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Heimkehr in die Fremde

Heimkehr in die Fremde

Zwei persönliche Erfahrungen geben Einblick in die Vor- und Nachteile des Auswanderns.

Kerstin Chavent

Nachdem ich ein paar Jahre in Spanien verbracht hatte, zog ich vor 22 Jahren aus meiner norddeutschen Heimat nach Frankreich. Ich hatte keine Arbeit, keine Wohnung, keine Kontakte, wenig Geld und viele Ideale. Ich war schwer verliebt in das Land und in einen mittellosen Opernsänger und hatte keine Ahnung, wo, wie und vor allem wovon ich leben sollte. Mein eigener Weg ist ein Beispiel dafür, dass es möglich ist, aus einem romantischen Impuls heraus in einem anderen Land Heimat zu finden.

Es wirkt eine schützende Kraft in denen, die sich auf den Weg machen im vollen Vertrauen darauf, das Richtige zu tun. Auf oft wundersame Weise fügen sich die Dinge und wir werden auch dort fündig, wo wir es nie vermutet hätten. Wer sein Wollen, sein Sehnen, sein Denken und sein Handeln übereinbringt, dem wachsen wahrhaftig Flügel. So habe ich es erlebt — obwohl ich einige Bruchlandungen und schmerzhafte Erfahrungen hinter mir habe (1).

Auswandern war für mich mit dem Wunsch verbunden, mich in meine Wahlheimat zu integrieren. Dazu gehört die Bereitschaft, sich innerlich auf das neue Milieu einzustellen und sich mit Neugierde und Wohlwollen für die Menschen vor Ort zu öffnen. Für das gegenseitige Kennenlernen sind Sprachkenntnisse absolut notwendig. Zwar habe ich in meiner Zeit im Ausland auch deutsche Freundschaften gefunden, doch ich habe sie nie gesucht. Ich wollte nicht in einer Art Club leben, in dem man „unter sich“ ist.

Viele Franzosen machen zu besten Bedingungen Karriere und Urlaub in ihren ehemaligen Kolonien. Bis heute weht hier ein Hauch der Überlegenheit, der viele davon abhält, sich wirklich aufeinander einzulassen. Für den Aufbau einer harmonischeren und gerechteren Welt, wie ich sie mir vorstelle, sind die Kolonialherrenmanieren vieler Expats für mich ebenso undenkbar wie Massentourismus, Freizeitressorts und Vergnügungsparks. Es erscheint mir als eine Form der Entfremdung und der Missachtung des einheimischen Lebens, sich irgendwo anzusiedeln, weil alles so schön billig ist und die Sonne scheint.

Ich stelle mich entschieden gegen jede Art von Ausbeutung und finde das Argument, dass „die ja ohne die Serviceleistungen gar nicht leben könnten“ geradezu ekelerregend. Es ist kein Zeichen von Menschlichkeit, sich für wenig Geld von anderen bedienen zu lassen. So ist es auch in der Auswanderungsfrage für mich wichtig, dass sich nicht Privilegierte und Unprivilegierte gegenüberstehen. In diesem Sinne widerstrebt mir jede Art von Gated Community, abgesicherte Wohnkomplexe, in denen sich wohlhabende Menschen vor den verarmenden Massen zu schützen suchen, um ungestört ihre Privilegien zu leben.

Wer sich nicht wirklich auf die Kultur seines Gastlandes einlassen und mit den Einheimischen gemeinsame Sache machen will, der sollte zu Hause bleiben. Auch hier gibt es gerade jetzt jede Menge zu tun! Wir brauchen Oasen des kreativen Widerstandes, in denen die Menschen nach ihren höchsten Werten zusammenleben! Wir brauchen trojanische Pferde, die sich in die Höhle des Löwen wagen! Wir brauchen mutige Menschen, die dazu bereit sind, ihr Licht in die Dunkelheit zu tragen!

Wenn jetzt die Menschen Deutschland verlassen, die einen klaren Verstand haben und ein offenes Herz, wie dunkel wird es dann dort werden?

