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Journalisten und andere Märchenerzähler

Journalisten und andere Märchenerzähler

Das Stern-Magazin lieferte ein Interview mit Ulrike Guérot, einer Geächteten — wer in dem Stück allerdings wirklich herabgewürdigt wurde, war der Journalismus.

Zuletzt gab der Stern Ulrike Guérot eine Stimme. Er tat jedenfalls so. Die Politologin wurde in einer Reportage von Stephan Maus ausgiebig zitiert. Maus und Guérot saßen in Charlottenburg zusammen, so leitet der Journalist seinen Artikel ein. Die Überschrift seines Machwerks verspricht zu erläutern, wie die Politikwissenschaftlerin zu einer Geächteten wurde. Dabei macht Maus aber genau das: Er ächtet seine Gesprächspartnerin, lässt sie mit laxen Nebensätzen und eigenwilligen Interpretationen dumm aussehen.

Gefühliger Journalismus

Maus gelingt es immer wieder, seine Befindlichkeiten einzustreuen — natürlich gibt er sie als journalistische Beobachtungsgabe aus: etwa wenn er seiner Gesprächspartnerin zu verstehen gibt, sie würde „rauflustig“ schauen. Natürlich unterstellt er ihren diesen Blick beim Thema Corona. Die Pandemie führte ohnehin dazu, dass die „originelle Ulrike Guérot“ nicht mehr existierte — jene nämlich, die auf „europäischen Podien und Panels“ über den Kontinent tingelte. Eine neue Guérot wurde geboren.

An einer Stelle interpretiert sich Maus dumm und dämlich. Guérot erzähle von ihrem Sohn, schreibt er. Der sei Arzt in Paris. Mutter und Sohn haben sich während der Pandemie gestritten, fährt sie fort. Guérot konkretisierte, ihr Sohn sei Kniechirurg, was den Reporter dazu verleitet zu behaupten, sie erwähne seine medizinische Fachrichtung nur, „um seine Pandemiekompetenz etwas zu relativieren“. Was weiß er über die Absichten eines Menschen, der ganz normal mit ihm ein Gespräch führt? Steht ihm das zu?

Und überhaupt: Was genau ist Pandemiekompetenz? Etwa das, was die Bundesregierung an Grundgesetzunvereinbarkeiten aus dem Boden stampfte?

Immer wieder gibt sich Maus gefühlig, unterstellt seiner Gesprächspartnerin Absichten oder Empfindungen. Er hätte die Form eines Interviews wählen können, hat sein Treffen mit Ulrike Guérot aber zu einer scheinbar objektiven Reportage umfunktioniert. Als er die Zeit der Corona-Proteste anreißt, schreibt er etwa ganz „objektiv“, dass in jenen Tagen „die erste Querfront der Bundesrepublik“ entstanden sei. Man müsste an dieser Stelle konkreter nachfragen, wie sich eine Querfront definiert. Es gibt allerlei Begriffsauslegungen, doch die wenigsten sehen einen Zusammenschluss über weltanschauliche Fronten hinweg als Querfront: Die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung behauptet zum Beispiel, es handle sich dabei um die „Übernahme traditionell linker Themen und Symbole durch Rechtsextreme“. Was grundsätzlich falsch ist: Die Querfront übernimmt nicht einseitig, sie schließt zusammen.

Diesem Sinne nach hat die politische Landschaft der Bundesrepublik schon einige Querfronten erlebt. Man nehme nur mal die Große Koalition von 1966, als links und rechts zusammengingen. Stephan Maus blendet solche Betrachtungen selbstverständlich aus, sie passen nicht ins Konzept seiner Reportage. Es geht ihm und der Story nicht um Fakten, sondern um Gefühle, die geweckt werden sollen. All das in einem Ton, der nur oberflächlich als neutral erachtet werden kann.

Bissige Neutralität

Ulrike Guérot spreche mit allen, schreibt Maus außerdem. Sie erkläre das lapidar damit, dass Berührungsängste nicht ins Konzept der Demokratie passten. Demokratie funktioniere dergestalt, dass man eben mit allen das Gespräch suchen müsse. An einer Stelle äußert sie sich kritisch zur AfD. Maus hat aber wieder mal ein Gespür: Sie klinge nur kritisch, sei es gar nicht. Warum? Weil sie natürlich auch mit Leuten aus jener Partei spricht. Kontaktschuld nennt man das heutzutage: Reporter verwenden den Begriff gemeinhin nicht — sie konstruieren Kontaktschuld jedoch mit genau solchen Formaten.

Dass sie wie viele im Lande an die offizielle Version der Geschehnisse um Nord Stream 1 und 2 nicht glaubt — es gibt erstaunlicherweise keine Umfragen, wie die sich Bevölkerung dazu verhält —, führt Maus auf Seymour Hersh zurück. Allerdings seien die Behauptungen des US-amerikanischen Starreporters nie bewiesen worden. Das klingt bei Maus so, als sei die offizielle Version, die landauf, landab kursiert, bereits verifiziert worden. Das ist sie natürlich nicht, im Gegenteil, sie strotzt vor Ungereimtheiten und Lücken. Man darf annehmen, dass Stephan Maus das auch weiß. Aber warum seine Leserschaft mit unnötigen Fakten triezen?

