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Krieg den Alten

Krieg den Alten

Wie wichtig Oma und Opa waren, merkt man erst, wenn sie tot sind und ihre Enkel nicht mehr davor warnen können, sich in einen neuerlichen Krieg zu stürzen.

In der letzten Zeit denke ich oft an meine Großmutter. Gestorben ist sie 2015 — der Krieg war ihr immer noch präsent, sie konnte ihn nie vergessen. Das heißt nicht, dass sie so stark traumatisiert war, dass sie kein bürgerliches, kein friedfertiges Leben mehr leben konnte. Außer man würde den Drang nach Harmonie und die immer angestrebte Abwesenheit schlechter Nachrichten als ein Trauma sehen wollen, das ein gewöhnliches Leben behindert. Sie erzählte mir häufig von dem, was ihr — und vielen anderen ihrer Generation — widerfuhr.

Im Keller saßen sie, über ihnen stürzten Teile ihres Wohnhauses ein, fortwährend vernahmen sie Detonationen einige Meter über ihren Köpfen, der Kalk rieselte von den Decken auf sie herab. Die Kinder weinten und die Mütter versuchten, dies zu unterdrücken.

Denkt man in so einer Bombennacht noch an den Geliebten, an den Gatten, der vielleicht nie wieder zurückkehrt? Oder wird man sich selbst die Nächste und das Schicksal anderer wird dabei zur Randnotiz?

Sie starben alleine — nun sterben wir alleine

Gefragt habe ich sie das nie — vermutlich war ich zu jung für profundere Fragen. Das ärgert mich jetzt, da ich diese Zeilen tippe. Denn mir wird gewahr, welche Gelegenheit ich verpasst habe. Sie fehlt mir, diese erzkatholische Frau, die sicher immer auch ein Stück weit im Gestern steckenblieb, die in ihren letzten beiden Lebensjahrzehnten die Welt immer weniger verstehen konnte und sich manchmal in einer Spießigkeit einigelte, die für mich Jungen nicht ganz nachvollziehbar, ja auf mich geradezu exotisch wirkte. Die Oma war halt so, man rieb sich an ihr — und liebte sie doch. Dass man unter Hitler noch als Frau nachts unbehelligt auf die Straße gehen konnte, dass nicht alles schlecht war zu dessen Zeit: Auch das sagte sie bei seltenen Gelegenheiten. Heute müsste ich sie bei einer Meldestelle anzeigen, um als ehrenwerter Staatsbürger anerkannt zu werden. Und obgleich sie auch gelegentlich so sprach, nochmal: Ich liebte sie — und anders als später, als Journalisten ihren Lesern rieten, wie sie mit dem leidigen Onkel, der rechts sei oder Querdenker oder — noch schlimmer — beides zusammen, bei Familienfeiern umgehen sollen, wie sie ihn meiden und ausbooten können, so hielt man seinerzeit seine Verwandten aus.

Sie auf Linie zu bringen, sie aus dem Leben auszuschließen: Das sind die unmenschlichen Lebensratschläge der heutigen Zeit. Vor einigen Jahren hätte man niemanden geraten, den Verwandten, der hin und wieder seltsame Ansichten zum Besten gab, der eine andere Meinung vertrat, aus dem eigenen Lebenskosmos zu verbannen. Während der Pandemiejahre machte das besonders Schule: In Tageszeitungen standen Empfehlungen, solche links — oder rechts? — liegen zu lassen, die nicht auf Linie waren, ganz egal wie verwandt man auch sei: Diese Härte müsse jetzt sein, sie sei fast Bürgerpflicht. Die, die nicht unbedingt querschossen gegen die Maßnahmen der Bundesregierung, ließ die Gesellschaft aber auch alleine — speziell, wenn sie alt waren. Dann blieben sie in ihren Altenheimen, die man euphemistisch Seniorenresidenzen nennt, um sie dort eines ganz sicher nicht tun zu lassen: Residieren. Man drangsalierte sie mit einer Maskenpflicht in ihren heimischen Gefilden und Verwandte mussten „draußen bleiben“. Die Einsamkeit hatte Hochkonjunktur. Meiner Großmutter widerfuhr das nicht, sie starb zeitig genug. In jenen Jahren dachte ich oft an sie und war dankbar, dass sie schon einige Jahre vorher abberufen wurde. Denn das hätte ich dieser Frau nicht zumuten wollen.

Es mag einige in diesem Land geben, die nach dem Geständnis, wonach meine Großmutter gelegentlich nicht negativ über Hitler-Deutschland sprach, ihr genau so einen einsamen Lebensabend gewünscht hätten. Überhaupt konnte man sich des Eindruckes nicht entziehen, dass die isolierten Altenheime auch als eine Form der Strafe betrachtet wurden — als Akt der Rache der jüngeren, durch die Pandemie enthusiasmierten Mitläufer. Denn schon vorher entstand in der Öffentlichkeit eine Tendenz, das Alte als Problem zu betrachten.

