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Gekränkte Güte

Gekränkte Güte

Querdenker gibt es schon lange. Sie hießen früher nur anders: Ketzer. Anerkennung erhalten sie meist nur im historischen Rückblick.

Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen — so lautet ein bekanntes Sprichwort. Aktuell könnte man dieses getrost umformulieren: Wer den Schaden hat, sorgt für den Spott der anderen. Beides stimmt. Die einen fühlen sich geschädigt und werden verspottet, die anderen sind teilweise geschädigt und verspotten diejenigen, die (noch) keinen Schaden davongetragen haben. Hass, Häme, Hetze, Diskreditierung werden fortgesetzt. Interessant dabei ist, dass dies häufig von der Seite derer ausgeht, die sich als „gut“ empfinden.

Semmelweis

Ignaz Semmelweis (1818 bis 1865) war ein ungarisch-österreichischer Chirurg und Geburtshelfer. Semmelweis erkannte, dass das Kindbettfieber häufiger bei Müttern — ich bleibe bei dieser Formulierung — auftrat, die in öffentlichen Kliniken entbunden hatten, als bei Müttern, die zu Hause ihr Kind geboren hatten. Er erkannte, dass dies mit mangelnder Hygiene in den Krankenhäusern zusammenhing und erdreistete sich, dies auch noch zu benennen. Er bemühte sich, aufzuklären, zu erklären und neue Vorschriften einzuführen. Er schaffte 1847/1848 etwas, wovon wir heute nur träumen können: Er wies mittels einer Studie nach, dass seine Annahmen richtig waren und schaffte so den ersten praktischen Fall evidenzbasierter Medizin.

Sicherlich haben ihm die Kollegen — Kolleginnen gab es wohl zu dieser Zeit noch nicht, weshalb ich nicht einsehe, hier zu gendern —, dafür Respekt gezollt und wollten von ihm lernen, damit auch sie sich mehr um das Wohl ihrer Patientinnen kümmern konnten.

Leider nein!

Semmelweis‘ Erkenntnisse wurden nicht anerkannt, die Kollegen taten seine Theorien als „spekulativen Unfug“ ab. Hygiene wäre Zeitverschwendung und mit den damals als wahr angesehenen Theorien über Krankheitsursachen unvereinbar.
Semmelweis war also ein Theorienleugner? Vielleicht sogar ein Querdenker?

Querdenker beseitigen

Semmelweis verstarb im Alter von 47 Jahren unter ungeklärten Umständen. Plötzlich und unerwartet? Immerhin verstarb er in einer psychiatrischen Klinik, der Landesirrenanstalt Döbling bei Wien. Heute weisen zahlreiche Indizien darauf hin, dass Semmelweis willkürlich in die Psychiatrie verfrachtet worden war und er dort vorsätzlich beseitigt wurde.

Sauber! Klare Sache. Wer gegen das Narrativ ist, wird beseitigt. Und wenn die Mehrheit für das Narrativ ist, dann sind solche Quacksalber und Querdenker einfach nur lästig wie Fliegen.

Halt‘ du sie dumm, ich halt‘ sie arm

Diese Textzeile findet sich in dem wunderschönen Chanson von Reinhard Mey „Sei wachsam“: „Der Minister nimmt flüsternd den Bischof beim Arm: Halt‘ du sie dumm, ich halt‘ sie arm!"

Kennt man ja. Da wurden Personen als Ketzer bezeichnet, weil sie behaupteten, die Erde wäre eine Kugel. Auch hier hat sich in der Allgemeinerinnerung nur ein Teil der Geschichte gehalten.

Viele haben die Vorstellung im Kopf, im Mittelalter wäre man davon ausgegangen, dass die Erde eine Scheibe wäre. Vor allem die Kirche wäre hart gegen die Andersgläubigen vorgegangen.

