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Jenseits der Verzweiflung

Jenseits der Verzweiflung

Die Welt ist brutal, ungerecht und wird von Zynikern beherrscht. Mit verzagtem Gegenzynismus kommt man dem drohenden Untergang jedoch nicht bei.

Verzweiflung überwinden
von Chris Wright

Als Linker bin ich Verzweiflung gewöhnt. Wie oft habe ich nicht – wie viele andere, die einen Hauch Menschlichkeit haben – allein in meinem Zimmer gesessen und bekümmert über die Erderwärmung gelesen, entsetzt ob der sengenden Hölle, die wir unseren Nachkommen zurücklassen?

Wie oft habe ich vor Wut und Abscheu erstarrt dagesessen und über die Straflosigkeit der „Kriegsherren“ nachgedacht, die durch einen Haufen Geld vor der wohlverdienten Strafe für ihre völkermörderischen Kriegsspiele geschützt sind – denn für sie sind es nur bürokratische, sehr ernste Spiele, die kluge politische Manöver erfordern, mit dem einzigen Ziel, noch mehr Macht und Reichtum an sich zu reißen.

Auf der einen Seite stehen die Henry Kissingers (die natürlich ewig leben) und Barack Obamas, die auf Cocktail-Partys ihre Runden drehen; sie werden von übelriechenden, machtanbetenden, unmoralischen Schleimern und im Gruppendenken gefangenen Menschenherden gefeiert und bei ihrem sozialen Aufstieg trotz unsäglicher Verbrechen nicht im Geringsten von ihrem Gewissen gestört.

Auf der anderen Seite stehen ihre Opfer: Tausende junge Leute, als Söldner nur ein Instrument der Mächtigen, die ihren letzten Atemzug in schlammigen Blutpfützen auf dem Schlachtfeld aushauchen; Kinder, die an den verstümmelten Körpern ihrer Mütter festhalten und auf der Straße nach deren Armen suchen, die bei einer Bombenexplosion abgerissen wurden; Väter, die nach Hause kommen, um festzustellen, dass ihr Haus und ihre Familie nicht mehr existieren.

Wie kann man nicht für immer daran verzweifeln, sowie an der Absurdität und Bedeutungslosigkeit einer solchen tragischen, grotesken Welt?

Trotz alledem!

Es ist sehr einfach, keinerlei Hoffnung zu haben. Oder sich vor der Dummheit und Bösartigkeit des Spätkapitalismus misanthropisch in die eigene Innenwelt zurückzuziehen. Alles deutet fast überall scheinbar auf den Untergang hin. Man muss nicht jedes Anzeichen erneut interpretieren. Andere haben es bereits in wortgewandter Weise getan, und man muss nur die täglichen Nachrichten lesen oder über die Massenobsession mit Popstars und neuesten Videospielen sinnieren, um Gefahr zu laufen, endgültig den Glauben an die Menschheit zu verlieren.

Doch dann, wenn ich mich von der überwältigenden Finsternis abwende, durchdringt ein Gegenimpuls meine Gedanken, und ich denke an Goethe und Nietzsche: Lebensbejahung ist trotz allem eine tiefere Wahrheit als Pessimismus und Verzweiflung. Letzteres ist genau das, was man – wenn es nach den Chefbürokraten, den Beherrschern der Welt, geht – fühlen soll, damit man nichts unternimmt und sie reicher werden lässt. Kaum eine andere Stimmung ist weniger revolutionär als der Zusammenbruch des Willens, Apathie oder absolute Hoffnungslosigkeit. Es ist anspruchsvoller, produktiver, und in gewisser Weise auch schöner, ja gar moralischer, zu bejahen und nicht nur zu verneinen.

Ein Hoch auf die klassische Musik

Und so finde ich es wichtig, beim trostlosen Lesen Pausen einzulegen und mich an kleine Freuden und an Hoffnung zu erinnern. Es ist notwendig, seine Willenskraft regelmäßig zu erneuern – ein Imperativ, dem ich persönlich nur dadurch gerecht werde, dass ich meinen Kopf von allem befreie, was auch nur entfernt bürokratisch, institutionell und autoritär erscheint. Es fällt mir zum Beispiel schwer, einer fröhlichen irischen Geige zu lauschen, dabei an draußen in der Frühlingsluft tanzende, schreiende, in die Hände klatschende Bauern zu denken, ohne dabei tiefe Dankbarkeit dafür zu empfinden, dass ich noch lebe.

Mir diese Szene nur vorzustellen, eine ländliche Antithese zu Bürokratie und Autorität, reicht, um Verachtung und Verzweiflung verfliegen zu lassen. Oder ich lege Beethoven auf, den größten aller Lebensbejaher, sei es nun in einer seiner überschäumenden oder eher bezaubernd lyrischen Stimmungen.

