die Küche und die Fürsorge gemeinschaftlich organisiert werden können. Inspiration dazu finden wir unter anderem in alten matrilinearen Kulturen.

„Das Ende der romantischen Liebe, die uns eingebläut wurde, wird nicht das Ende der Liebe sein“, schrieb Silvia Federici 2020 in einem Briefwechsel an Şeyda Kurt, „sondern ihr Anfang“. In Lohn für Hausarbeit! kritisierte Federici, dass die fingierte Liebe, die etwa in Hollywoodfilmen beworben werde, seit jeher dazu diene, eine falsche Annahme zu romantisieren — nämlich, die Liebe bedeute Hausarbeit und Abhängigkeit.

„Die meisten Familien fußen auf diesen ungleichen Machtverhältnissen. (…) Und Liebe ist nicht fix und statisch. (…) Ich glaube daran, dass wir (…) neue Formen der Liebe entdecken werden“ (22).

Die Rolle der Frau in matrilinearen Gesellschaften

Die Khasi sind ein indigenes Volk im Nordosten Indiens, im Bundesstaat Meghalaya, mit mehr als 1,4 Millionen Angehörigen. Sie leben in den Vorläufern des Himalaja-Gebirges. Die Khasi bilden eine matrilineare Gesellschaft in welcher Abstammung, Familienname und Erbfolge nur von der Mutter hergeleitet werden, nicht vom Vater. Diese Verhältnisse sind in der Verfassung von Meghalaya verankert, die indische Verfassung garantiert ihnen besondere Schutz- und Selbstverwaltungsrechte als „registrierte Stammesgemeinschaften“. Eine matrilineare Gesellschaft ist dabei nicht gleichbedeutend mit einem Matriarchat, zumal alle Ethnien gegenwärtig durch den globalen Wandel beeinflusst werden.

„Die Normen der Khasi-Gesellschaft unterstützen eine andere Art von Ehemann“, erklärt Evelyn Blackwood. „Die Bedeutung der matrilinearen Einheit und die Fähigkeit der Frauen, Land und Reichtum zu erben, bedeuten, dass dort, wo solche Ressourcen vorhanden sind, Frauen nicht von ihren Ehemännern abhängig sein müssen oder von ihnen Unterstützung erwarten. Ehemänner sind von Bedeutung, um zusätzliche Ressourcen einzubringen, aber die Stabilität der Ehe und ein Ehemann sind in diesem Fall nicht entscheidend“ (23).

Für ihre Doktorarbeit Die Menschen des Mutterhauses: Soziale Beziehungen, rituelle Prozesse und lokales Christentum von 2013 lebte Berit Fuhrmann insgesamt 18 Monate mit den Karow, einer Gemeinschaft der Khasi, in Meghalaya. Die jüngste Tochter, die das Haus von ihrer Mutter übernimmt, wird Fuhrmanns Forschung zufolge nicht nur als die „Hüterin des Hauses“ (ka nongri jing) bezeichnet, sondern auch als diejenige, die die moralische Ordnung „in ihren Händen hält“ (ka bat ka nem).

„Wer das Haus übernimmt, dessen Zentrum der Herd bildet, bewahrt auch die moralische Ordnung, die aus dem Herd hervorging und für die nachfolgenden Generationen erhalten werden muss“ (24).

Die 3sat-Dokumentation Im Land der Frauen zeigt einen Khasi-Clan beim abendlichen Treffen. Die jüngeren Frauen dieses Clans sind alle berufstätig, und sind sich zugleich ihrer besonderen Gesellschaftsform in Meghalaya bewusst. „Wir sind gleichberechtigt. Mann und Frau“, erzählt eine junge Khasi.

„Wir werden nicht von Männern dominiert oder sonst irgendwie. Wir leben so, wie wir wollen. Wir machen das, was wir wollen. Wir haben ein freies Leben. Wir haben keine Vorschriften, wie wir zu leben haben.“

Ein besonders spannendes Beispiel einer matrilinearen Kultur sind die Mosuo in Südwestchina. Xinling Mechold beschrieb sie 2011 in einer Seminararbeit. Die Mosuo sind eine Minderheit in der Provinz Yunnan in China. Ihre Familie basiert aber nicht auf Ehe und Kleinfamilie. In der Regel heiraten Männer und Frauen nicht.

Die Liebenden praktizieren normalerweise eine nicht-registrierte Besuchsehe, in der ein Mann eine Frau in der Nacht bei ihr zu Hause besucht. Die gemeinsamen Kinder werden dann Familienangehörige der Frauen.