Der Reporter gibt sich über den ganzen Text hinweg wie ein neutraler Beobachter, der nur die logischen Schlüsse zieht — jene nämlich, die jeder Beobachter ziehen müsste. Er spielt sich als objektive Instanz auf, als unvoreingenommener und vorurteilsloser Überbringer einer Botschaft, die nur so überbracht werden konnte, wie er es tat. Seine Interpretationen sind dabei nicht etwa Produkte einer persönlichen Einfärbung, sondern zwangsläufige Schlussfolgerungen, an denen man einfach nicht vorbeikommt.

Auf der Stern-Autorenseite von Stephan Maus liest man, dass er sich für alle interessiere, „die eine Geschichte zu erzählen haben“. Ob das grundsätzlich zutrifft, müsste man auswerten. Im Falle Ulrike Guérots ist allerdings klar, dass diese Selbstbeschreibung nicht passt. Für ihre Geschichte hat er sich nicht interessiert; sein Interesse fokussierte sich einzig und alleine darauf, was er aus der Geschichte rausholen kann. Auch das wäre nicht verwerflich, so funktioniert dieses Handwerk. Verwerflich ist aber, dass er nicht die Geschichte nuanciert, weil er sie damit besser nachvollziehbarer machen möchte, sondern um ein Zeichen zu setzen, seine Haltung zu unterstreichen — und um das gängige Narrativ zu unterstützen.

Es ist, als ob er den Mächtigen im Lande zuruft: Seht her, ich bin einer von den Guten, die bereit sind, jene vorzuführen, die nicht ins Konzept dieses neuen Deutschlands passen.

Anatomie eines Abstiegs

Der Untertitel dieser Schmierenkomödie, die als journalistischer Artikel firmiert, lautet ganz lapidar: „Anatomie eines Abstiegs“. An sich ist diese Überschrift nicht zu beanstanden; Maus hätte tatsächlich auch eine solche Geschichte im neutralen Ton erzählen können, denn Ulrike Guérot wurde ja wirklich übel mitgespielt. Dann hätte er aber nicht den Schwenk von der vermeintlich einst „originellen“ zur heute „neuen“ Guérot machen dürfen. Alleine diese Kategorisierung lässt daran zweifeln, ob Maus hier objektiv auftrat.

Ein Abstieg vollzieht sich aber Satz für Satz, und es ist nicht der Abstieg der Ulrike Guérot. Für etliche im Lande sieht es ohnehin völlig anders aus: Diese Frau hat einen Aufstieg hingelegt. Als Stimme der Vernunft und des Anstandes, als eine der letzten Kämpferinnen für ein Land, das sich immer noch als Demokratie vorstellt, sich aber mehr und mehr in einem Gesinnungsdespotismus verliert.

Der Abstieg, den wir hier als Rezipienten bei Maus‘ Text wirklich beobachten, das ist der Abstieg des Journalismus. Er vollzieht sich ja grundsätzlich ungetrübt vor aller Augen. Der Artikel von Stephan Maus ist ein famoses Exempel hierfür.

Denn es zeigt, dass man nicht erst Lügengeschichten entwerfen muss, wie es einst Claas Relotius tat. Der erfand ja Gespräche, teilweise sogar Gesprächspartner, und legte Reportagen vor, die genau deshalb so beliebt waren: Sie waren so konzipiert, dass sie mitten ins Herz trafen — noch nicht mal in das des Publikums, sondern der eigenen Gilde. Unter Journalisten war man sich seinerzeit einig, dass Relotius ein schlechter Stilist sei, dafür aber beherzt erzählen konnte. Das umwarb die eigene Haltung, die eben nicht aus Objektivität bestand, sondern aus dem Anspruch, die Chronistenrolle zu verlassen, um das Land zu prägen und die Leserschaft zu formen.

Maus zeigt nun, dass man eben nicht ganze Textbausteine auf Fantasiebasis entwerfen muss, um die Rezipienten auf die eigene Fährte zu locken und pädagogisch zu führen. Man kann die Wirklichkeit, die sich in diesem Gespräch zwischen Maus und Guérot auf eine vielleicht ähnliche Art und Weise gezeigt hat, wie es der Stern-Text skizziert, einfach nur konjugieren und beugen, so verformen, dass am Ende ein Machwerk herauskommt, das nicht klar erstunken und erlogen ist, aber so in sich verfremdet, dass keine wahre Geschichte mehr vorliegt, sondern ein Märchen.

Deswegen sollte Maus in seine Selbstbeschreibung vielleicht noch eine Qualität aufnehmen: die des Märchenerzählers.


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