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Gewalt, Lust und Sündenbock

Gewalt, Lust und Sündenbock

Menschen, die ständig unter Schuldgefühlen leiden, brauchen früher oder später jemanden, auf den sie diese Schuld projizieren können.

Im Jahre 1486 veröffentlichte der Dominikaner Heinrich Kramer in Speyer den „Hexenhammer“, ein Buch, das der Legitimation der Hexenverfolgung diente. Er schildert darin — unter vielen anderen Beispielen — eine „gewisse Jungfrau“ die ihre Träume, unter denen sie sehr litt, gebeichtet hat. Es sind erotische Träume.

„Weder das Zeichen des Kreuzes noch durch Weihwasser, noch durch das Sakrament des Leibes Christi“ konnten diese Träume ausgelöscht werden, bis dass sie „nach mehreren Jahren durch fromme Vornahme von Gebeten und Fasten verscheucht wurden“. Und weiter schreibt er: „Und es ist glaubhaft (…), dass, nachdem sie im Schmerz über ihre Sünde gebeichtet hatte, der Beischlaf mit dem Dämon für sie vielmehr die Strafe für die Schuld als Schuld war.“

Mit anderen Worten ist die „gewisse Jungfrau“, gerade weil ihr das Begehren nicht ausgetrieben werden konnte, gerade durch dessen erbarmungslose Unerbittlichkeit, reichlich bestraft.

Das ist ein höchst einfallsreicher Schachzug, um die Triebhaftigkeit, die sich nicht zerstören lässt, mit Schuld zu kontaminieren und die Strafe gleich mit einzurichten. Dies ist die Geburtsstunde der sadomasochistischen Perversion: Begehren wird zu Schuld, und der Schuld folgt die Strafe, die wiederum das Begehren selber ist. Mit anderen Worten: Die Lust ist fortan an Strafe, an Qual und Gewalt gekoppelt.

Internalisierte Herrschaftsstrukturen

Diese Perversion zeigt sich auch in unseren alltäglichen Handlungen: Ich verabredete mich mit einer Bekannten zum Mittagessen. Sie wollte jedoch nichts essen, weil sie Magenschmerzen, gestern Abend zu viel getrunken und das Falsche gegessen hätte. Ich bot ihr Tropfen an, die mir in solchen Situationen jeweils helfen. Sie meinte jedoch: „Ich bin ja selber schuld.“ Sie wehrte eine mögliche Besserung ihres Zustandes ab, weil ihr die Bestrafung für den Alkohol und das „falsche“ Essen notwendiger erschien. Ein sadomasochistischer Akt gegen sich selbst: Sie ist Opfer und Täterin, sie ist Richterin und Henkerin, alles zugleich.

Das sind internalisierte Herrschaftsstrukturen. Wir haben sie verinnerlicht und wenden sie gegen uns selbst an: Unentwegt fühlen wir uns für etwas schuldig; unentwegt bestrafen wir uns für irgendetwas; unentwegt schulden wir jemandem oder uns selber etwas: Unserem Körper schulden wir Bewegung — die App zeigt es uns an —, wir schulden ihm dieses oder jenes Nahrungs- oder Nahrungsergänzungsmittel — die Werbung macht uns darauf aufmerksam —, wir schulden dem Klima Schonung — die Wissenschaft rät uns —, und vieles mehr. Dies bedeutet, dass die Schuld für unsere Beziehung zu uns selbst und zu unserer Umwelt bestimmend ist und nicht unsere eigenen Bedürfnisse und Wünsche maßgebend sind.

Unsere Bedürfnisse sind Indikator genug, um unsere Psyche und unseren Körper zu regulieren und Wohlbefinden zu erhalten oder einzurichten.

Es ist paradox, dass uns diese immer mehr abhandenkommen und ersetzt werden durch äußere, an uns herangetragene Ratschläge, Expertisen und Empfehlungen, die zu befolgen uns von uns selbst entfernt, so dass der Bezug zu uns immer mehr aus den Händen gerät, obwohl eigentlich gerade dafür geworben wird. So wird der Ratgeber zum Enteigner unserer eigenen Regulation.