„Trotz dieser Unterschiede wurde die Besuchsehe gemäß den chinesischen Ehegesetzen als eine ‚tatsächliche Ehe (shishi hunyin)‘ von den chinesischen Gerichten und der Regierung anerkannt.“

Die Partner in einer Besuchsehe leben also nicht miteinander, sondern bleiben Mitglieder des Haushalts, in dem sie aufgewachsen sind. Der Mann besucht in der Regel in der Nacht die Frau bei ihrer Familie, am nächsten Morgen kehrt er gewöhnlich wieder zu seiner Familie zurück und arbeitet für die Familie, in der er aufgewachsen ist. Seine Partnerin arbeitet für die Familie, in der sie aufgewachsen ist. Die Kinder, die aus einer Besuchsehe hervorgegangen sind, gehören zur Familie der Frau und werden von dieser auch erzogen und unterhalten. Der Mann hat, von der Liebesbeziehung zu seiner Partnerin abgesehen, keine Verantwortung gegenüber seiner Partnerin und seinen Kindern, und auch keine Unterhaltspflicht. Auch die Frau ist dem Mann gegenüber nicht unterhaltspflichtig.

„Die Beziehung basiert hauptsächlich auf Zuneigung, Einverständnis und dem Willen der beiden Beteiligten und kann auch entsprechend dem Wunsch von ihnen beiden leicht gelöst werden .“

Da die Partner wirtschaftlich nicht voneinander abhängig sind, legt man bei der Auswahl des Partners keinen besonderen Wert auf Wohlstand, Status oder Familienhintergrund. Wichtiger sind Aussehen, Charakter und die Fähigkeiten des Partners oder der Partnerin.

In der GEO-Reportage China, im Reich der Mosuo Frauen erzählt die 29-jährige Mosuo Frau Lamu während sie webt:

„Ich versuche, so viel wie möglich zu weben. Währenddessen kümmert sich mein Bruder Sona um meine beiden Töchter. Bei uns Mosuo ist der Vater nicht für die Kinder zuständig. Er lebt bei seiner eigenen Familie. Die Kinder gehören zur Familie der Mutter. Wenn der Vater die Möglichkeit hat, kann er sie besuchen kommen. Aber das ist freiwillig. Tatsächlich muss er sich nicht um die Kinder kümmern.“

Später erklärt sie:

„Eine Wanderbeziehung zu einem Mann mit gutem Charakter ist besser (als eine Ehe.) Mein jetziger Partner hilft sogar manchmal in meiner Familie mit, und er interessiert sich für meine Kinder (aus der ersten Partnerschaft). Wir können ein ganzes Leben lang so zusammen sein.“

Der entscheidende Punkt ist dieser: Die Mosuo trennen die wirtschaftliche und soziale Grundlage von Liebe und Leidenschaft und den daraus resultierenden Paarbeziehungen. Jeder Partner bleibt im Haushalt seiner Mutter wohnen. Für die Kinder bietet das System daher ein hohes Maß an Stabilität. Die Frauen herrschen nicht, wird in der Reportage zudem erklärt. Alle wichtigen Angelegenheiten werden in einem Familienrat nach dem Konsensprinzip besprochen, bis alle zufrieden sind.

Die Rolle des Mannes

Welche Rolle kommt demjenigen in unseren westlichen Gesellschaften zu, der oder die die Kleinfamilie ernährt? „Der kapitalistische Leistungswahn führt zu mentalen Problemen, Burn-outs und zerstörten Beziehungen“, bemerkt Şeyda Kurt richtig (26).

„Wir leben in einer neoliberalen Gesellschaft, die uns von klein auf verklickert, dass wir als Teil dieser Gesellschaft nur wertvoll sind, wenn wir Leistung erbringen, erfolgreich sind. Demnach werden Menschen nach ihrem Nutzen für die Volkswirtschaft kategorisiert und bewertet“ (27).

Ich würde noch einen Schritt weiter gehen: Im neoliberalen Wirtschaftssystem werden wir nicht nach der Leistung beurteilt, die wir erbringen, was an sich schon menschenunwürdig genug wäre, sondern schlichtweg nach Geld. Wer viel Geld verdient, verdient Anerkennung, wer nichts verdient, eben nicht. Ob die Arbeitsleistung des Einzelnen dem Gemeinwohl dient oder schadet, sei es dem des Landes oder global gesehen, blendet das Wertesystem unserer neoliberalen Wirtschaft aus.

„Viele strukturell benachteiligte Menschen können nicht auf das Geld verzichten, das sie etwa durch das Ehegattensplitting oder die finanzielle Unterstützung ihrer PartnerInnen für ihr Überleben und das ihrer Kinder brauchen,“ beschreibt Şeyda Kurt das Problem in unserem Wirtschaftssystem. Rund ein Drittel der Alleinerziehenden in Deutschland sei armutsgefährdet, die meisten von ihnen seien weiblich (28).

