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Grauer Bundestag

Grauer Bundestag

Unser Parlament wird nicht bunter, nur weil dort jetzt mehr Frauen, Homosexuelle und zwei Transmenschen sitzen — die Arbeiterschicht fehlt fast vollständig.

Neulich gaben sich die Qualitätsmedien zufrieden: Denn endlich haben es zwei Transmenschen in den Bundestag geschafft. In zahlreichen Artikeln widmete man sich diesem Umstand, und die Texte suggerierten, dass das der ganz große Wurf dieser Amtsperiode sein werde. Schon im Vorfeld der Wahl hatten einige Medien davon berichtet, dass die große Stunde für die Transsexualität schlagen könnte, weil etwaige Transmenschen mutig kandidieren würden. Das klang stets so, als sei Transsexualität an sich schon ein Wahlprogramm. Mehr müsse man im Grunde gar nicht anbieten für die Wählerinnen und Wähler (m/w/d).

Einige Wochen später stand dann schon Streit ins Hohe Haus, weil einige Feministinnen via Emma an einem ganz großen Ding dran waren, an einem regelrechten Skandal nämlich: Demnach hätten die Grünen mit Tessa Ganserer einen Quotenplatz mit einer Transfrau belegt. Eigentlich sei der aber ja einer biologischen Frau vorbestimmt. Prompt debattierte ganz Wokistan, ob der Steinzeitfeminismus der Alice Schwarzer noch ein akzeptabler Feminismus für heute sei, wenn er Transmenschen nicht berücksichtigen wolle. Kurz und gut:

Es ging bei der Diskussion im Wesentlichen um Geschlechtliches und um Pöstchen — um politisches Geschick oder gar politische Inhalte des Menschen Ganserer ging es in der Auseinandersetzung überhaupt nicht.

Mehr „richtige“ Frauen — und auch die Gay-Community ist selig

Parallel wertete man es als Zeichen unserer neuen großen Zeit, dass nun auch wieder mehr Frauen im Parlament seien. Denn mit Frauen ziehe ein neuer Geist ins Parlament — dabei ist der alte Poltergeist namens Merkel gerade erst aus dem Plenum vertrieben worden. So außergewöhnlich freundlich war der nun auch nicht gewesen, sodass man sich schon mal fragen könnte, ob denn Frau oder Mann zu sein überhaupt so eine besondere Leistung an sich sein soll.

Zu lesen war ebenfalls, dass dieser 20. Deutsche Bundestag auch schwuler oder lesbischer sei als der vergangene. Wie man das genau misst, ist freilich fraglich, denn nicht jeder geht mit seiner sexuellen Neigung hausieren. Manche Menschen haben sich tatsächlich sowas wie ein Schamgefühl bewahrt — wobei „Scham“ hier nicht meint, sich darob zu schämen, sondern einfach nicht aller Welt auf die Nase binden zu wollen, bei wem oder was man in Wallung gerät, weil es für sie halt doch noch Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die im Privaten bleiben dürfen.

Ob der aktuelle Bundestag homosexueller ist als vorher, weiß man gar nicht so genau. Vielleicht war er ja in den Sechzigerjahren viel gleichgeschlechtlich liebender als heute. Nur damals hat man sich halt geniert, gab man das nie und nimmer offen zu. Dergleichen machte man heimlich, die Gattin sollte bitte nicht davon gestört werden; im fernen Bonn gab es die Möglichkeit, das, was man im ehelichen Bett nicht kriegen konnte, diskret auszuleben. Was weiß man also schon darüber, wie schwul die Zeiten damals waren? Oder sagen wir es anders, man weiß oder ahnt es eigentlich schon: Es gab in der Bevölkerung zu jeder Zeit einen recht stabilen Prozentsatz homosexueller Menschen. Man sah es damals nur nicht als Bestandteil seines Mandats an: Das ist der Unterschied.

Der Frankfurter Bundestagsabgeordnete Armand Zorn erklärt neulich in einem Interview mit der „hessenschau“, dass der Bundestag noch viel diverser werden muss. Zorn ist dunkelhäutig — warum die Hautfarbe per se ein Kriterium sein soll, das für den Bundestag empfiehlt, konnte er allerdings nicht wirklich darlegen: „Irgendwas mit Empathie und Herz“, waren seine Argumente. Und das ist das eigentliche Problem dieser „Haltungspolitik“: Sie vermittelt, dass es der Politik um Gefühle zu gehen habe, und vergisst darüber, die eigentlichen Härten des Lebens zu thematisieren, jene nämlich, die mit dem Verdienen des Lebensunterhalts einhergehen. Und in dieser Sache ist es um den Bundestag nicht bunt, sondern ziemlich düster bestellt.

Es gibt Berufe in diesem Land, die kommen nicht im Bundestag vor

Eigentlich wollte ich mich ja auch gar nicht zu tief in diese Materie hineinwagen. Als Kommentator unserer kolossalen Zeiten steht man schnell am Pranger, wenn man nicht so mitschunkelt, wie es die bestellte Musik zuweilen vorgibt. Als jemand, der nicht trans- oder homosexuell, nicht Frau und nicht dunkelhäutig ist, soll man ohnehin keine Meinung dazu haben — außer die richtige, die ist immer erlaubt, daher heißt dieses Konzept ja auch „Meinungsfreiheit“.

