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Immer wieder ist jetzt

Immer wieder ist jetzt

Solange das Denken in Kategorien von „Wir gegen die anderen“ vorherrscht, wird es Völkermord, wie jetzt in Gaza, immer wieder geben.

Es ist eine brutale Ironie: Weniger als ein Jahrhundert nach dem schlimmsten Völkermord der Menschheitsgeschichte, dem Holocaust, der sechs Millionen Juden auslöschte und die Welt dazu veranlasste, „Nie wieder!“ zu schwören, erleben wir nun eine neue Schreckensgeschichte, diesmal begangen von Juden selbst.

Obwohl er in seinem Ausmaß geringer ist als andere politische Massenmorde nach dem Zweiten Weltkrieg — in Kambodscha, Uganda oder Ruanda —, weist er neben seiner Ironie eine weitere Besonderheit auf: Er geschieht direkt vor unseren Augen, vor laufender Kamera, wird live gebloggt und in Echtzeit dokumentiert. Es ist unmöglich, Unwissenheit vorzutäuschen. So scheint es zumindest.

In Wirklichkeit wird weiterhin die Realität vor unseren Augen verborgen, und die Methoden des Verbergens unterscheiden sich nicht wesentlich von denen, die schon immer angewendet wurden. Darin liegt der Schlüssel zum Verständnis, warum „Nie wieder“ immer wieder geschieht ... und wieder ... und wieder.

Ich habe verschiedene Quellen über den „Krieg“ in Gaza gelesen: Haaretz (eine israelische Zeitung), Mondoweiss, Drop Site News, Chris Hedges, Caitlin Johnstone, Glenn Greenwald und — um ausgewogen zu sein — die New York Times und The Scroll (eine „pro-israelische“ Publikation, die eine rechtsgerichtete israelische Darstellung der Palästinafrage vertritt. Ich setze „pro-israelisch“ in Anführungszeichen, weil sich diese Nation in Wirklichkeit im Namen ihrer eigenen Erhaltung selbst zerstört.) Diese Publikationen — mit Ausnahme der letzten beiden — haben die Schrecken, die Propaganda, die Strategien sowie die politische Geschichte und den Kontext des Völkermords ausführlich dokumentiert.

Ja, ich werde dieses Wort verwenden, auch wenn das Ziel des Krieges nicht darin besteht, jeden einzelnen Bewohner Gazas zu vernichten. Der Vorwand ist die Eliminierung der Hamas, das eigentliche Ziel ist die ethnische Säuberung des Gebiets für jüdische Siedlungen. Der Völkermord ist der Kollateralschaden bei der rücksichtslosen Verfolgung dieses Ziels.

Bislang sind mindestens 58.000 Menschen in Gaza bei Militärangriffen ums Leben gekommen (wahrscheinlich sind es viel mehr, da diese Zahl diejenigen nicht umfasst, die unter den Trümmern begraben sind). Unzählige weitere sind an Hunger und Krankheiten gestorben.

Trotz der umfangreichen Dokumentation der grausamen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Gaza glauben viele Menschen — darunter die Mehrheit der israelischen Bevölkerung — entweder nicht, dass dies geschieht, oder es scheint ihnen egal zu sein.

Das liegt nicht daran, dass sie, wie Caitlin Johnstone behauptet, „miese Menschen“ oder „anstrengende, unerträgliche Narzissten“ („Exhausting, Insufferable Narcissists”) sind. Das ist keine Erklärung, die einen Weg nach vorne aufzeigt, sondern nur eine Schleife zurück zum Ausgangspunkt.

Wenn das Problem „miese Menschen“ wären, dann könnte nur ein Narr hoffen, dass sie sich ändern. Aber „miese Menschen“ ändern sich nicht — nur nicht-miese Menschen sind dazu in der Lage. Die Lösung bestünde dann darin, sie zu unterdrücken, einzusperren, zum Schweigen zu bringen, zu entfernen, zu kontrollieren, zu demütigen, zu vernichten und an ihnen ein Exempel zu statuieren, um andere miese Menschen abzuschrecken. Doch genau das ist die Grundhaltung hinter Völkermord.

Schließlich glauben die meisten Israelis, dass auch in Gaza nur miese Menschen leben. Das zumindest machen Umfragen glauben, in denen eine große Mehrheit der Meinung ist, dass es „keine Unschuldigen in Gaza gibt“.

