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Im Gefängnis des Ich

Im Gefängnis des Ich

Patanjalis 2000 Jahre altes Yogasutra zeigt, dass auch das Handeln der Menschen im Widerstand oft einem Geisteszustand der Selbstbetäubung entspringt.

Von den vielen spirituellen Meistern der Menschheitstradition — männlich wie weiblich —, die Antworten darauf geben können, was zu tun ist, wird in diesem Artikel einer herausgegriffen. Die Rede ist von Patanjali, als dessen wichtigste Schrift das sogenannte Yogasutra überliefert ist. Dort werden sowohl die Blockaden benannt, die unserer spirituellen Verwirklichung und der Entfaltung unserer vollen Lebenskraft im Weg stehen, als auch Hinweise darauf gegeben, was zu tun ist.

Das Yogasutra benennt folgende neun Hindernisse, die unseren Geist und unser Gefühlsleben vernebeln: Unwohlsein, Trägheit, Zweifel, Ruhelosigkeit, Interessenlosigkeit, Zerstreutheit, Uneinsichtigkeit, Ungläubigkeit, Unbeständigkeit. Das klingt wie ein Panoptikum unerwünschter Zustände. Wer ist schon erpicht auf diese Erfahrungen, und doch scheinen wir darin gefangen. Es ist auch völlig gleichgültig, ob wir zu den Kritikern des politischen und gesellschaftlichen Mainstreams gehören oder nicht.

Wir alle stecken in einer Art Ich-Gefängnis und streiten uns darüber, welche Sichtweisen die richtigen sind. Unsere Werte benutzen wir als unsere Waffen und unsere Schutzschilde. Die Welt ist zersplittert, weil Werte zu einer persönlichen Angelegenheit geworden sind. Was für mich gilt, gilt für den anderen da draußen schon nicht mehr.

Warum ist das kein Fortschritt, warum scheint genau dies ins Verderben zu führen? War es nicht das große Versprechen persönlicher Freiheit, das die Aufklärung in geistiger und die sogenannte soziale Marktwirtschaft — ein Kapitalismus mit sozialem Antlitz — in wirtschaftlicher Hinsicht in Aussicht gestellt haben? Keiner darf mir dreinreden, ich darf selbst bestimmen, was ich für gut und richtig halte.

„Selbst denken“ war in der Corona-Zeit und darüber hinaus ein zentrales Schlagwort der Querdenken-Bewegung. Es erscheint auch völlig richtig, dass ein offener transparenter Diskurs und damit eine freie Gesellschaft nur auf der Basis des Rechts auf die eigene Meinung möglich ist.

Und doch betrachten wir, auch in der Freiheitsbewegung, das Problem an dieser Stelle nicht tief genug. Und über diese tieferen Zusammenhänge menschlichen Erlebens und menschlicher Urteilskraft, mit denen ein freies Leben steht und fällt, gibt das wahrscheinlich mehr als 2.000 Jahre alte Yogasutra des Pantanjali Auskunft. Diese Überlieferung tut das nicht im Sinne einer enzyklopädischen Definition, sondern in Form der Beschreibung eines Übungswegs, der in die Freiheit führt und damit auch in die Urteilskraft, die nicht auf Werten beruht, sondern auf tiefer Verwurzelung im Sein.

Es ist an dieser Stelle wichtig, sich das ganz klar zu machen: Nach Patanjali erwächst die Urteilskraft — und damit das richtige Handeln — daraus, dass wir lernen, ganz hier, hier da, hier jetzt, an dieser Stelle fühlend anwesend zu sein, in vollkommener Freiwilligkeit. Die Werte sind sozusagen in uns und brauchen nicht aus geschichtlicher Erfahrung oder Erziehungs- oder Gesellschaftssystemen abgeleitet zu werden. Aber nur eine Spur von Zwang in unserem Inneren, nur eine Spur von Wegstreben aus der oder Anhaften an die jetzige Situation, und wir sind nicht mehr anwesend, sind nicht mehr hier, verlieren die Urteilskraft. An unserer Stelle bleibt eine Persönlichkeit zurück, die mit ihren Bildern, Vorstellungen und persönlichen Werten auf die Situation reagieren muss, berechenbar wie eine Maschine.