Wie sieht es eigentlich mit der Vielfalt der Berufe unter den Parlamentariern aus? Heißt es da auch „Celebrate Diversity“? Die Bilanz ist ernüchternd: Von 735 Abgeordneten sind 414 aus dem Bereich der Unternehmensführung oder -organisation. Weitere 104 Abgeordnete sind Juristen oder aus der Verwaltung. Weitere Berufsgruppen — ohne Anspruch auf Vollständigkeit — sind: 52 Geisteswissenschaftler, 27 Lehrer, 17 Ärzte, 12 Medienschaffende, 11 aus Forschung und Entwicklung, 11 aus dem sozialen Bereich, 10 Finanzdienstleister und 9 Biologen, Chemiker oder Physiker.

Wenn die Relationen zum Alltag stimmen würden, müssten sechs von zehn Menschen in Ihrem Umfeld ein Unternehmen leiten oder wenigstens Abteilungsleiter sein. Ist dem so? Wenn ja, verkehren Sie sich in recht elitären Zirkeln. Vielleicht bewege ich mich hingegen ja in einem speziellen Umfeld, aber die Leute, die ich so kenne, müssen in der großen Mehrheit körperlich arbeiten. Manche machen sich dabei die Finger dreckig. Sie sind Handwerker, Lieferanten, Verkäufer, kleine Angestellte.

Wie es scheint, ist gar keiner aus dieser Riege im Bundestag vertreten. Wo ist da eigentlich der Aufschrei, dass endlich faire Verhältnisse zu schaffen seien?

Ein Menschen, der in seinem Leben vor dem Mandat um fünf aufstehen musste, eine volle Tram nahm, Überstunden ranklotzte, Familie und Beruf nur schwer unter einen Hut brachte, um am Ende noch nicht mal sonderlich große Sprünge machen zu können — sein Leben käme mir als Wähler bekannt vor. Würden sich mit einem solchen Abgeordneten nicht ebenfalls Menschen identifizieren? Vielleicht sogar eine große Mehrheit? Wäre die soziale Stellung nicht mindestens so viel Identität wie all die anderen Peergroups, die man uns ständig aufbereitet und als absolute Notwendigkeit für eine bessere Zukunft verkauft?

Ausgerechnet Hans Modrow!

Stattdessen sitzen dort in großen Teilen Menschen, die zu den Besserverdienenden im Lande zählen und die jene verschmähten Berufsgruppen nur aus ihren gelegentlichen Erfahrungen kennen, wenn sie deren Dienstleistung in Anspruch nehmen. Die Probleme schlecht bezahlter Menschen, aus dem Milieu der klassisch Werktätigen, kennen sie gar nicht. Und das spürt man auch an ihrer Politik und Haltung. Während sie die schwule Vielfalt feierlich umgarnen, lachen sie sich ins Fäustchen, dass die soziale Vielfalt gar keine Beachtung mehr findet.

„Und den Charakter des Systems erkennt man nicht mithilfe des Ausschnittdienstes und der sogenannten sozialen Medien, sondern aus Theorie und Praxis und deren Verbindung. Ich scheue mich deshalb nicht, eine systematische politische Bildungsarbeit in der Partei zu fordern. Natürlich ist das kein Allheilmittel, aber nützlich, um die Welt zu erkennen und zu bestimmen, was die Aufgabe der Partei ist. Auch wenn deren Zustand im steten Wandel begriffen ist, ändert sich der Charakter der Klassengesellschaft nicht. Lautmalerei, Anglizismen und Gendern oder der Kampf gegen die Klimakatastrophe überwinden die sozialen Gegensätze in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nicht.“

Diese Sätze hat neulich erst Hans Modrow verfasst. Und zwar in einem Abschiedsbrief an seine Partei der Linken. Er richtet diesen an die „liebe Susanne“ und die „liebe Janine“. Ausgerechnet dieser sehr alte Mann, der seine politische Karriere der SED zu verdanken hatte, erklärt seiner orientierungslos gewordenen Partei, dass die Klassengesellschaft eben doch weiterhin existiert. Diese Erinnerung ist auch dringend nötig, denn nicht nur unter Linken scheint es heute ausgemachte Sache, dass das, was man altmodisch mal „Klassenkampf“ nannte, gar kein Thema mehr sei. Man ist sich einig, dass die soziale Frage weitestgehend geklärt ist, weshalb man nun das Thema nach und nach zu den Akten legen dürfe.

Wie recht Modrow hat, kann man tatsächlich an der Zusammenstellung des Bundestages sehen. Es herrscht weiterhin Klassenkampf. Und die saturierten Schichten gewinnen ihn, weil sie mit jeder Legislaturperiode mehr und mehr Vertreter aus ihrem Milieu nach Berlin entsenden.

Spricht jemand über eine Quote? Über die Überwindung dieser Mutter aller gesellschaftlichen Spaltungen?

Und dass ausgerechnet einer aus der ehemaligen SED daran erinnert, was Progressivität wirklich bedeutet, welches Erbe darin steckt, sagt viel über den Verfall progressiver Vorstellungen aus.


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