Wenn man nicht glaubt, dass miese Menschen für immer von dieser Erde getilgt werden können, dann verurteilt uns diese Diagnose dazu, „nie wieder“ immer und immer wieder zu erleben.

Wäre es nicht besser, zu verstehen, warum ganz normale Menschen, sogar freundliche und großzügige Menschen — solche, die gerne Ihre Katze füttern, wenn Sie mal weg sind — abscheuliche Verbrechen unterstützen oder tolerieren, die sich vor aller Augen abspielen? Wenn wir das verstehen würden, könnten wir es vielleicht verhindern.

Weil das Gemetzel so öffentlich ist, schreien viele von uns verzweifelt: „Wie, wie, wie kann das geschehen? Warum tun sie das? Wie konnten wir das zulassen?“ Wenn sich auf dieser Erde etwas ändern soll, müssen diese Fragen mehr sein als nur Ausdruck von Verzweiflung. Wir müssen sie ernst nehmen. Wir dürfen uns nicht mit bequemen, falschen Antworten zufriedengeben, die unserer Verzweiflung Luft machen, indem sie sie in Hass auf miese Menschen lenken.

Tatsächlich tun diejenigen, die die Realität des Geschehens nicht wahrhaben wollen, das, was Menschen ständig tun. Für sie findet der Völkermord nicht vor ihren Augen statt, weil sie in einer Narrativblase leben, in der er unsichtbar ist.

Sie werden sagen: „Diese Videos sind inszeniert. Diese Fotos sind gefälscht. Diese Geschichten sind Hamas-Propaganda. Die Ärzte, die aus Gaza berichten, sind Antisemiten.“ Oder sie werden sagen: „So etwas passiert eben im Krieg.“ Oder: „Gaza hätte die Hamas nicht wählen dürfen, sie sind selbst schuld und verdienen die Strafe für den 7. Oktober.“ Oder: „Wenn sie wollen, dass der Krieg endet, sollten sie die Tunnel stürmen und die Hamas vertreiben.“

Und sie glauben das tatsächlich mit aller Aufrichtigkeit, auch wenn es widersprüchlich ist. Massaker an Zivilisten finden nicht statt UND Massaker an Zivilisten sind unvermeidbar. Hunger wird nicht als Kriegswaffe eingesetzt UND Hunger als Kriegswaffe ist gerechtfertigt.

Mit anderen Worten: Sie tun das, was die meisten von uns ständig tun, wenn auch in extremerer Form. Sie wählen Informationen aus und interpretieren sie, um ihren Glauben, ihre Identität und ihre Zugehörigkeit aufrechtzuerhalten. Es tut mir leid, aber diese Menschen sind nicht einfach nur schlechtere Menschen. Ich möchte mit „Es tut mir leid, aber ...“ nicht herablassend sein. Es tut mir wirklich leid. Ich wünschte, die Dinge wären einfacher. Ich wünschte, die Gräueltaten, die Johnstone, Hedges und andere so mutig und hartnäckig aufdecken, wären nur darauf zurückzuführen, dass schlechte Menschen schlechte Dinge tun.

Ich wünschte, wir würden in einer Welt leben, in der es klare Helden und Schurken gibt — eine Welt der Orks und Elfen, eine Fantasiewelt à la „Starship Troopers“, in der das Grundproblem ein identifizierbares „die anderen“ ist.

Aber genau diese Denkweise schafft erst die Voraussetzungen für Massaker. Wer sind die Palästinenser, wenn nicht ein „die anderen“? Wer waren die Juden im Europa der 1930er Jahre, wenn nicht ein „die anderen“, auf das man die Schuld für alle Übel des Kontinents projizieren konnte? Wer waren die Tutsis in Ruanda, die „konterrevolutionären Elemente“ während der Kulturrevolution, die Hexen der Inquisition?

Sie mögen sagen: „Es ist ein großer Unterschied, ob man Verachtung für eine schwache, unterdrückte Bevölkerungsgruppe schürt, um deren Abschlachtung zu ermöglichen, oder ob man Verachtung für die Macht schürt, die diese Abschlachtung vornimmt.“

Sicherlich. Aber gehen Sie noch einen Schritt weiter. Was Sie sagen, ist: „Dieser und jener verdient Verachtung, weil ...“ Das ist das Denkmuster. Es gibt die Verachtung und die Gründe dafür. Und so bleiben uns endlose Diskussionen darüber, wer Verachtung verdient und wer nicht, welcher Krieg gerechtfertigt ist und welcher nicht. Wenn alle Parteien sich einig sind, dass jemand Verachtung verdient, ist es für die Mächtigen ein Leichtes, zu argumentieren, dass es die anderen sind. Die Übereinkunft erleichtert die Propagandaarbeit. Deshalb sage ich, dass Krieg immer gerechtfertigt ist.