Das ist wahr. Und es macht uns ein schlechtes Gewissen, vor allem der Männerwelt! „Ich arbeite für die Familie“, denkt man vielleicht. Viele berufliche Tätigkeiten ergeben aus der Sicht der Berufstätigen keinen Sinn, zumindest nicht mehr in der Form, in der sie aktuell ausgeführt werden müssen. Manch eine Tätigkeit würde wohl kaum noch jemand für sich alleine machen. Manch einer würde vielleicht sogar lieber minimalistisch leben und mit einem Bus durch die Gegend reisen, als einem offenkundig sinnlosen oder gemeinwohlschädigenden Beruf nachzugehen, oder auch untragbar gewordene Arbeitsbedingungen hinzunehmen. Wir glauben dann vielleicht, es für jemand anderen zu tun, für die Familie, aus Liebe. Nur: Das, was uns da verkauft wird, ist nicht Liebe, sondern moralische Manipulation.

Das seelische Kernproblem dabei beschreibt der Bestsellerautor David Graeber wie folgt in Bullshit Jobs:

„Kann irgendetwas stärker demoralisieren, als während seines ganzen Erwachsenenlebens an fünf von sieben Tagen morgens aufzuwachen und dann eine Arbeit zu verrichten, von der man insgeheim glaubt, dass sie nicht verrichtet werden muss — dass sie einfach nur Zeit- und Geldverschwendung ist oder die Welt sogar schlechter macht? Wäre das nicht eine schreckliche seelische Wunde, die sich quer durch unsere Gesellschaft zieht? Wenn ja, dann war es eine Wunde, über die anscheinend niemand sprach“ (29).

Als endgültige Arbeitsdefinition beschreibt Graeber einen Bullshit Job dann als „eine Form der bezahlten Anstellung, die so vollkommen sinnlos, unnötig oder gefährlich ist, das selbst derjenige, der sie ausführt, ihre Existenz nicht rechtfertigen kann, obwohl er sich im Rahmen der Beschäftigungsbedingungen verpflichtet fühlt, so zu tun, als sei dies nicht der Fall“ (30).

Graebers Hypothese erfuhr in der Öffentlichkeit große Resonanz und wurde durch statistische Erhebungen bestätigt: Nach einer reichweitenstarken Guerilla-Plakate-Kampagne in London 2015 mit Zitaten aus Graebers Aufsatz kam es zu weiteren Diskussionen in den Medien und zu einer Untersuchung durch das Meinungsforschungsinstitut YouGov.

„Eine Frage lautete beispielsweise: ‚Leistet Ihre Arbeit einen sinnvollen Beitrag zur Welt?‘ Erstaunlicherweise antwortete mehr als ein Drittel der Befragten — 37 Prozent —, dies sei nicht der Fall. (50 Prozent hielten ihre Tätigkeit für sinnvoll, und 13 Prozent waren sich nicht sicher).“

Eine spätere Studie gelangte in den Niederlanden beinahe zu dem gleichen Ergebnis, wobei der Anteil hier sogar noch ein wenig höher lag: „40 Prozent der berufstätigen Niederländer gaben an, es gebe eigentlich keinen stichhaltigen Grund dafür, dass ihr Beruf existierte (31)“. Ist denn nicht jeder Job nützlich, welcher unserer Wirtschaft dient? könnte man ihm nun vielleicht noch einmal versuchsweise entgegnen. „Wenn ein Prozent der Bevölkerung den größten Teil des gesamten Reichtums kontrolliert, spiegelt der sogenannte Markt wider, was sie — und nicht alle anderen — für nützlich oder wichtig halten,“ gibt David Graeber hierbei zu bedenken (32).

Wie tief sind unsere Beziehungen von dieser Arbeitswelt betroffen? Können wir sie nicht zumindest dort heraushalten? „Um Beziehungen spannt sich kein Netz, das politische Strukturen auffängt und sie unwirksam macht“, bemerkt Şeyda Kurt. „Solange mir ein Mensch mit einer Geschichte gegenübersteht und ich diese Geschichte teilen will, ist diese Geschichte immer politisch“ (33). Ein Schritt weiter gedacht: Welches Vorbild sind wir für unsere Kinder, wenn wir uns selbst gegenüber nicht aufrichtig sind, unsere Gefühle verdrängen und unsere Werte verraten? Ist es das, was wir ihnen für ihre Zukunft wünschen?

Die Rolle des Mannes in matrilinearen Gesellschaften

„Wir sind so stolz, Khasi zu sein“, berichtet ein junger Khasi in der 3sat-Doku „Im Land der Frauen“. „Das matrilineare System erhält sich von selbst. Wir befolgen es. Wir lieben unsere Traditionen. Das ist in unserem Blut. So bringen wir es den jüngeren Generationen bei. Sie sollen es befolgen und nicht aufgeben.“

Bis zu seiner Heirat gehört ein Mann zu seinem Mutterhaus, in dem er mit seinen Schwestern aufwächst. Nach seiner Heirat gehört ein Khasi dann zum Mutterhaus seiner Frau (34). Der Mutterbruder wird bei den Karow offiziell als Ratgeber bezeichnet. Das bedeutet jedoch nicht, dem Vater kämen keine beratenden Funktionen zu. Neben der Mutter ist der Vater im täglichen Leben mit der Fürsorge und Erziehung der Kinder betraut. Der entfernt lebende Mutterbruder übernimmt die Aufgabe eines Ratgebers, der die Dinge aus einer gewissen Distanz beurteilen kann und nur bei größeren Fragen konsultiert wird (35).

