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Kollektiver Individualismus

Kollektiver Individualismus

Der Neoliberalismus versucht uns mit dem Versprechen von Freiheit zu fangen, beraubt uns aber in Wahrheit unserer Handlungsmöglichkeiten.

Der Klimawandel erscheint aus Sicht der Wissenschaftler von Bericht zu Bericht in einem immer bedrohlicheren Licht. Immer neue Warnungen werden ausgerufen. Der Tenor der Wissenschaft lautet: Wenn wir nicht ziemlich bald sehr drastische Schritte unternehmen, ist das Überleben der menschlichen Zivilisation nicht mehr zu retten.

Doch man muss nicht einmal der Überzeugung sein, dass der Klimawandel ein menschengemachtes Problem ist, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass dringend etwas getan werden muss. Es reicht ein Blick auf die Aussterberate von Lebewesen, die seit Jahrzehnten davongaloppiert. Wenn man dann noch betrachtet, wie der Mensch ganze Ökosysteme umgräbt, vergiftet, abholzt oder trockenlegt, wird klar: Wir sägen in absurder Geschwindigkeit an dem Ast, auf dem wir sitzen.

Trotz der Ernsthaftigkeit der Lage erscheinen die Maßnahmen, die dagegen ergriffen werden, dürftig: Ein Klimapäckchen, das zur Begrenzung der Erderwärmung um maximal 1,5 °C überhaupt keinen Beitrag leisten wird und das die Bundesregierung als großen Wurf feiert.

Ein bisschen CO2-Steuer, ansonsten wird die Regulierung dem „Markt“ überlassen. Statt ganz großer Schritte zu machen, wird der Weg des geringsten Widerstands von Seiten der Großindustrie beschritten. Dabei ist die Fixierung auf den Markt ein ganz entscheidendes Merkmal.

Dieser, so die herrschende Vorstellung, regelt alles für uns. Er versorgt uns zuverlässig mit allem, was wir brauchen, und wird daher auch bei der Bekämpfung des Klimawandels eine zentrale Rolle spielen. Verbunden wird dies mit der Aufforderung an den Konsumenten, doch an seinem eigenen Konsumverhalten zu arbeiten. Wer Bioprodukte konsumiert, weniger fliegt, auf den SUV verzichtet und stattdessen einmal zu Fuß geht, der gebe entscheidende Impulse an den Markt, der sich dann anhand dieser veränderten Bedürfnisse ausrichte. Das eigene Verhalten soll also dazu angetan sein, die Welt zu retten.

Das ist nichts weiter als der Umkehrschluss der Ideologie des Neoliberalismus, die seit ungefähr 40 Jahren unser Leben bestimmt. Diese Ideologie, die den Menschen auf die Funktion eines reinen Arbeiters und Konsumenten reduziert, hat die Gesellschaft gesprengt und zu nebeneinander her lebenden Individuen atomisiert. Das Dogma besagt: Jeder ist sich selbst der Nächste. Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Jeder kann alles schaffen, wenn er sich nur anstrengt. Du allein bist deines Glückes Schmied.

Das Prinzip der ständigen Konkurrenz

Indoktriniert mit diesen Überzeugungen hat sich die menschliche Gesellschaft zu einer der Konkurrenz und des Kampfes entwickelt. Wenn ich alleine für mein Glück verantwortlich bin, folgt daraus, dass mein Mitmensch meinem Glück im Wege stehen könnte. In diesem System konkurriert jeder mit jedem. Arbeitnehmer mit Arbeitnehmer um den Arbeitsplatz, die Entlohnung, darum, den einmal ergatterten Job behalten zu dürfen. Der Unternehmer konkurriert mit dem Unternehmer um Absatzmärkte und Marktzugänge. Doch auch Konsumenten konkurrieren fleißig miteinander, beispielsweise um Statussymbole, also um Waren, um Ansehen, das sich im Eigentum ebenso ausdrückt wie im Job. Beständig überprüft jeder sich selbst und andere darauf, welchen Nutzen er für die Gesellschaft hat.