Wir können alle kollektiven Verbrechen — ob Völkermord, Missbrauch, Ausbeutung, Ökozid oder Unterdrückung — anprangern, ohne eine implizite Diagnose des Täters zu stellen, die bestätigt, dass manche Menschen minderwertiger sind als der Rest von uns. Denn das ist das Prinzip, das die Schaffung der nächsten Opferklasse rechtfertigt.

Das Muster „Wir gegen die anderen“ ist älter als die Geschichte. Es entspringt nicht nur dem „Tribalismus“ und dem Wettbewerb um knappe Ressourcen. Die Spaltung in „wir“ und „die anderen“ findet auch innerhalb von Gruppen regelmäßig statt. Es handelt sich dabei, wie René Girard gezeigt hat, um die ursprüngliche soziale Krise, die noch vor der Zivilisation selbst entstanden ist: Kreisläufe der Rache, Spaltung der Gesellschaft, gefolgt von einem Ausbruch vereinigender Opfergewalt, durch den soziale Spannungen, die die Gesellschaft spalten könnten, auf eine relativ machtlose, entmenschlichte Unterklasse abgeladen werden.

Gewöhnen wir uns an das „Wir gegen die anderen“-Denken, werden Bevölkerungen anfällig für Manipulation durch die wirklich miesen Menschen: jene skrupellosen, soziopathischen Individuen, die in undurchsichtigen Systemen so oft an die Macht gelangen.

Sie müssen nur mit dem Finger auf den Anderen zeigen (bzw. ihn mithilfe ausgeklügelter Propaganda und Informationskontrolle identifizieren). Die Massenpsychologie erledigt den Rest. Diese Bemühungen hätten wenig Wirkung, gäbe es nicht den Verbündeten unserer vererbten Psychologie, die uralte Neigung, einen externen Feind oder eine interne Minderheit als „Untermenschen“ zu bezeichnen.

Ich weiß aus Erfahrung, dass die hier dargelegte Sichtweise Feindseligkeiten hervorrufen wird. Ich möchte den Kritikern die Mühe ersparen, indem ich die beiden wichtigsten Kritikpunkte für sie vorwegnehme. Ich nenne sie: „Verständnisvoll gegenüber dem Faschismus“ und „antisemitischer Trottel“. Obwohl sie aus oberflächlich gegensätzlichen Perspektiven kommen, ist das, was sie gemeinsam haben, weitaus bedeutender.

Verständnisvoll gegenüber dem Faschismus: Charles, du gibst Israel einen Freifahrtschein für Völkermord. Wenn dich die jüngsten Massaker in Hilfszentren, die gezielte Tötung von Kindern, die Ermordung von Journalisten, der Einsatz von Hunger als Waffe oder die Blockade von medizinischen Hilfsgütern nicht überzeugen, dann wird dich nichts überzeugen. Indem du eine Nation von Kindermördern und Massenmördern vermenschlichst, weckst du falsche Hoffnungen, dass sie den Völkermord aus eigenem Antrieb beenden werden. Du entschuldigst und ermöglichst das pure Böse, möglicherweise weil du als privilegierter weißer Amerikaner nicht zu seinen Opfern gehörst. Nur wenn wir das Böse beim Namen nennen und Wut und Abscheu gegenüber seinen Tätern (die nichts Besseres verdienen) schüren, können wir eine Massenbewegung mobilisieren, um dem Völkermord ein Ende zu setzen.

Antisemitischer Trottel: Charles, es ist traurig, dass auch du der Pro-Hamas-Propaganda zum Opfer gefallen bist. Die sogenannten „palästinensischen Rechte“ sind nichts anderes als verschleierter Judenhass. Was ist mit deinem kritischen Verstand passiert? Israel ist von Feinden umzingelt, die geschworen haben, die Juden von der Erde zu tilgen. Das steht in der Charta der Hamas. Das haben die iranischen Führer gesagt. Die islamische Lehre besagt auch, dass es einem Muslim verboten ist, mit einem Juden zu verhandeln, es sei denn, es handelt sich um eine List. Der Islam ist eine Religion des Hasses, des Bösen. Mach dir nichts vor und täusche um Gottes Willen nicht andere. Deine Friedensappelle spielen nur einem unversöhnlichen, bösartigen Feind in die Hände.