Das ist bei der Besuchsehe der Mosuo anders: Die GEO-Reportage China, im Reich der Musuo-Frauen zeigt, wie am frühen Abend die Dorfstraße zum Leben erwacht. Scharen von Männern machen sich auf ihren Scootern auf den Weg zu ihrer Liebsten. Dort sind sie von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang willkommen. Am nächsten Morgen kehren sie in die Häuser ihrer Herkunftsfamilie zurück. Besuchsehen können ein paar Nächte dauern, oder aber ein Leben lang, heißt es im Film. „Verfliegt die Leidenschaft, ist es das Wichtigste, sich in Harmonie zu trennen“. Früher war die Monogamie bei den Mosuo nicht verlangt. Heute gilt sie als richtig.

Ein junger Mosuo erklärt, was besonders wichtig ist in seiner Kultur: „Man soll ehrlich sein, nicht betrügen. Ein aufrichtiger Mensch, der nur sagt, was richtig ist. Besonders Harmonie ist für eine Mosuo Familie sehr wichtig. Geld interessiert nicht, solange es zum Überleben reicht. Vor allem soll man friedlich mit den Verwandten und Nachbarn leben. Was man besitzt, ist nicht so wichtig.“

Ist die Ehe systemimmanent?

Şeyda Kurt zufolge ist das Monopol der heteronormativen Kernfamilie auf gegenseitige Fürsorge und Zärtlichkeit ein politisches Konstrukt, das nur besteht, weil andere Gemeinschaftsformen benachteiligt werden.

„Wir brauchen stattdessen eine politische Vielfalt von Gemeinschaftsformen, in der die romantische Liebe oder Blutsverwandtschaft nur zwei von vielen Antworten auf die Frage sein können, wie wir unsere Zukunft mit anderen Menschen planen und wie und warum wir für sie Verantwortung übernehmen wollen“ (36).

Kurt zufolge sollte es darum gehen, die Institution Ehe als solche infrage zu stellen, vor allem ihren Sonderstatus. „Warum genießt sie überhaupt Vorrechte? Warum gibt es kein steuerliches Wohngemeinschaftssplitting? Warum kein Gemeinschaftssplitting? Oder FreundInnensplitting?“ (37).

Der aktuell notwendige und überfällige Wandel hin zu einer dezentralen freiheitlichen Gesellschaft mit demokratischem Geldsystem braucht viel Arbeit und viel Kreativität. Diese Arbeit jedoch wird im alten System kaum oder gar nicht entlohnt.

Somit drohen wir unseren eigenen Übergang in ein menschenwürdiges System zu blockieren, wenn wir statt dessen irgendetwas anderes arbeiten für Geld — vielleicht aus scheinbar moralischen Gründen. David Graeber zitiert aus einem Leserbrief, der seinem ursprünglichen, in viele Sprachen übersetzten Aufsatz über Bullshit Jobs folgte:

„Wow! Nagel auf den Kopf! Ich bin Firmenanwalt (Steueranwalt, um genau zu sein). Ich trage nichts zu dieser Welt bei und fühle mich ständig vollkommen elend. (…) So kommt es, dass es für mich nur diesen einen Weg gibt, um zu dem einen Prozent auf so bedeutsame Weise beizutragen, dass ich mit einem Haus in Sydney belohnt werde und meine zukünftigen Kinder großziehen kann (…). Dank der Technik sind wir heute wahrscheinlich in zwei Tagen so produktiv wie früher in fünf. Aber durch Habgier und eine Art Fleißige-Bienen-Produktivitätssyndrom lassen wir uns immer noch bitten, aufgrund unseres eigenen, nicht belohnten Ehrgeizes für den Profit anderer zu schuften. (…) Für mich ist das alles nur Habgier, unterstützt durch aufgeblasene Preise für Notwendiges“ (38).

Cui bono? Wem nützen diese sinnlosen Jobs? Die Antwort ist Graeber zufolge nicht wirtschaftlicher, sondern moralischer und politischer Natur:

„Die herrschende Klasse hat gemerkt, dass eine glückliche, produktive Bevölkerung, der viel Freizeit zur Verfügung steht, eine tödliche Gefahr ist. (Denken wir nur daran, was in den 1960er-Jahren geschah, als man dem nur ein wenig näher kam.) Und andererseits ist es für sie ein außerordentlich bequemes Gefühl, Arbeit als solche sei ein moralischer Wert und jeder, der sich nicht während des größten Teils seiner wachen Stunden einer strengen Arbeitsdisziplin unterwirft, habe nichts verdient“ (39).