Wir fühlen uns getrennt, in einem Zustand des Stresses und der Rechtfertigung, anfällig für Gewalt, meist ohne sie überhaupt wahrzunehmen. Beharrlich und unerschütterlich zum Leben zu stehen darf nicht mit diesem maschinenhaften Geist verwechselt werden, der etwa aus Angst Widerstand leistet. Nur wer im eigenen Sein wurzelt, ist von einer solchen Unerschütterlichkeit, dass keine äußere Bedrohung den inneren Frieden zerstören kann. Und wer innerlich still ist, nimmt wahr. Ein solcher Mensch kann bei der Wahrheit bleiben, unabhängig von den Konsequenzen.

Patanjali würde wahrscheinlich erst dies als wahrhaft menschlich bezeichnen, auch wenn es in unseren modernen Ohren vielleicht völlig utopisch klingen mag. Warum ist es dennoch keineswegs irreal? Wir dürfen nicht den Fehler machen, die im Yogasutra niedergelegten Prinzipien und Zusammenhänge als Konzept oder geistiges Konstrukt zu betrachten. Sie wurden von einem verwirklichten Meister zu Papier gebracht und beruhen auf reiner Erfahrung.

Der Zusatz der Reinheit bedeutet, dass unsere Erfahrung unter bestimmten Voraussetzungen befreit ist von konzeptuellen Bildern und Vorstellungen, befreit ist auch von unseren lebensgeschichtlichen Erfahrungen, weil sich unser Ich-Gefühl im Zustand reiner Gegenwärtigkeit wandelt: Wir erleben uns nicht mehr als getrennt von allem anderen, wir erleben uns nicht mehr als sterbliche Wesen, vielmehr als unsterbliches Bewusstsein nicht eines „Ich bin dies oder das“, sondern eines „Ich bin“.

Unser Verstand rebelliert an dieser Stelle und hält es für ziemlich töricht, die eigene Sterblichkeit und Verwundbarkeit in Frage zu stellen. Damit kehrt Unruhe ein in unseren Geist, die eines der Hindernisse dabei ist, wirklich unverfälscht wahrzunehmen. Aber unser Geist gibt so schnell nicht auf! Braucht es nicht die Abgrenzung, um die eigene Existenz im Angesicht von Bedrohungen schützen zu können, und braucht es deshalb nicht auch einklagbare Werte, um jedem Individuum überhaupt Schutz in einer Gesellschaft autonom handelnder anderer Menschen gewähren zu können?

Man darf die Botschaften des Yogasutra nicht für so naiv halten, als leugneten sie die Begrenztheit irdischer menschlicher Existenz. Es geht hier einzig und allein darum, dass wir nur in einem kleinen Aspekt unserer selbst sterblich und vergänglich sind. Wir können wahrnehmen — wenn wir beginnen, feiner zu fühlen —, dass unser Wesenskern, unser eigentliches Sein als Bewusstsein unbegrenzt ist. Wenn wir lernen, uns in der Tiefe unseres Bewusstseins zu beheimaten, dann gibt es im Kontakt keinen anderen Menschen, dann ist da kein „anderer“! Natürlich weiß ich gleichzeitig, dass es getrennte Körper gibt, und auf einer bestimmten Ebene des Bewusstseins gibt es da auch „mich und den anderen“. Auf einer höheren, fühlbaren Ebene jedoch gibt es diese Trennung nicht.