Beide Kritiker sind sich über das grundlegende Problem einig: miese Menschen. Sie sind sich lediglich uneinig über deren Identität. Die erste Kritik beruht auch auf einem weit verbreiteten Missverständnis: dass jeder, der nicht mit Hass reagiert oder nach Bestrafung ruft, nicht verstehen kann, wie abscheulich die Verbrechen sind, und dass er damit einverstanden sein muss, dass sie weitergehen.

Aber der Grund, warum ich zu Mitgefühl aufrufe, ist genau das Gegenteil — weil ich glaube, dass diese Gräueltaten geschehen und dass Mitgefühl — das Verständnis für das Warum — der einzige dauerhafte Weg ist, sie zu stoppen. Verstehen heißt nicht entschuldigen.

Noch einmal: Es gibt tatsächlich „miese Menschen“, damit meine ich Menschen, die so soziopathisch oder narzisstisch sind, dass sie kaum Aussicht auf Besserung haben, insbesondere solange sie Macht über andere haben. Sie sind jedoch wenige, eine winzige Minderheit. Es gibt keine Gesellschaft von Soziopathen, es gibt nur soziopathische Gesellschaften, in denen historische Bedingungen die fast universelle „Wir-Die“-Programmierung der Menschheit verstärken.

Beim „Wir-Die“-Denken geht es nicht nur um Unterschiede. Das „Wir“ besteht aus vollständigen Menschen, das „die anderen“ umfasst diejenigen, denen eine wesentliche menschliche Eigenschaft fehlt (Moral, Intelligenz, Tugend, Anstand). Deshalb werden sie so oft mit Tieren verglichen. In dem Maße, in dem wir andere beurteilen und verurteilen und denken, dass sie aus schlechterem Stoff sind als wir selbst, nähren wir die Energie, die ihren vollsten Ausdruck im Völkermord findet. Soziopathische und narzisstische Führer spiegeln uns in extremer Form die alltägliche Entmenschlichung derer wider, die wir verurteilen. Sie sind eher Symptom als Ursache der Schrecken, die sie verursachen.

Das „Wir-Die“-Denken erklärt, warum nicht-schlechte Menschen schlechte Dinge tun.

Kehren wir nun zu der quälenden Frage zurück: „Warum tun sie das? Wie kann das vor aller Augen geschehen?“ Die eigentliche Frage lautet: „Warum sind so viele nicht bereit, das zu sehen?“

Ja, in der Tat. Warum ist es so schwer zuzugeben, dass man sich geirrt hat? Warum ist es so schwer zuzugeben, dass man Schaden angerichtet hat oder auf der Seite der Unterdrücker stand? Der Hauptgrund, der vielen Formen der kognitiven Verzerrung zugrunde liegt, entspringt einer ursprünglichen Unsicherheit, die in unserem „Wir-die anderen“-Denken verankert ist.

Sie lautet: Vielleicht haben wir alles falsch verstanden. Vielleicht sind wir die schlechten Menschen. Vielleicht sind wir weniger als vollständig menschlich, vielleicht mangelt es uns an wesentlichen menschlichen Eigenschaften. Menschen haben eine instinktive Angst davor, in die Opferklasse der Unter-Menschen gesteckt zu werden, die „Anderen“ zu sein, die auf dem Scheiterhaufen verbrannt, gelyncht, ethnisch gesäubert oder ausgerottet werden. In einem Klima, in dem die eine oder andere Seite in die Kategorie der minderwertigen Menschen fallen muss, werden wir hartnäckig darum kämpfen, dieses Schicksal zu vermeiden. Wir werden alles tun, um zu beweisen, dass wir Recht haben und gut, gerecht, ethisch und moralisch sind.

Dieses geistige Klima muss sich ändern, wenn wir jemals das Versprechen „Nie wieder“ einlösen wollen.

Wenn wir uns auf die Übereinkunft einigen können, dass auch gute Menschen an schrecklichen Dingen beteiligt sein können, dann können wir die Scham überwinden — die uns daran hindert, die schrecklichen Dinge zu sehen, die wir tun.