Wenn unsere Vorstellung, Liebesbeziehungen dürften nach Möglichkeit nicht beendet und neu begonnen werden, nicht uns selbst, den Kindern und der Liebe dient, sondern nur der Wirtschaft und deren wenigen Profiteuren: Warum legen wir diese Vorstellung dann nicht ab? Wie sehr prägen die Medien unser Liebesleben?

In All about Love reflektiert die kapitalismuskritische Feministin bell hooks: Würde man in unseren Medien mehr Geschichten und Bilder von sich liebenden und gerecht handelnden Menschen sehen, so hätte dies einen positiven Effekt auf unser Leben. „Ich bin mir unsicher, ob wir dann tatsächlich in einer weniger ausbeuterischen, rassistischen oder sexistischen Welt mit anderen Wohn- und Arbeitsverhältnissen leben würden“, bezweifelt Kurt ihre These.

„Doch tatsächlich würden mehr und differenziertere Bilder von Romantik oder FreundInnenschaft mehr Handlungsspielräume eröffnen, uns selbst und andere Menschen anders zu betrachten. Und eine andere Wirklichkeit zu fordern“ (40).

Zudem würden die politischen, historischen oder sozialen Verflechtungen, in denen Menschen eine Beziehung zueinander aufbauen, Kurt zufolge leider nur selten mit abgebildet. „Meistens scheinen sich die Figuren gleichsam in einem luftleeren Raum zu bewegen und anzunähern. Haben sie keine Geldsorgen? Woher nehmen sie sich die Zeit? Machen sie keine Erfahrungen von Diskriminierung?“ (41).

Eine Ethik der radikalen Zärtlichkeit erfordere auch Gerechtigkeit in den ökonomischen Verhältnissen, betont Kurt im Fazit ihres Kapitels Warum wir eine Ethik der Liebe brauchen. Genauso wie es in rassistischen oder sexistischen Gesellschaften keine Gerechtigkeit geben könne, gebe es auch keine Gerechtigkeit im Kapitalismus, „solange Menschen sich als Konkurrierende statt Verbündete begegnen, als Besitz und Besitzende, als herrschende und beherrschte Körper“ (42).

Lösungsansätze

Die Feministin Silvia Federici sieht einen gemeinschaftlichen Ansatz als Lösungsmöglichkeit:

Der „singulären Erzählung im Sinne der Marktlogik“ stellt sie zum Beispiel das vielfältige Wissen und die politische Pluralität der sogenannten Commons entgegen. Federici zufolge gibt es Land-, Wasser- und Luft-Commmons sowie „digitale und Dienstleistungs-Commons“. Zu ihnen zählen auch Sprachen, Wissen, Bibliotheken, Archive, urbane Gärten und das kollektive Erbe vergangener Kulturen.

„Es geht um eine revolutionäre Kollektivierung von Arbeit und ihren Produkten in verschiedenen Bereichen des Lebens — auch der sogenannten reproduktiven Arbeit, also: Hausarbeit, Fürsorgearbeit, die Erziehung von Kindern. Sie soll somit auf ein Kollektiv, auf unterschiedliche, kooperierende Subjekte verteilt werden, anstatt privatisiert zu werden. Communities pflegen gemeinsam ihre alten Mitglieder, anstatt sie in ausländischen Altenheimen abzusetzen“ (43).

Vorbilder für Federicis Idee der Commons seien „etwa die Ollas Comunes, jene Gemeinschaftsküchen, die Frauen in den 1980er-Jahren in Chile und Peru gründeten und somit eine selbstbestimmte Form der Gegenmacht gegen patriarchale und kapitalistische Arbeitsteilungen errichteten“ (44).

Gemeinschaft in matrilinearen Kulturen

Natürlich können die Strukturen traditioneller matrilinearer Kulturen nicht unverändert in unsere moderne Gesellschaft übertragen werden. Wir brauchen neue Wege und Lösungen. Aber wir können uns durch den Blick auf andere Kulturen inspirieren lassen: Auch die Karow, die von Berit Fuhrmann untersuchten Khasi, sehen ihre lokale Gemeinschaft nicht als eine Ansammlung von Individuen, sondern als eine Gemeinschaft von Häusern, in denen sie „zusammenleben und zusammenwohnen“. Diese Idee findet in ihrer Sprache einen unmittelbaren Ausdruck:

„Wenn die Karow über ihre lokale Gemeinschaft sprechen, verwenden sie das Sprachpaar ka imlang sahlang. Das Verb imlang steht für ‚zusammenleben‘ und das Verb sahlang für ‚zusammenwohnen‘. Kombiniert mit dem weiblichen Artikel ka ergeben beide Verben den Begriff für ‚Gemeinschaft‘ oder auch ‚Gesellschaft‘“ (45).