Die Projektion

Diese sadomasochistische Bindungsdynamik, dieses Gemisch aus Opfer, Täter, Richter und Henker, ist an sich unaushaltbar.

Wir sind dauernd verstrickt in einen Krieg gegen uns selbst, einen Krieg zwischen den eigenen Bedürfnissen und einem herangetragenen Soll, dem wir das Tun schulden.

Um all dies für uns aushaltbarer zu machen, stellt uns die Psyche ein vortreffliches Instrument zur Verfügung: die Projektion. Die Projektion hat keine andere Funktion als die Auslagerung von Unerträglichem, sie macht Unerträgliches erträglich. Die Definition ist laut „Vokabular der Psychoanalyse“:

“Im eigentlichen psychoanalytischen Sinne ist die Projektion eine Operation, durch die das Subjekt Qualitäten, Gefühle, Wünsche, sogar ‚Objekte‘, die es verkennt oder in sich ablehnt, aus sich ausschliesst und in dem Anderen, Person oder Sache, lokalisiert“ (1).

Die Schuld ist sehr geeignet für eine Projektion. Die „gewisse Jungfrau“ im Hexenhammer könnte die Schuld an ihren erotischen Träumen zum Beispiel auf den Mann projizieren, der ihr als begehrtes Subjekt in ebendiesem Traum erscheint und sie erotisiert und erregt. Dann könnte sie diesen Mann dafür verantwortlich machen, ihn bestrafen, beziehungsweise dafür sorgen, dass er bestraft wird. Damit würde die Schuld und die Strafe von ihr wegfallen, sie wäre das Opfer des „bösen“ Mannes, und der Mann wäre der Täter. Sie hätte die Legitimation, ihn zu verurteilen und zu bestrafen. Damit hätte sie sich selbst befreit von Schuld und von Strafe. Vom Begehren jedoch bliebe sie nicht verschont. Dieses bleibt, ja kommt immer wieder, ist unverwüstlich und kann nur mithilfe der Kontamination mit Schuld zumindest entschärft werden. Unsere Begehren und unsere Wünsche sind nicht schuldresistent. Wenn sie sich schon nicht eliminieren lassen, dann zumindest mit Schuld domestizieren. So chronifiziert sich das sadomasochistische Bindungsmuster, wir internalisieren es und wenden es bei uns selber an.

Die pervertierte Lust

Die Lust — nicht nur die sexuelle —, welche normalerweise mit Wünschen und Begehren einhergeht, bindet sich nun in dieses sadomasochistische Konglomerat ein und kann nicht mehr als sogenannte „reine“ Lust wahrgenommen werden. Das geht inzwischen so weit, dass die sadomasochistische Perversion „normalisiert“ und dafür gar ein beachtlicher Markt eröffnet wird. Mit der Idee einer Befreiung sexueller Handlungen erstickt diese Perversion sie geradezu. Auch dies ist ein Machtdiskurs, um die an sich subversive — hier im positiven Sinne gemeint — Triebhaftigkeit unter Kontrolle zu nehmen.

Andere vergleichbare Märkte sind die Sport- und Gym-Studios, die zahlreichen psychischen, physischen und spirituellen Ratgeber, die Lebensmittelbranche mit ihren Orthorexie-Angeboten — oder wenn die einzig verbleibende Lust diejenige ist, die „To-do-Liste“ abgearbeitet zu haben.

Die Lust ist demgemäß daran gekoppelt, ein Soll zu erfüllen, seine Schuldigkeit zu tun. Dies wiederum bedeutet, dass mit dem „Sollen“ das „Wollen“ erstickt wird.

Die Gewalt ist fester Bestandteil dieser Dynamik, sie ist ihr inhärent, sie wird jedoch umgewandelt und erscheint uns als Schutz und zu unserem Besten.

Der Ausweg über den Sündenbock

Gerade bei einer gesellschaftlichen Entwicklung, welche immer mehr nach Einheit und Übereinstimmung strebt, differente Meinungen stigmatisiert, Auseinandersetzung und Konflikte scheut, steigen im selbigen Verhältnis unsere Ängste, vor allem unsere Ängste vor einer Schuld, und unsere Schuldgefühle nehmen sich immer mehr Raum. Um sich ihnen zu erwehren, kann die Projektion hinzugezogen und als Projektionsobjekt ein Sündenbock eingerichtet werden.