Soll das unser Beitrag für die Welt sein, in die wir hineingeboren wurden? Uns aus dem Staub machen, wenn es unbequem wird, anstatt die Ärmel hochzukrempeln und es besser zu machen? Wollen wir wirklich noch einmal dieses wunderschöne Land der Barbarei zum Opfer fallen lassen? Geben uns die aktuellen Ereignisse nicht eine geradezu phantastische Gelegenheit, der Welt zu zeigen, dass wir es besser machen können? Mehr denn je brauchen wir Archen, Orte des Lichts, die Orientierung geben. Anstatt zu flüchten, können wir uns daran machen, lokale, regionale, nationale und internationale Netzwerke aufzubauen.

Das schreibe ich von einem sonnigen Dorfplatz im Süden Frankreichs aus. Die Maßnahmen sind hart: Seit Monaten gibt es eine Maskenpflicht für alle, auch draußen, auch auf dem Land. Wer das Haus verlässt, muss eine selbstunterschriebene Erlaubnis mit sich führen. Außer zu besonderen Anlässen darf sich niemand mehr als zehn Kilometer von seinem Wohnort entfernen. Die Ausgangssperre gilt seit dem Herbst 2020 ab 19 Uhr. Das Ding: Um mich herum hält sich so gut wie niemand daran. Viele machen einfach, was sie wollen. Und sie machen es gut. Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.

Elisa Gratias

Auswandern war damals für mich ein großes Ding. Etwas Besonderes. Heute ist mein Eindruck, dass es inzwischen so einfach ist. Von der Organisation und dem Risiko her ist es genauso einfach — oder schwer —, wie von Leipzig nach Hamburg zu ziehen: Brücken müssen abgebrochen, Menschen verabschiedet werden. Alles ist neu, wir müssen neue Kontakte knüpfen, uns zurechtfinden, Geduld haben, um uns einzuleben, Einsamkeit überwinden.

Beim Auswandern kommen lediglich zwei entscheidende Faktoren hinzu: die Sprache und die Kultur. Das sorgt für eine größere Herausforderung, mehr Einsamkeit und erforderliche Geduld für das Integrieren in die neue Gesellschaft vor Ort, aber auch für eine enorme Bereicherung und Erfüllung, wenn wir diese Herausforderung meistern.

Also widerspreche ich mir jetzt selbst, denn ich liebe Paradoxe, und sage: Auswandern ist genau deshalb nicht für alle geeignet und eben nicht einfach ein Umzug. Jeder Mensch, der sich fragt, ob er nun in Deutschland bleiben oder ins Ausland ziehen soll, muss sich bewusst sein, dass es woanders auch immer Schattenseiten gibt, dass es Zeit braucht und sehr schmerzhaft ist, anzukommen und zu spüren, dass man noch nicht dazugehört, Chaos und Ängste auszuhalten, weil man die Bürokratie vor Ort nicht versteht.

Ich zog mit 22 Jahren noch als Studentin vom damals extrem günstigen Leipzig ins extrem teure Frankreich. Am Anfang war alles aufregend und toll, ich fand einen Studentenjob als Empfangsdame auf Messen und Veranstaltungen, machte ähnliche Erfahrungen wie Kerstin: Nach den ersten Wochen beklemmender Einsamkeit, die ich durch das Überwinden meiner Schüchternheit und penetrantes Zugehen auf Franzosen und afrikanische Studenten überwand, belohnte mich mein Gehirn mit dem grandiosen Gefühl, es allein geschafft zu haben. Unüberwindbar scheinende Hürden gemeistert zu haben. Ganz neue Facetten an mir zu entdecken. Eine fantastische Zeit voller Lebendigkeit.