Damit einher geht der Zwang zur ständigen Selbstoptimierung. Wenn jemand im selben Unternehmen mehr Geld erhält als ich, folgt daraus, dass ich nicht gut genug bin. Ich muss mehr arbeiten, weniger Urlaub machen, dafür mehr Überstunden leisten.

Dieses Prinzip der ewigen Konkurrenz und des Individualismus wird nun übertragen auf ein fundamentales, gesellschaftliches Problem. Klimawandel und ökologische Zerstörung sollen nun Angelegenheiten des individuellen Verhaltens sein. Man muss nur „besser“ konsumieren, und schon lösen sich alle Probleme in Luft auf, so die Ideologie. Sprich: Auch hier setzt sich der Zwang zur Selbstoptimierung fort. Auch hier erwächst eine neue Form der Konkurrenz, in der sich jener gut fühlen kann, der auf Fleisch verzichtet, keinen SUV fährt, im Biomarkt einkauft. Derjenige, der sich das nicht leisten kann, auf sein Auto angewiesen ist, um seinen Arbeitsplatz zu erreichen, hat dann eben Pech gehabt. Er dient dem umweltbewussten Konsumenten als Negativbeispiel, an dem er sich seiner eigenen Erhabenheit versichern kann. So wie der möchte man ja nicht sein.

Dabei flüchten sich diese Konsumweltverbesserer in eine Illusion. Denn das ganze Modell stützt sich auf die Vorstellung, dass die Nachfrage das Angebot regelt. Das ist aber mitnichten der Fall. Im Kapitalismus gilt genau das Gegenteil: Das Angebot regelt die Nachfrage. Das beste Beispiel dafür hat mittlerweile beinahe jeder in seiner Hosentasche. Niemand hat tatsächlich nach dem Smartphone gefragt, dennoch wurde es angeboten und wird seitdem gekauft wie wahnsinnig. Das Geheimnis dahinter ist Propaganda, wie schon Edward Bernays in seinem gleichnamigen Werk die Tricks des Marketings bezeichnet hat. Ein Mann übrigens, der nicht nur dafür verantwortlich war, die Amerikaner für den ersten Weltkrieg zu begeistern, sondern auch der Tabakindustrie einen ganz neuen Markt zu eröffnen, nämlich Frauen.

Perfektes Beispiel: Automobil

Doch diejenigen, die uns etwas verkaufen wollen, machen das unter Umständen sehr vehement. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Automobil. Dieses erfreute sich Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in den USA keiner besonderen Beliebtheit. Die Straßen gehörten damals allen, vor allem also den Fußgängern. Als nun immer mehr Automobile in den Städten fuhren, kamen dadurch vermehrt Kinder ums Leben. Das führte zu Protesten von weiten Teilen der Gesellschaft. Sie demonstrierten gegen die Automobile mit dem Ziel, sie zu verbieten, übrigens unter anderem mit dem Slogan „Autos töten unsere Zukunft“, ein Slogan, der wieder erschreckend aktuell geworden ist. Diese Proteste ließen General Motors, den großen Automobilkonzern befürchten, dass die Forderungen umgesetzt werden könnten. Eine Katastrophe für den Absatzmarkt.

Was also tun? Der Automobilkonzern nutzte seinen Einfluss auf die Regierung, um das Gehen auf der Straße das sogenannte Jaywalking zu verbieten. Von nun an war es also die Schuld des Fußgängers, wenn er überfahren wurde. Gleichzeitig wurde damit der Raum in den Städten, der den Menschen zur Verfügung stand, eingeschränkt. Doch das alleine genügte nicht. General Motors, GM, bildete zusammen mit Firestone, einem Reifenhersteller, und dem Ölkonzern Standard Oil eine Gesellschaft, die in vielen Städten der USA die Straßenbahnbetreiber aufkaufte, nur um die Bahnen dann stillzulegen und zu verschrotten.