Stimmt nicht. Dieses Narrativ wurde in der Renaissance, im Humanismus und durch die Aufklärung geprägt, um das überwundene Mittelalter nachträglich als möglichst finster darzustellen. Nur wenn man das Mittelalter im Nachgang als noch schrecklicher darstellen konnte als es sowieso schon war, hatte man Chancen, die neue Zeit und die damit verbundenen Veränderungen als glanzvoll und hell erstrahlen zu lassen.

Und so kann man es heute noch lesen. Und so dachte auch ich, bis ich für diesen Beitrag zu recherchieren anfing. Tatsächlich gingen bereits im Mittelalter angesehene Gelehrte, aber auch Dichter, Kaufleute, Mönche und Priester davon aus, dass die Erde eine Kugel wäre.

Auch Kirchenvertreter waren unter den Anhängern der Kugeltheorie: Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Hildegard von Bingen und andere. Sie alle landeten nicht auf dem Scheiterhaufen und galten nicht als Ketzer. Bereits im 5. Jahrhundert sprach der Kirchenvater Augustinus von der Erde als Kugel.

Doch irgendwann fing man an, die Kirche als eine Institution zu sehen, die bewusst in ein schlechtes Licht gerückt werden musste, damit man sich von ihr abkehren würde und von nun an ausschließlich „der Wissenschaft“ Glauben schenken sollte.

Aber da gab es doch noch Galileo Galilei! Er wurde doch von der Kirche verurteilt, weil er von der Erde als Kugel sprach. Nein. Er wurde von der Kirche verurteilt, weil er die Erde nicht als Mittelpunkt des Universums ansah. Und selbst hier waren drei der zehn richtenden Kardinäle gegen seine Verurteilung und weigerten sich, das Urteil zu unterschreiben.

Galileo Galilei knickte ein und gab sich reuevoll. Dieses Ziel hatte man erreicht, obwohl er mit seiner Behauptung richtig lag.

Alle braun

Am 15. April 2023 trat ich gegen Abend bei Twitter als Zuhörerin einem Space bei. Das Thema lautete „Merkt ihr nicht, dass ihr alle braun werdet?“ Und wie man ahnen kann, ging es nicht um die Veränderung der Hautfarbe durch Sonneneinstrahlung.

Ich war nicht von Beginn an dabei, stieg in den Space ein, als eine Dame möglichst ruhig und diplomatisch versuchte, ihre Sichtweise und ihre Gedanken gegenüber den anderen „Sprechern“ (m, w, d) und Hosts zu vertreten.

Sie versuchte zu erklären, dass sie in der Lage wäre, selbständig zu denken und dass ihr Denken nicht grundsätzlich politisch motiviert sei. Das wurde ihr abgesprochen. Man war sich seitens der „Gastgeber“ einig, dass jegliches Denken immer politisch motiviert wäre, das müsse sie einsehen.

Es wurde sogar die Aussage Paul Watzlawicks pervertiert, der gesagt hatte, man könne nicht nicht kommunizieren.

Ein Redner stellte der Dame im Kreuzverhör der Inquisitoren in schulmeisterlichem Ton die Frage, ob ihr das Zitat, man könne nicht nicht politisch sein, bekannt wäre.

Ich kenne diesen Ausspruch nicht, nur den Ausspruch Watzlawicks. Auch bin ich der Meinung, dass man durchaus ohne direkten politischen Bezug in Abgleich mit dem eigenen Charakter und den darin verwurzelten Werten denken kann. Brauner Unfug! — Aha, wieder etwas gelernt.

Konsens der Inquisitoren war: Wer gegen die Narrative der Regierung in Bezug auf Covid und alle damit verbundenen Maßnahmen Kritik äußert, verhält sich unsolidarisch und ist ein brauner Fascho.

Tatsachen wurden geleugnet. Besonders gefiel mir folgende Habecksche Argumentation: Die Dame wollte über die Impfpflicht in Österreich diskutieren. Einer der Inquisitoren behauptete daraufhin, es hätte in Österreich nie eine Impfpflicht gegeben.

Nachdem dies (leider) schnell zu widerlegen war, wurden etwas armselige Versuche gestartet, die Sachlage zu beschönigen. Es hätte kein Gesetz gegeben, nur einen Gesetzesvorschlag, der nie verabschiedet worden sei.