Dann kam auch dort der Alltag, die Sprache wirklich zu verstehen und mich ausdrücken zu können, dauerten viel länger, als ich gedacht hatte. Vier Jahre lang frustrierte es mich, zu merken, dass meine französischen Bekanntschaften, die erst nach und nach zu Freunden wurden, mich noch nicht ganz sehen und erkennen konnten, weil ich mich nicht so ausdrücken konnte: mein blöder Humor, meine tiefgründigen und komplexen Gedanken, meine innigsten Gefühle konnte ich nicht beschreiben. Welch ein Erlebnis als ich nach fünf oder sechs Jahren meinen ersten bescheuerten Witz auf Französisch machte.

Ich genoss es, in Frankreich Ausländerin zu sein, mich besonders zu fühlen, es geschafft zu haben, auch viele Freundschaften mit Franzosen zu schließen, wirklich ins tiefe Frankreich eintauchen zu können — bei Familienfesten eingeladen zu sein, die Katzen von den Eltern meiner Freunde zu versorgen, wenn sie im Urlaub waren. Ich erfuhr, wie kostbar es ist, sich an einem Ort zu Hause und verwurzelt zu fühlen.

Dank der Einsamkeit und Schwierigkeiten in den ersten Jahren erkannte ich, dass dies nicht selbstverständlich ist. Ebenso wie Freundschaften. Ich lernte viele tolle, liebe Menschen kennen, doch es wurden keine Freundschaften daraus. Es fehlte einfach das Gefühl. Wie in der Liebe. Nach Jahren wahre Freunde gefunden zu haben, ist umso erfüllender.

Wenn wir sie annehmen, und nicht gleich nach ein, zwei Jahren das Handtuch schmeißen und frustriert aufgeben und zurückgehen, offenbaren sich die unbequemen Erfahrungen einer Auswanderung als das größte Geschenk.

Nach vier Jahren Hin und Her zwischen Lyon, Toulouse und Genf landete ich in Paris und verbrachte dort fünf Jahre, wurde unglücklich, weil ich dachte, den Traum zu leben und trotzdem innere Leere und Sinnlosigkeit zu fühlen. Paris ist eben am Ende auch nur eine Großstadt. Ein menschengerechtes Leben ist hier noch weniger möglich als in anderen Städten.

Als Ausländer mit einem minimalen oder normalen Einkommen, geschweige denn als Selbstständige und ohne französischen Bürgen, ist es fast unmöglich, eine Wohnung zu mieten. Und die Wohnung, die man bekommt, geht meist nicht über dreißig Quadratmeter hinaus und ist in einem schlechten Zustand. Als ich älter wurde, mich weiterentwickeln wollte, eventuell einmal Kinder haben wollte, dachte ich — wie viele Pariser — daran, dass ich die Stadt verlassen muss. Aber wohin, wenn man dort wohnt, wo sogar Serien-Protagonisten wie Rachel aus „Friends“ und Carry aus „Sex and the City“ träumen hinzuziehen?

Nach Deutschland wollte ich auf keinen Fall zurück. So verschlug es mich eher durch Zufall nach Mallorca, eigentlich einer der letzten Orte, von dem ich gedacht hätte, dass ich da auch nur einmal hinreise. Das gleiche Spiel mit der Sprache und den Freundschaften begann von vorn. Lange Jahre Einsamkeit, aber am Meer und bei mediterranem Klima ist es angenehmer deprimiert zu sein als im Großstadtchaos von Paris.

Meine Entscheidungen, auszuwandern oder das Land zu wechseln, fällte ich immer aus dem Bauch heraus. Hätte ich mir vorher Gedanken gemacht, hätte ich es nicht getan.

Hätte ich geahnt, wie schwer es wird, hätte ich es vielleicht auch nicht getan. Deshalb ist es gut, das nicht zu wissen, und es einfach zu machen — in dem Bewusstsein, dass der Prozess die Bereicherung bringt, kein Ort der Welt perfekt ist und Enttäuschungen dazugehören.

Wie bei Kerstin in Südfrankreich gelten auch hier in Spanien teilweise strengere Corona-Maßnahmen als in Deutschland, vor allem letztes Jahr, als wir zwei Monate lang nicht einmal zum Spazierengehen die Wohnung verlassen durften (2).