Oder Schubert oder Mozart. Keine Musikrichtung ist wohl linker als die Klassik mit ihrer erhabenen Großartigkeit, ihrer emotionalen Zugänglichkeit, ihrer demokratischen Attraktivität für alle Menschen zwischen 1 und 101 Jahren, ihrem rationalistischen Geist, ihrem Humanismus, ihrem Wesen, das das genaue Gegenteil ist von warenähnlich, künstlich, roboterhaft und profitorientiert. Nichts ist weniger besudelt als Mozart.

Das ist der Geist, der die Linken animieren sollte und dies auch tut – dieser freiheitsliebende, anarchistische Geist purer kreativer Individualität. Der natürlich mit einem kreativen und demokratischen Kollektiv einhergeht, denn in einer wirklich demokratischen Gesellschaft ist „die freie Entwicklung des einzelnen die Voraussetzung für die freie Entwicklung aller“.

Alles, was Hoffnung und Lebensfreude zerstört, sollten wir den Rechten überlassen, denn schließlich definiert sich die Rechte durch ihr Bekenntnis zum Menschenverachtenden:

Hierarchie, Kapitalakkumulation, Vorrang von Profit vor Menschenliebe, Privatisierung und extreme Vereinzelung, Umweltzerstörung, Hass auf andere, engstirniger Nationalismus, imperialistische Gräuel et cetera. Apathie und Hoffnungslosigkeit sind angemessene rechte Emotionen; Bürokratie und institutionelles Denken sind rechte Phänomene (ungeachtet der üblichen reaktionären Angriffe auf die „Regierungsbürokratie“). Freude und Empathie sind den Linken eigen, weil sie zutiefst menschlich, verbindend und stärkend sind.

Mehr Empathie wagen

Bei der Aufgabe, sich rechter Charakteristika zu entledigen und einen positiven Blick auf die Zukunft aufrechtzuerhalten, ist es auch wichtig, Unvoreingenommenheit zu pflegen. Von den Rechten erwartet man Voreingenommenheit, nicht nur wegen der grundsätzlichen Abschottung einer „autoritären Persönlichkeit”, sondern auch wegen der Quintessenz reaktionärer Ideologien, die (explizit oder implizit) dem Gedanken der Hierarchie und Autorität verpflichtet sind.

Die linke Wertschätzung von Vernunft, Dialog, Demokratie, Empathie dagegen sollte auch die Bereitschaft mit sich bringen, das Positive an entgegengesetzten Sichtweisen zu berücksichtigen, anstatt sie reflexartig anzugreifen. Es ist daher eine traurige Ironie, dass innerhalb der Linken so viel Borniertheit und Sektierertum vorherrschen.

Ob nun Marxisten, Anarchisten, Leninisten, Feministen, Linksliberale oder eine andere der unzähligen Gedankenschulen – Feindseligkeit gegenüber potentiell konkurrierenden Ideen ist bedauerlicherweise weit verbreitet.

Dass Marx und Engels selbst zutiefst sektiererisch waren, darf nicht als entlastendes Argument gelten. Man muss gerade daran denken, wie viel Schaden das Sektierertum der Neuen Linken in den 1960er Jahren hinzufügte, von der Alten Linken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz zu schweigen, um zu begreifen, dass dieses Verhalten ziemlich dämlich ist.

Mehr Offenheit gegenüber anderen nicht-reaktionären Strömungen und mehr Willen zur Zusammenarbeit mit ihnen bedeuten mehr politische Effizienz, mehr Solidarität und somit mehr „Ermächtigung“ sowie einen weniger verengten, kleinkarierten, bitteren, misanthropischen individuellen Charakter und eine weitläufigere, großzügigere Sicht auf die Menschheit und das Leben selbst. Übrigens ist eine solche Haltung ohnehin ganz grundsätzlich die Verwirklichung einer linken Moral.

Teilen, Helfen und Kooperieren

Eine andere Möglichkeit, Verbitterung und Verzweiflung zu überwinden, liegt darin zu würdigen, in welchem Ausmaß linke Ideale bereits Einzug in den Alltag gefunden haben. Denn die menschliche Natur hat eine feste anarchistische und kommunistische Komponente (vergleiche Kropotkins Klassiker „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“).

Wie David Graeber argumentiert: Wenn Kommunismus bedeutet‚ „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“, dann ist das das Fundament menschlicher Geselligkeit, „das Rohmaterial für die Gesellschaft, die Anerkennung unserer ultimativen gegenseitigen Abhängigkeit, welche die ultimative Substanz sozialen Friedens ist“.