Konnte widerlegt werden.

Gut. Das Gesetz wäre verabschiedet worden, aber nie in Kraft getreten.

Konnte widerlegt werden.

Das Gesetz wäre nur kurz in Kraft gewesen, dann wäre die Durchsetzung fallengelassen worden. Für einen Moment schien es, als ob man hier ansetzen könnte.

Dem Inquisitor schien aufzufallen, dass die Argumentation — gelinde gesagt — wenig durchdacht war, aber er hielt an seinem Glauben fest. Er müsse einräumen, dass es eine Impfpflicht gegeben habe, aber die Strafen bei Verstoß gegen dieses Gesetz (ich dachte, es hätte keines gegeben) wären nicht durchgesetzt worden. Insofern sei doch alles gut.

Double-Bind

Obwohl der Inquisitor sich selbst durch die ad absurdum geführte Argumentation das Wasser abgegraben hatte, wurde das soeben widerlegte Argument vom Tribunal dennoch gegen die angeklagte Dame verwendet.

Wenn sie sich gegen das Gesetz verhalten würde und sich trotz Impflicht — von der vor ein paar Sekunden noch behauptet worden war, es hätte sie nicht gegeben — nicht hätte impfen lassen, wäre das der Beweis dafür, dass sie ein unsolidarisches Subjekt wäre, welches seinen Platz in der Gesellschaft verspielt hätte.

Wie im Mittelalter: Werft die Hexe ins Wasser. Schwimmt sie, ist das der Beweis, dass sie eine Hexe ist. Dann muss sie getötet werden. Geht sie unter und ertrinkt, war sie keine Hexe, ist aber trotzdem tot.

Jeder Versuch, zu erklären, darzulegen, argumentativ vorzugehen, wurde geblockt. Es wurde unterbrochen, bewusst missverstanden. Am Ende wurde es persönlich. Die Dame verließ den Space. Ich hörte weiter zu.

Was dann passierte, als die Dame nicht mehr im Rederaum war, ließ mir die Haare zu Berge stehen: Man wäre sich einig: Alles Nazis, alles Faschos, alle braun. Man dürfe derartige Subjekte nicht mehr in einer solidarischen und guten Gesellschaft (der Geimpften) dulden und würde das Ziel weiterverfolgen, diese Subjekte zu „entfernen“.

Wohlgemerkt: Das Thema, um das es gehen sollte, war, den anderen klarzumachen, dass diese durch ihr Verhalten unsolidarische „PPPPPIIIIIEEEP“ wären, und diese das nun endlich einzusehen hätten.

Ich war fassungslos. Merkten die Redner und Rednerinnen denn gar nicht, dass allein durch die gewählten Worte eine Täter-Opfer-Umkehr stattfand?
Nein!

Die Corona-Gekränkten

Immerhin haben die modernen Braunen nach ihrer Bezeichnung als Corona-Leugner oder Maßnahmen-Kritiker im Netz nun eine neue Bezeichnung erhalten. Die Corona-Gekränkten.

Nachdem mehr und mehr Personen klar wird, dass nicht alles Gold war, was als glänzende Maßnahme dargestellt worden war, hatten viele — auch ich — gehofft, dass nun der Dialog auf Augenhöhe wie durch einen Restart neu beginnen könne.

Nein. Es ist kein Dialog gewünscht, nur die Bezeichnung wird geändert. Das Verhalten bleibt vollkommen identisch: Diffamieren, diskreditieren, beleidigen, mit Häme überziehen, unterbrechen.

Es wird nicht mehr in Frage gestellt, dass man andere Personen durch das eigene Verhalten gekränkt hat. Es wird nicht mehr in Frage gestellt, dass einiges falsch gelaufen ist. Doch wer darüber reden will, ist im mildesten Falle lästig. Im zweifelhaften Idealfall bleibt die Person, die nicht Bosetti heißt und dennoch reden will, das, was sie auch schon die letzten Jahre war: Ein Teil der Gesellschaft, auf den verzichtet werden kann.