Was also macht der durchschnittliche Amerikaner, der einen weiten Weg zur Arbeit hat, wenn es keine Straßenbahnen mehr gibt und die mit allen Mitteln der Propaganda ausgestattete Werbung ihm das Automobil als schnelles Fortbewegungsmittel präsentiert? Die Nachfrage regelt also nicht das Angebot, es ist genau umgekehrt.

Damit aber fällt die Idee des individuellen Konsums, der die Welt retten solle, vollkommen in sich zusammen. Wenn die Nachfrage das Angebot nicht bestimmt, dann verändert auch das Konsumverhalten nichts. Zudem nutzen die meisten Unternehmen das neu entdeckte ökologische Bewusstsein für Greenwashing, also für Veränderungen, die sich den Anschein des Ökologischen geben, bei näherem Hinsehen aber alles andere als umweltfreundlich sind. Wir sind gefangen in einem kollektiven Individualismus, der nichts bewirken wird.

Doch das ist kein Unfall, sondern eine bewusst gesäte Ideologie. Wenn jeder Einzelne seines Glückes Schmied ist, dann ist er auch dafür verantwortlich, wenn er „scheitert“ und in Armut versinkt. Auf diese Weise wird jede Schuld vom kapitalistischen System, das auf Ausbeutung beruht, abgelenkt. Genauso verhält es sich bezüglich des Klimawandels und der ökologischen Zerstörung. Wenn die Natur zerstört wird und das Klima sich erwärmt, dann ist der Einzelne der Schuldige, denn er hat nicht genug Bioprodukte gekauft. Die Schuld wird damit vom wahren Verursacher abgewälzt.

So rechtfertigen sich Vertreter der Wirtschaft stets damit, dass sie ja nur produzierten, was nachgefragt würde. Mit anderen Worten: Sie können doch gar nichts für den egoistischen Konsumenten, sind hilflose Gefangene der Konsumwünsche anderer. Die Frage ist hier aber: Was war zuerst da, das Produkt oder der Konsumwunsch? Das Beispiel des Smartphones beantwortet diese Frage wohl. Zudem zwingt niemand den Unternehmer, ein bestimmtes Produkt herzustellen. Er tut es, weil er sich vom Verkauf Profite erhofft.

Damit ist der wahre Schuldige aber gefunden: Es sind die Unternehmen, die auf der Suche nach Absatzmärkten und günstigen Ressourcen die Welt in Brand stecken. Angetrieben werden sie von einem absurden Finanzsystem, in dem einige wenige Menschen ihr Vermögen zu vermehren suchen. Dieses Finanzsystem hat mit dem durchschnittlichen Menschen aber nur noch insoweit etwas zu tun, als dass es diesen als Manövriermasse im herrschenden System betrachtet. Manövriermasse, die entweder mehr arbeiten oder fleißiger konsumieren soll. Der Antrieb dafür ist nicht die reine Gier, sondern der Wachstumszwang des Systems. Das schließt jedoch nicht aus, dass das System strukturell die Gier fördert und belohnt.

Permanentes Wachstum als Dogma

Die Ursachen für Klimawandel, ökologische Zerstörung sowie jedes andere gesellschaftliche Problem liegen also im System selbst. Es ist ein System, das immer weiter wachsen muss, immer mehr Ressourcen verschlingt und sich immer weiter ausbreitet. Dieses kann auch nicht grün angestrichen werden, wie derzeit versucht wird. Elektroautos, Windräder, E-Scooter, all das sind nur neue Absatzmärkte, die erschlossen werden sollen. Die Herrschenden nutzen den Klimawandel dazu, weitere Profite zu generieren. Dies geschieht aber auf Kosten Anderer und mit Folgen, die für die Umwelt zur Katastrophe werden. Die Förderung der Ressourcen verwüstet ganze Landstriche und kann auch, wie mutmaßlich derzeit in Bolivien, zu einem politischen Umsturz führen.