Denn diese bedeuten nicht mehr, dass wir keine guten Menschen sind. Wir sind immer noch der Liebe würdig. Wir werden nicht ausgestoßen werden. Wir werden nicht den Platz der anderen einnehmen, die wir verfolgt haben. Und der endlose Kreislauf der Geschichte wird enden.

Es geht nicht nur um den Völkermord in Gaza. All das Leid, das Macht den Menschen und dem Planeten zufügt, geschieht hinter einem Schleier der Unwissenheit. Das Narrativ dieser Unwissenheit entwertet, entmenschlicht und entweiht alles, was es zerstört. Aber wenn man einen Einwanderer, der bei einer Razzia der Einwanderungsbehörde festgenommen wurde, oder einen Bewohner Gazas, ein Gangmitglied, einen Süchtigen, eine Sozialhilfeempfängerin, einen Polizisten, einen Soldaten oder irgendjemand anderen, den man in diese Kategorie gesteckt hat, fragt: „Wie ist es, du zu sein? Was ist deine Geschichte?“, dann lösen sich „Wir“ und „Die“ auf.

Man erkennt, dass ihre Geschichte auch die eigene sein könnte, wenn nicht Gottes Gnade eingegriffen hätte. Mitgefühl und Vielfalt können erblühen. Man mag immer noch gegensätzliche Interessen und Ansichten haben, aber die Bemühungen um eine Lösung finden nicht mehr in einem Vakuum der Unwissenheit statt, in der Illusion, dass das Gegenüber weniger menschlich ist als man selbst.

Das „Wir-die-Anderen-Denken“ ist immer noch tief verwurzelt. Die Leute fragen: „Was ist dann deine Lösung für Palästina?“ Ich habe keine. Oder doch, ich habe eine (ich habe sie letztes Jahr beschrieben, eine Version von „Zwei Staaten, ein Heimatland“), aber sie ist unter den gegenwärtigen Umständen völlig undurchführbar. Ohne eine Loslösung vom Wir-die-Anderen-Denken ist keine humane Lösung praktikabel und keine praktikable Lösung human.

Wir müssen daher die Grundlage ändern, die Dinge praktikabel machen. Diese Grundlage sind unsere Überzeugungen, unsere Geschichten, unsere Mythen und die unvollendete persönliche und gesellschaftliche Heilung, die ihnen Leben einhaucht. Es waren nicht einfach dumme, unwahre Überzeugungen über uns und sie, durch die wir in diese Geschichten hineingeraten sind. Dahinter liegen Traumata und ein ganzer evolutionärer Weg des Bewusstseins hin zu ihrer Überwindung.

Da das „Wir-Die“-Denken — das Muster der Ausgrenzung — so tief in unserer kulturellen DNA verwoben ist, gilt dies auch für Völkermord. Vielleicht wird dieser so enden wie der Holocaust: wo die Täter sich auf der Verliererseite eines Krieges gegen das Böse fanden und ihre Anführer unter „Nie wieder!“-Rufen zum Galgen geführt wurden.

Um einen solchen Krieg zu gewinnen, sollte man natürlich die Anhänger der anderen Seite in einem möglichst schlechten Licht darstellen. Als Monster. Als miese Menschen. Aber das würde nur diesen Völkermord beenden. Es würde nicht Völkermord als solchen beenden.

Dazu müssen wir die evolutionäre Reise des Bewusstseins vollenden, weg von Wir und Die, weg von der Trennung. Wir müssen ernsthaft daran arbeiten, unsere Verletzungen zu heilen, damit wir sie nicht als Ressentiments und Rache weitergeben. Und wir müssen auf die Avatare dieses neuen Bewusstseins hören, die immer wieder in der Geschichte auftauchen, um ihre Worte und ihren Körper für dessen Verwirklichung einzusetzen. „Vergib ihnen, Vater, denn sie wissen nicht, was sie tun.“


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Never Again? Or Again, and Again, and Again?“ auf dem Substack von Charles Eisenstein. Er wurde übersetzt von Christa Dregger und von Janet Klünder und Ingrid Suprayan korrekturgelesen. Dieser Artikel ist unter einer Creative-Commons-Lizenz (Namensnennung — Nicht kommerziell — Keine Bearbeitungen 3.0 Deutschland) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen darf er verbreitet und vervielfältigt werden.


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