Der einzige Grund, warum eine Gesellschaft überhaupt funktioniert, besteht darin, dass sie von einem engen antikapitalistischen Netz aus Teilen, Helfen und Kooperieren zusammengehalten wird, in dem jeder einem Bedürftigen im Rahmen seiner Möglichkeiten etwas gibt, und sei es nur ein Rat, Mitgefühl, Hilfe bei einer Aufgabe, oder ein wenig Geld. Ein Linker zu sein bedeutet letztendlich, diesen „Basiskommunismus” zu einem bestimmenden Prinzip sozialer Organisation erheben zu wollen – nicht um seiner selbst willen, sondern weil das Ziel von Freiheit und Macht für das Volk damit näher rücken würde.

Rousseau mag sich darin geirrt haben, dass Menschen von Natur aus „gut” sind (ebenso wenig sind sie per se schlecht – sie sind beides), aber zumindest können wir in Dankbarkeit spontanen Kommunismus und mitfühlende Freude würdigen, die fortwährend der Tiefe der menschlichen Psyche entspringen.

Umbruch liegt in der Luft

All diese Überlegungen und Freuden helfen mir, keine beharrlich triste Stimmung aufkommen zu lassen. Aber in der Ära von Donald Trump ist ein neuer Faktor hinzugekommen – echte Hoffnung, dass eine breite Gegenreaktion auf den Neoliberalismus aufkommt. Endlich! Nach 40 Jahren wird es aber auch Zeit. Und da der Neoliberalismus einfach nur gedopter Kapitalismus ist, wird der Kapitalismus selbst für mehr und mehr Menschen zum Angriffsziel – zum Entsetzen „moderater Demokraten“.

Die einst lebhafte Mitte zerfällt, während semi-faschistische Rechte und semi-sozialistische Linke aus der Asche steigen. Ein solcher historischer Moment birgt sicherlich Risiken, bietet aber auch Möglichkeiten, die im ruhigen Fahrwasser „zentristischer“ Zeiten nicht gegeben waren. Geschichte lehrt uns ja auch, dass sich schneller Fortschritt eher in Krisenzeiten vollzieht, wenn Menschen radikalen Ideen gegenüber offen sind. Die Große Depression in den USA ist ein eindeutiges Beispiel, denn daraus entstanden Volksbewegungen, die sowohl den Wohlfahrtsstaat als auch flächendeckende Industriegewerkschaften hervorbrachten.

Der nächste, unvermeidliche wirtschaftliche Zusammenbruch wird soziale Bewegungen auf die gleiche Weise wachrütteln und den „Widerstand“ stärken und radikalisieren, der gegenwärtig in den Kinderschuhen steckt.

Wir treten in der Tat in eine Ära ein, deren historische Bedeutung ihresgleichen sucht. Wie ich in „Worker Cooperatives and Revolution: History and Possibilities in the United States“ geschrieben habe, wurde die postkapitalistische „Revolution“ – wie langwierig und global sie auch ausfallen mag – erst im 21. Jahrhundert auf die politische Tagesordnung gesetzt.

Marx, der Staatskapitalismus und Wohlfahrtsstaat nicht vorhersehen konnte, irrte sich in der Zeitspanne. Aber die Grundidee einer kolossalen finalen Konfrontation zwischen dem Kapital und der Mehrheit der Menschheit war korrekt. Nur wird diese „finale“ Konfrontation über Generationen andauern. Und sie begann nicht vor hundert Jahren, sondern setzt erst jetzt ein. Und auf dem Spiel steht so viel, dass diese Epoche als die Klimax der Menschheitsgeschichte gelten kann.

Wir wissen nicht, wie der Kampf ausgehen wird. Wir können ihn nur führen und historische Tendenzen analysieren, die daraus erwachsen. In der Zwischenzeit müssen wir der Hoffnungslosigkeit die Stirn bieten, indem wir uns vergegenwärtigen, dass düstere Zeiten nichts Neues sind, dass Fortschritt selbst in schlimmeren Zeiten als heute erreicht wurde, dass das Leben voller Freuden und Genüsse ist, die wir zu sehr als selbstverständlich ansehen, dass es notwendig ist, sich mit allen Genossen zu vereinen, auch wenn wir in Einzelheiten unterschiedlicher Meinung sind, und dass auch Leute, die nicht oder noch nicht links sind, auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Bedürfnisse und Sympathien angesprochen werden können.

Wir tragen eine unglaubliche Verantwortung, für den Fortbestand der Spezies und des Lebens an sich Sorge zu tragen. Aber wir treten auch in eine unglaublich spannende Epoche ein.


Chris Wright ist promovierter Historiker und Autor mehrerer Bücher, darunter „Finding Our Compass: Reflections on a World in Crisis." Seine Website ist www.wrightswriting.com.


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Thoughts on Overcoming Despair. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert.


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