Das Yogasutra sagt uns auch, wie wir dahin gelangen können: Wir müssen ganz und gar anwesend sein, vollkommen freiwillig, egal was wir gerade erleben, indem wir wirklich hier sind und fühlen, ohne von Tendenzen des Festhaltens oder der Flucht dominiert zu sein. Zunehmend wird unsere Wahrnehmung von einer unerschütterlichen Stille begleitet und von bedingungslosem Erleben, das wir mit Worten als Liebe, Dankbarkeit, Friede, Freiheit, Freude oder Glückseligsein bezeichnen mögen. Unsere Wahrnehmung der jeweiligen Situation und aller korrespondierenden Empfindungen und Gefühle in uns verfeinert sich, je mehr es uns gelingt, anwesend zu sein.

Das Yogasutra spricht davon, dass in diesem Prozess unsere Sinne beginnen zu glühen und dass in diesem Feuer alle benannten Hindernisse verbrennen, die in ihrer Tendenz den Charakter von Widerstand oder Sucht haben. Fehlt es uns aber an Einsicht in diese Zusammenhänge und an der Bereitschaft, vollkommen freiwillig und ohne jeden Zwang dem Schönen und Schrecklichen in unserer Welt offen zu begegnen, dann bleibt uns nur übrig, uns selbst zu betäuben — wofür es unzählige Möglichkeiten gibt.

Eine große Zahl von Menschen wählt das Wegschauen und Verdrängen, um den Schmerz darüber, was gerade politisch und gesellschaftlich geschieht, nicht fühlen zu müssen. Auch als regierungskritische Menschen, die die Variante des Verdrängens der politischen Veränderungen für sich nicht wählen können oder wollen, können wir uns einreden, dass wir als Verteidiger der Grundrechte zu den Guten gehören.

Wahlweise können wir uns über den Mainstream empören oder in Traurigkeit und Resignation versinken und annehmen, für die Menschheit sei es sowieso zu spät. Wir können für die Freiheitsrechte eintreten, ohne zu bemerken, dass wir emotional aus einem tiefen Unwohlsein oder aus einer Angst vor der Zukunft heraus handeln. Oder wir können die positive Variante der Betäubung wählen, indem wir unsere Zuversicht verkünden, dass alles gut werde, während wir gleichzeitig passiv bleiben und uns nicht wirklich berühren lassen wollen von den ungeheuerlichen Zuständen um uns herum.

Alle Psyop-Techniken der Mächtigen funktionieren letztlich deshalb, weil sie auf unsere Bereitschaft stoßen, uns selbst zu betäuben. Wie oft sind wir bereit, mit Menschen „am anderen Ufer“ so in Kontakt zu gehen, dass unmissverständlich klar wird, dass wir von ihnen etwas wollen, wie etwa uns zusammenzuschließen, um dem Unrecht und der politischen Gewalt gemeinsam entgegenzutreten? Wie oft sind wir bereit, in diesen Kontakten Niederlagen zu erleben, missverstanden, angegriffen, therapiert oder ignoriert zu werden? Wie schnell sind wir dabei, Rationalisierungen für diese schmerzhaften Niederlagen zu finden und damit Begründungen dafür, mit Menschen nicht mehr ins Gespräch zu gehen?

Gerade für Menschen des Widerstands, die sich fragen, wie sie zu einer positiven gesellschaftlichen und sozialen Entwicklung beitragen können, bietet das spirituelle Wachstum, wie es in seiner ganzen Tiefe durch Patanjali im Yogasutra ausgeleuchtet wurde, eine große Chance und Quelle der Kraft.

Wir alle können wesentlicher werden, können vollkommen freiwillig im Hier und Jetzt anwesend sein, ohne etwas beschönigen oder verteufeln zu müssen, ohne das Ausmaß des Schmerzes oder der Freude verleugnen zu müssen, in tiefer Stille ruhend, neugierig und voller Tatendrang.

Zeiten und Orte des Übens sind in der jetzigen Situation von großer Bedeutung und schaffen Freiräume, in denen wir gleichermaßen die innere und die äußere Welt in den Blick nehmen; in das spirituelle Wachstum nicht nur die Heilung des persönlichen Umfelds der Menschen, sondern auch die gesellschaftliche und politische Dimension einbeziehen und einander in diesem Sinn Spiegel und Resonanzboden sein können.


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