Das matrilineare System hat aber auch für die einflussreichen Frauen dort Vor- und Nachteile. Die Kadu, die jüngste Tochter, welche das Familienoberhaupt werden wird, trägt zugleich sehr viel Verantwortung für die Familie und das Erbe. Nicht jede junge Frau möchte aus der Stadt zurückkehren ins Dorf und sich dieser Aufgabe stellen. Dennoch: „Was wir der ganzen Welt gerne sagen würden, ist, dass hier die Frauen gesellschaftlich und wirtschaftlich unabhängig sind. Wir können den Beruf ergreifen, den wir wollen, und wir haben einen starken Familienzusammenhalt. Wir glauben an das matrilineare System“, berichtet eine Khasi auf 3sat. „Zum Glück gibt es Frauen, die die Fackel weitertragen.“

Auch die Besuchsehe der Mosuo ist natürlich kein erträumtes Paradies. Das Leben ist durch die starke Bindung an die jeweilige Herkunftsfamilie sehr traditionell und kann für eigene Lebensentwürfe einengend sein. Aber die verschiedenen Berichte über die Mosuo zeigen dennoch, dass es lebbare Alternativen gibt, welche den wirtschaftlichen Druck aus den Zweierbeziehungen nehmen. „Nur ihre Art der Liebe kann frei sein, und echt, sagen die Muso“, heißt es in der GEO-Reportage. „Denn sie hängt allein vom Gefühl, und nicht vom Status und Vermögen des Erwählten ab“. Die Frauen erwählen ihre Partner frei von gesellschaftlichen Zwängen.

„Durch den gemeinsamen Besitz des Vermögens, die kollektive Erziehungspflicht gegenüber Kindern und die kollektive Unterhaltspflicht gegenüber Kindern, Älteren und Arbeitsunfähigen wird die Lebensgrundlage jedes einzelnen Familienmitgliedes gesichert“, erklärt Xinling Mechold.

Infolge der gleichberechtigten Geschlechtsrollen und der Freiheit in der Besuchsehebeziehung existiert zwischen Besuchsehepartnern kein großer wirtschaftlicher und emotionaler Druck. „Die Liebesbeziehung ist reiner und gelassener.“ Öffentliche Sicherheitsprobleme und Armut wurden nicht beobachtet. „Es scheint, dass es keine schwachen, behinderten, obdachlosen und alten Menschen, sowie Waisenkinder in der Gesellschaft gibt, die hilflos sind.“ Infolge der offensichtlichen Vorteile sei es auch nicht verwunderlich, dass „die Mosuo-Ehe und -Kultur trotz der Zwangseheschließung in der Kulturrevolution überlebten“.

Gemeinschaftliche Strukturen stellen einen Lösungsweg dar. Gemeinschaft wird hier im Westen seit Jahrzehnten an verschiedenen Orten erforscht und erprobt, sei es in der Gemeinschaft Tamera in Portugal oder anderswo. Es gibt natürlicherweise in vielen Gemeinschaften eine Gemeinschaftsküche und je nach Selbstorganisation verschiedene Arten von gemeinschaftlicher Fürsorgearbeit.

Unsere Verantwortung besteht aus meiner Sicht aktuell auch darin, unser Bargeld zu behalten und unser Geldsystem zu reformieren, um wieder in einer gesunden Realwirtschaft anzukommen und unabhängig von einer möglichen zentralen Digitalwährung zu bleiben.

Ein Grundeinkommen erscheint mir sinnvoll und notwendig für einen konstruktiven und effektiven Wandel aller Lebensbereiche. Die Funktionsweise eines Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) wurde bereits vielfach erforscht und erklärt, unter anderem von Enno Schmidt.

Was bedeutet Unabhängigkeit?

Ich möchte an dieser Stelle einen Moment lang das Thema wirtschaftliche Unabhängigkeit reflektieren. Vielen von uns wird der Abschied von sinnlosen oder sogar schädlichen Tätigkeiten durch die Vorstellung erschwert, wir seien durch diese Tätigkeit wirtschaftlich von niemandem abhängig, also unabhängig oder eigenständig. Aber ist das wahr?

Wir Menschen sind soziale Wesen und von Grund auf darauf angelegt, zusammenzuarbeiten und zusammenzuwirken. Was genau bedeutet also wirtschaftliche Unabhängigkeit?