Auffällig ist bei derartigen Diskussionen: Es sind selten die Kritiker, die ausfällig werden, es sind meist diejenigen, die meinen, alles wäre immer richtig gelaufen und man dürfe einfach nichts in Frage stellen.

Ich habe Angst!

Auch Justitia ist blind

Neben der hämischen Bezeichnung der kritischen Menschen als braune Faschos und Corona-Gekränkte kann man feststellen, dass die Diskussionsteilnehmer nicht selten wie Kleinkinder agieren, die sich die Augen zuhalten, sich die Finger in die Ohren stecken und, während der andere reden möchte, laut „La-La-La“ singen.

Dieses kindische Verhalten wird als vollkommen richtig erachtet, schließlich wäre ja selbst Justitia blind.

Welche Grundrechte denn

Und in dieser Blindheit wird man als derjenige, der es „einfach nicht gut sein lassen kann“, weiter belächelt. Welche Grundrechte denn überhaupt eingeschränkt worden wären. Man hätte sich doch jederzeit frei entfalten und entscheiden können. Diese Diskussion habe ich selbst vor ein paar Tagen erlebt. Als ich die Person darauf hinwies, dass auch die Berufsfreiheit ein Grundrecht sei, wiegelte er ab.

Wo ich denn in meinem Beruf eingeschränkt worden wäre? Ich erinnerte die Person an die Lockdowns und die damit verbundene Unmöglichkeit, meinen Beruf auszuüben und die Gewerbeimmobilie so zu nutzen, wie es vorgesehen war.

Das hätte ich falsch verstanden, erklärte mir die Person. Die Regierung hätte mir keinen Arbeitsplatz zugewiesen, ich hätte nur nicht mehr in meine Räumlichkeiten gedurft. Da war sie wieder, die neuerdings modern gewordene Art der Argumentation.

Als ich nicht klein beigeben wollte, war ich schließlich in den Augen meines Diskussionspartners einfach nur dumm, mein Intelligenzquotient würde nicht ausreichen, dass ich es kapieren könne, und überhaupt solle ich mich nicht so haben und so jammern, in der DDR wäre alles viel schlimmer gewesen.

Vor Wochen war ich also noch ein Nazi, heute bin ich eine Corona-Gekränkte. Kann man die neuen Bezeichnungen auch jährlich beim Einwohnermeldeamt als Attribute eintragen lassen? Ist da etwas in Planung?

Mitläufer werden zu Selbstläufern

Die Regierung muss uns nunmehr weder dumm noch arm halten, und die Kirchen können sich auch entspannt zurücklehnen. Das, was sie durch teilweise unsägliches Verhalten, angestoßen haben — 2G in der Kirche, Grundrechtseinschränkungen —, läuft ganz allein weiter.

Ich weiß nur nicht, ob sich die Verantwortlichen ihrer Rolle als Zauberlehrling bewusst und sich im Klaren darüber sind, dass sie die Geister, die sie auf den Plan gerufen haben, nun nicht mehr loswerden, oder ob das gewollt war und ist.

Zuhören, ausreden lassen, tief durchatmen

Ich wünsche mir moderierte Dialoge, in welchen die Moderatoren (m, w, d) ihre Rolle ausfüllen können. Sie moderieren, sie mäßigen, sie maßregeln, sie geben allen Beteiligten Raum, sie wiederholen, sie erkennen sich anbahnende Missverständnisse und tragen zu deren Klärung bei.

Das wäre ein erster Schritt.

Doch auch hier sehe ich vielerorts nur Personen, die die Moderatorenrolle mit der Puppenspielerrolle verwechseln. Sie ziehen die Fäden und geben den Puppen mehr Raum, die sie selbst für gut erachten.

Bitte hören wir einander wieder zu. Nicht jeder hat immer recht, nicht jeder immer unrecht. Und wenn jemand gekränkt wurde, dann sollte man zumindest die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass man dafür zum Teil mitverantwortlich sein könnte.


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