Der große Unterschied: Die Menschen sind nicht so von der Einhaltung von Regeln besessen wie in Deutschland. Freunde können weiter Freunde sein, auch wenn einer an die Maßnahmen glaubt und der andere sie für Schwachsinn hält. Manche Menschen umarmen sich, andere halten Abstand. Man nimmt Rücksicht auf die anderen und wird in Ruhe gelassen, wenn man die Regeln nicht so krass befolgt. Die meisten tragen die Masken — wie auch ich —, weil sie keine Geldstrafe zahlen möchten. Manchmal gehe ich ohne, manchmal ziehe ich sie herunter. Ein- oder zweimal sah mich die Polizei, aber hielt nicht einmal an.

Ich fühle mich hier geborgen, sicher und zumindest frei genug, Freunde einzuladen, zu feiern und Geselligkeit mehr zu kultivieren und zu genießen denn je. Meine Erfahrung stammt aber auch aus meiner Filterblase hier. Andere Menschen, die auf Mallorca leben, empfinden das möglicherweise ganz anders.

Auch deshalb ist es vor dem Auswandern wichtig, sich zu fragen, wovor genau man flieht und was genau man sich vom Zielland erhofft. In Palma ist die Situation und Stimmung nicht wie in meinem Dorf in der Inselmitte. Vielleicht reicht es auch in Deutschland, von der Stadt aufs Land zu ziehen?

Meine generelle Empfehlung für Menschen, die sich nicht sicher sind, lautet: Lass es lieber. Wer die Freiheit und das Abenteuer liebt, wer bereit ist, zu wachsen und sich mit seinen inneren Problemen zu konfrontieren, die uns stets und treu überallhin begleiten, oder aber wer wirklich unter hohem Leidensdruck steht und das Gefühl hat, nichts mehr zu verlieren zu haben, dem sage ich: Es ist schmerzhaft, und es lohnt sich! Für organisatorische Fragen kann niemand allgemeine Tipps geben. Jeder Weg ist einzigartig. Die wichtigste Eigenschaft für Auswanderer ist: Lerne, um Hilfe zu bitten, und finde dich nach und nach, Schritt für Schritt zurecht.

Ich bin jeden Tag dankbar und glücklich für das Leben, das ich mir hier sehr bewusst aufgebaut und gestaltet habe. Gerade seit den krassen Corona-Maßnahmen fühle ich, wie mir auch meine fast besessene Beschäftigung mit den existenziellen Sinnfragen des Lebens sowie die Fähigkeit, mich auf unsichere Situationen einzustellen, und die selbst erlebte Erfahrung, dass es immer irgendwie weitergeht, helfen, besser mit der unsichtbaren Schlinge zurechtzukommen, die um unsere Gemüter zugezogen wird.

Das Buch, das mir damals den Mut gab, nach Frankreich zu ziehen war „Der Alchimist“ von Paolo Coelho (3). Das Buch, das mich jetzt vor der Verzweiflung, die unsichtbar in der Luft liegt, bewahrte und mit Lebensmut und Vertrauen vollpumpte, heißt „Der Weg des Künstlers“ von Julia Cameron (4). Ihre Wirkung auf mein Alltagserleben und Befinden ist mindestens genauso groß wie die Vorteile, die das Leben im Ausland mir nun bietet. Wer das Auswandern nun also doch nicht als die Rettung für sich selbst sieht, kann vielleicht in diesen Büchern Kraft und Auswege aus dem Corona-Regime Deutschland finden und es vor Ort transformieren.


Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch oder E-Book.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Kerstin Chavent: Was wachsen will muss Schalen abwerfen, Bod 2021
(2) https://www.rubikon.news/artikel/das-corona-tagebuch-34
(3) https://www.buchkomplizen.de/index.php?lang=0&cl=search&searchparam=Paulo+Coelho+Cordula+Swoboda+Herzog+Der+Alchimist
(4) https://www.buchkomplizen.de/index.php?lang=0&cl=search&searchparam=Julia+Cameron+Ute+Weber+Der+Weg+des+K%C3%BCnstlers


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