Wenn wir in einem Angestelltenverhältnis tätig sind, sind wir währenddessen von der jeweiligen Firma abhängig. Sind wir selbstständig tätig, so sind wir wirtschaftlich von unseren Kunden oder Klienten abhängig. Erhalten wir Fördergelder aus staatlichen oder supranationalen Fördertöpfen oder auch staatliche Sozialleistungen, so sind wir währenddessen von diesen Fördergeldern, der staatlichen Unterstützung beziehungsweise den jeweiligen Steuergeldern wirtschaftlich abhängig. Arbeiten wir crowdfinanziert oder erhalten Spenden, so sind wir wirtschaftlich von diesen abhängig. Führen wir eine Partnerschaft aus finanziellen und nicht aus Herzensgründen fort, so sind wir vom Partner oder der Partnerin wirtschaftlich abhängig.

Was machen die jeweiligen Abhängigkeiten mit uns und unserem Gewissen? Wem gegenüber fühlen wir uns verpflichtet? Wie bewerten wir, gesellschaftlich gesehen, die verschiedenen Formen von wirtschaftlicher Abhängigkeit? Warum bewerten wir nicht, wenn überhaupt, die Tätigkeiten und deren Sinn an sich?

Wirtschaftliche Unabhängigkeit wäre also nur zu erreichen, wenn wir, etwa durch eine Erbschaft, Land und Wohnmöglichkeit zur Verfügung hätten, und alle anfallenden Notwendigkeiten wie Strom, Heizung und Nahrung autark, streng genommen ganz alleine, herstellen könnten. Eine im strengen Sinne vollkommen autarke Lebensform wäre also eine wirtschaftlich unabhängige Lebensform.

Das mag ein erstrebenswertes Ziel für manch einen oder für eine gewisse Zeit lang sein. Aber ist es das, was uns Menschen ausmacht? Zeugt es nicht vielmehr von unserer Unabhängigkeit, wenn wir alle unsere Tätigkeiten einer Form des globalen Dienens, also dem Frieden, der Nachhaltigkeit und dem gemeinsamen Glück im Einklang mit unserem Gewissen widmen? Welchen anderen Sinn als diesen könnte menschliches Arbeiten überhaupt haben?

Und die Liebe?

Was uns Menschen aus einem schicksalhaften Leben und der Stabilität unserer Gewohnheiten retten kann, ist Solidarität, so das Resümee von Şeyda Kurt. Eine Gemeinschaft also „aus Überzeugung zur gegenseitigen Fürsorge, eine Verbindung, die Menschen eingehen, die Erfahrungen teilen, biografische Brüche und Rückschläge – und die um eine politische und radikale Zärtlichkeit ringen“ (46). Und was wird dann aus der romantischen Liebe? Die Frage lässt sie nicht unbeantwortet.

Im Kapitel Das alternative Alphabet der Zärtlichkeit – Für Wort und Tat macht Kurt mit einem Augenzwinkern Vorschläge. Unter anderem diese drei:

„C wie Chronik. Ich will mit dir eine gemeinsame Geschichte schreiben, die frei von Kategorien und dem Zwang der Linearität ist. Ich bin offen für deine Perspektive auf unsere Geschichte. (…) F wie Faulheit. Dein Wert misst sich nicht anhand deines beruflichen Erfolgs. Wir schaffen gemeinsam Räume, in denen wir uns dem Leistungsdruck in dieser Gesellschaft verweigern. Wir schaffen Räume des Verweilens. (…) M wie Möglichkeiten. Ich verschließe mich nicht vor den Möglichkeiten, wer du werden kannst, wer ich werden kann, was wir werden können — und werden“ (47).

Aus Liebe möchte man den individuellen Lebensweg des anderen fördern und unterstützen, meine ich. Liebe und Freiheit gehören zusammen. Die Liebe kann uns inspirieren, diese schöne Welt zu bewahren. Die Liebe macht uns kreativ und zeigt uns neue Lösungen auf. Die Liebe hilft uns, Herausforderungen konstruktiv und gelassen anzugehen. Sich einlassen bedeutet, sich den eigenen Ängsten zu stellen. Es bedeutet nicht, gemeinsam zu leiden, egal was geschieht, sondern, wahrhaftig zu sein.

Wir können niemanden vor den Problemen und dem Unrecht in dieser Welt abschotten, um eine heile Welt zu fingieren, uns selbst nicht, unsere Partner und unsere Kinder auch nicht. Wir können aber Vorbild sein und diese Welt gemeinsam verändern. Wenn wir aus Liebe handeln, dann können wir die bestehenden Systeme nur noch verändern! Kurzum: Die Lösung ist, überhaupt an die Liebe zu glauben!