Einigt man sich mehrheitlich auf ein Projektionsobjekt, kann dies für sehr viele eine große Erleichterung bringen. Der Sündenbock ist variabel, es gibt keinen Zusammenhang zwischen Sündenbock und ausgelagerter Schuld und Strafe.

Der Sündenbock hat genauso wenig wie der Schafbock, dem man die menschlichen Sünden anhaftete und der in die Wüste geschickt wurde, etwas mit diesen Sünden zu tun. Die Geschichte zeigt, dass es nie ein Problem war, sich auf einen Sündenbock zu einigen; alle zeitgenössischen Kriege werden auf diese Weise geführt und legitimiert.

Die Befreiung vom Krieg mit Krieg

Jeder Krieg beginnt mit monetären Schulden (2) und jeder Krieg beginnt mit der Projektion von Schuld. Jede und jeder, der Krieg anstrebt, nutzt den Sündenbock, der zu nutzen bereitgestellt wird, und lagert seine Schuld auf ihn aus. Es ist immer die eigene Schuld, auch wenn dies nicht bewusst wahrgenommen werden will. Dass dem so ist, können wir an der Massenwirksamkeit des Projektionsobjektes ablesen, dem sich die Mehrheit der Menschen anschließt. Was anderes ist daran so interessant, als die eigene Perversion, unter denen dieses Ich leidet, auslagern zu können? Mit Lust und Genuss legitim zu vernichten, einen anderen, nicht mehr sich selbst? Nicht mehr den Krieg mit sich selbst führen zu müssen? Dass die Schuld, die Schuldgefühle und die Strafe nicht mehr dieses Subjekt heimsuchen, dass es nicht mehr sein eigener Richter und Henker ist, vielmehr dieser ganze Hass eine Richtung und ein legitimes Ziel außerhalb dieses Ichs bekommt? Endlich Klarheit, wer gut und wer böse ist! Das Gute ergibt sich erst, wenn das Böse festgelegt ist. Dies bedeutet Befreiung, es beruhigt den inneren Krieg, auch den innerfamiliären; einen gemeinsamen Feind zu haben, festigt Bindungen und gibt ein wohliges Gefühl der Gemeinschaft. Dieselbe Befreiung wird letztendlich auch im Außen erwartet: Wer den Krieg befürwortet, geht letztendlich davon aus, dass er Befreiung bringt. Sonst ergäbe er ja keinen Sinn.

Wer die Deutungshoheit über die Schuld hat, der hat Macht

Der eigentliche Ausweg aus der sadomasochistischen Perversion einer Gesellschaft ist die Aufhebung dieses Schulddiskurses beziehungsweise die Umwandlung der Schuld in Eigenverantwortung. Damit wird das Konzept der Schuld nicht mehr gebilligt, vielmehr eigenverantwortlich gehandelt — sich selber und damit dem anderen gegenüber. Dann nimmt die Jungfrau ihr Begehren in die eigenen Hände und sucht sich ein begehrendes Gegenüber. Dann kann der eigentliche Wunsch, den ihre Träume enthüllen, wahrgenommen und erfüllt werden. Der Krieg zerstört die Kraft unserer Wünsche, dafür gibt es keinen Platz mehr. Doch die Abfuhr des Hasses auf einen Sündenbock scheint uns noch mehr Lust zu bereiten als das Bewahren und Schützen unserer Wünsche. Krieg ist und bleibt eine Perversion, weil er mit Lust gekoppelt ist. Mit Lust an der Zerstörung, mit Lust an der Vernichtung, mit Lust, die Schuld und die Strafe auszulagern und sie endgültig zu töten, indem wir den anderen töten. Wie der Schafbock in der Wüste kläglich verendete.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Das Vokabular der Psychoanalyse, J.Laplanche und J.B. Pontalis, Suhrkamp Taschenbuch, 1986
(2) David Graeber, Schulden, die ersten 5000 Jahre, Klett-Cotta 2012

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