Angesichts der überwältigenden Macht dieses Systems ist der individuelle Konsum völlig unbedeutend, ja, es liegt nicht einmal in der Hand des Konsumenten, was ihm angeboten wird. Er ist nur dazu verdammt, aus einer Reihe gleichartiger Produkte jenes zu wählen, das die grünste Verpackung hat, und muss dafür am Ende sogar noch mehr bezahlen.

Es ist das System als solches, das alle unsere Probleme grundlegend verursacht, und so muss dieses System verschwinden. Das werden wir in Zukunft sowieso erleben, ob wir es aktiv herbeiführen oder warten, bis es von alleine untergeht. Die Ressourcen werden schon jetzt knapp, der Klimawandel wird weitere, gesellschaftliche Umschwünge mit sich bringen, von Ernteausfällen bis hin zu Migrationsbewegungen unvorstellbaren Ausmaßes.

Wir sind der Wandel

Die Kritik am Dogma des kollektiven Individualismus soll allerdings nicht zur Untätigkeit verleiten. Nach dem zuvor Beschriebenen könnte man zu der Ansicht gelangen, dass wir uns alle zurücklegen und auf den Wandel warten müssen, den Politik und Wirtschaft einleiten. Das wird jedoch nicht passieren. So lange das herrschende Modell Profite abwirft, werden diese Akteure krampfhaft an ihm festhalten, egal, wie viele Millionen Opfer es noch kosten wird, egal, wie groß die Migrationsbewegungen, die Hungersnöte, wie verheerend die Kriege sein werden. Der Wandel kann daher nur von unten kommen. Damit sind wir alle gefordert, etwas zur Verbesserung der Situation beizutragen, und das nicht durch unseren Konsum, sondern durch tatsächliches Handeln.

Wenn wir die schlimmsten Katastrophen verhindern wollen, sofern sie überhaupt noch zu verhindern sind, müssen wir uns aus unserer Vereinzelung lösen, uns zusammentun und gemeinschaftlich noch sehr viel aktiver werden. Wir müssen nicht nur gegen das herrschende System vorgehen, sondern vor allem Alternativen aufbauen und uns miteinander vernetzen. Der Beitritt zu einem Netzwerk solidarischer Landwirtschaft oder Selbstversorgung bewegen weit mehr, als aus den Regalreihen im Supermarkt das teure Ökoprodukt zu kaufen.

Der Grund, aus dem die meisten Menschen so inaktiv sind, ist, dass sie sich in Sicherheit wiegen. Die meisten haben einen ganz angenehmen Platz im System ergattert, viele einen festen Job, der ihnen Verpflichtungen auferlegt. Die Folgen des Klimawandels sind für sie eher abstrakter Natur, etwas, das irgendwann einmal vielleicht über uns hereinbricht. Doch es ist eine illusorische Sicherheit, vergleichbar mit den Passagieren an Bord der Titanic, die sich nach dem Rammen des Eisberges von dem spielenden Orchester haben beruhigen lassen. So lange die Musik noch spielt, kann es ja noch nicht so schlimm sein.

Und die Musik spielt. Sie spielt als Netflixserie, als Normalität der Arbeit, Schule oder Uni, in Form des Black Fridays, des Weihnachtsstresses, des Glühweins auf dem Weihnachtsmarkt. All das wird unterstützt von den Botschaften des kollektiven Individualismus. Wenn du nur die veganen Lebkuchen isst, den Bioglühwein trinkst, dann wird alles gut.

Niemand sollte sich allerdings von der bunten Konsumwelt blenden lassen. Hinter den Kulissen lauern nicht nur Ausbeutung und Unterdrückung, sondern wird das Überleben der Menschen und ihrer Mitwelt in Frage gestellt.


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