Wer seine Freiheit für seine Sicherheit aufgibt, wird am Ende beides verlieren. Diese Wahrheit gilt auch für die Liebe. Freiheit bedeutet nicht, frei zu sein, alles zu tun. Freiheit kann auch bedeuten, frei genug zu sein, um etwas sein zu lassen, was andere zwanghaft tun. Freiheit bedeutet, seinem Herzen und dem Ruf seiner Seele zu folgen, ohne sich von irgendjemandem davon abhalten zu lassen. Es bedeutet, die Wahrheit hinter jeder Situation zu suchen. Diese tatsächliche Freiheit bedeutet zugleich auch Liebe.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Kurt, Şeyda: Radikale Zärtlichkeit: Warum Liebe politisch ist, HarperCollins Verlag, 2021, Seite 61.
(2) Ebenda, Seite 60.
(3) Ebenda, Seite 105.
(4) Ebenda, Seite 54 folgende.
(5) Ebenda, Seite 141.
(6) Ebenda, Seite 161.
(7) Nicht binäre Menschen sind in der Statistik nicht als solche mitgedacht. Der vom Weltwirtschaftsforum in Auftrag gegebene Global Gender Gap Report ist ein jährlich erscheinender wissenschaftlicher Bericht zur Gleichstellung der Geschlechter. Siehe Kurt: Radikale Zärtlichkeit, Seite 153.
(8) Kurt, Şeyda: Radikale Zärtlichkeit: Warum Liebe politisch ist, HarperCollins Verlag, 2021, Seite 153.
(9) Jeffrey Sachs, zitiert nach: Graeber, David: Bullshit Jobs: Vom wahren Sinn der Arbeit, Klett-Cotta Verlag, 2020, Seite 45.
(10) Aus: „Great Reset kommt: Ex-Milliardär packt aus (Florian Homm)“, derzeit auf YouTube, 4:48.
(11) Kurt, Şeyda: Radikale Zärtlichkeit: Warum Liebe politisch ist, HarperCollins Verlag, 2021, Seite 78.
(12) Es geht Kurt darum, „welche kulturellen Kategorien und Zuschreibungen dominieren. Daher spreche ich von Dominanzgesellschaft oder Dominanzkultur.“ Vergleiche Seite 26.
(13) Kurt, Şeyda: Radikale Zärtlichkeit: Warum Liebe politisch ist, HarperCollins Verlag, 2021, Seite 63.
(14) Ebenda, Seite 62.
(15) Ebenda, Seite 67.
(16) Ebenda, Seite 68 folgende.
(17) Ebenda, Seite 84.
(18) Ebenda, Seite 150.
(19) Ebenda, Seite 156 folgende.
(20) Ebenda, Seite 158.
(21) Ebenda, Seite 157.
(22) Ebenda, Seite 170.
(23) Blackwood, Evelyn in ihrem Kommentar zu: „Schwiegerelternkonflikt“, Department of Sociology and Anthropology, Purdue University, 700 W. State St., West Lafayette, IN 47907,
USA.
(24) Fuhrmann, Berit: Die Menschen des Mutterhauses: Soziale Beziehungen, rituelle Prozesse und lokales Christentum bei den Karow in Meghalaya, Indien, Seite 124.
(25) Upload des Trailers von Medienkontor: 2012.
(26) Aziz, Amina zitiert nach: Kurt, Şeyda: Radikale Zärtlichkeit: Warum Liebe politisch ist, HarperCollins Verlag, 2021, Seite 187.
(27) Ebenda, Seite 104.
(28) Ebenda, Seite 152.
(29) Graeber, David: Bullshit Jobs: Vom wahren Sinn der Arbeit, Klett-Cotta Verlag, 2020, Seite 11.
(30) Ebenda, Seite 40.
(31) Ebenda, Seite 22 folgende.
(32) Ebenda, Seite 18.
(33) Kurt, Şeyda: Radikale Zärtlichkeit: Warum Liebe politisch ist, HarperCollins Verlag, 2021, Seite 107.
(34) Fuhrmann, Berit: Die Menschen des Mutterhauses: Soziale Beziehungen, rituelle Prozesse und lokales Christentum bei den Karow in Meghalaya, Indien, Seite 198.
(35) Ebenda, Seite 197.
(36) Kurt, Şeyda: Radikale Zärtlichkeit: Warum Liebe politisch ist, HarperCollins Verlag, 2021, Seite 165.
(37) Ebenda, Seite 163 folgende.
(38) Ebenda, Seite 21.
(39) Graeber, David: Bullshit Jobs: Vom wahren Sinn der Arbeit, Klett-Cotta Verlag, 2020, Seite 16 folgende.
(40) Kurt, Şeyda: Radikale Zärtlichkeit: Warum Liebe politisch ist, HarperCollins Verlag, 2021, Seite 134.
(41) Ebenda, Seite 139.
(42) Ebenda, Seite 198.
(43) Ebenda, Seite 161 folgende.
(44) Ebenda, Seite 162.
(45) Fuhrmann, Berit: Die Menschen des Mutterhauses: Soziale Beziehungen, rituelle Prozesse und lokales Christentum bei den Karow in Meghalaya, Indien, Seite 123.
(46) Kurt, Şeyda: Radikale Zärtlichkeit: Warum Liebe politisch ist, HarperCollins Verlag, 2021, Seite 167.
(47) Ebenda, Seite 128 und folgende.


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