Die Alten wären angeblich für die Probleme der Zeit nicht sensibel genug, ihre Generationen hätten die Erde gar an den Abgrund gebracht. Alles, was „die Zeiten überdauert“ hat, schien suspekt zu sein. Wer das Betagte aber so beäugt, wer darin nicht mehr erblickt als Überlebtes und Vorsintflutliches, der ist freilich auch nicht mehr offen für die Berichte der Alten, für deren Leidensgeschichten aus Kriegszeiten.

Wer die Alten nicht mehr ehrt, weil er sie verdammt, der wirft auch deren Weisheit weg und ignoriert deren Erfahrungsschatz.

Tomatensuppe auf Gemälde

Es ist also kein Wunder, dass wir uns als Gesellschaft in eine Situation hineinmanövrieren lassen, in der die Berichte der Alten keine Rolle mehr spielen. Einerseits sterben diejenigen, die noch zu erzählen hätten vom Krieg, von der Not und dem Elend. Andererseits will die Gesellschaft von den Alten, diesen Umweltsäuen, auch gar nichts mehr hören geschweige denn annehmen: Was könnten sie denn auch erzählen, was heute noch Geltung hätte? Denn in diesen Zeiten sind wir Zeitgenossen so viel weiter, wir wissen vermeintlich viel mehr als die Generationen vor uns. Was wussten die Großmütter schon anderes, als Lebenserfahrungen zu vermitteln? Aber hatten sie Haltung? Waren sie politisch aktiv, um die Welt zu einem besseren Ort werden zu lassen? Die 1950er Jahre werden heute nur als Ausbund der Lächerlichkeit dargestellt — als rückständig und ignorant. Es ist auch so bequem, mit dem Abstand von Jahrzehnten auf Zeitenläufte zu blicken. Und arrogant obendrein.

Wir erleben seit einiger Zeit einen Kampf der Claqueure der zeitgenössischen Welt gegen das, was vormals die Welt bestimmte. Den Großeltern den Kampf anzusagen, sie einsam zurückzulassen, deren Kriegserfahrung zu tilgen: Das ist nur eine Ebene dieses Krieges gegen die Welt der Alten. Sie findet sich in vielen Facetten. Die einen werfen Tomatensuppe auf die Gemälde alter Meister, um damit auf die Klimakatastrophe, deren sie sich ganz sicher sind, aufmerksam zu machen — der Applaus ist ihnen dabei sicher. In solchen Aktionen steckt mehr als der Trieb nach Aufmerksamkeit. Man riecht förmlich den Hass auf eine Welt, die aus Sicht der Aktivisten, das Produkt einer fehlgeleiteten Historie sei. Sie sei patriarchal durchsetzt gewesen, kolonialistisch ausbeutend, heteronormativ arrogant und rassistisch ohnehin: Eine solche Vergangenheit kann nur in eine Gegenwart münden, die diese Aktivisten als Hölle begreifen — mittels Nichtregierungsorganisationen und Alimentierung durch politische Parteien und staatlichen Institutionen, die sich dieser Agenda des Hasses auf das Alte angeschlossen haben, will man das Zeitgenössische von der Vergangenheit abkapseln und alles, was Tradition oder Brauchtum ausmacht, in eine Schmuddelecke stellen. Dort fristet auch der Konservatismus sein Dasein. Mittlerweile nennt man ihn rechts. Und bei den berühmten Demonstrationen gegen rechts und für die Demokratie, sind es Konservatismus und Kirche, die gleichermaßen als Feind gelten, wie gewisse Parteien, die keine Alternative sein dürften. Denn auch sie stehen für das Alte, das nicht mehr sein darf, von dem man sich entsagen muss.

Um aktueller zu bleiben: Im Ringen um die Richterstelle für jene Juristin namens Frauke Brosius-Gersdorf steckt ein Gutteil dieses Kampfes gegen das Alte. Ihre Kritiker werden als rückständig eingeordnet, als Menschen von gestern — und dieses Label soll stigmatisieren. Und das tut es auch, kaum jemand von heute will als Person betrachtet werden, die noch gestrig ist. Denn diese Einordnung degradiert einen zu einem Ahnungslosen, wertet ihn als einen, der mit einer gewissen Dummheit geschlagen ist. Als sei das Gestrige, als wäre die Vergangenheit immer nur dumm gewesen — als ob es nichts Kluges, Weitsichtiges, Alltagstauglicheres im Gestern gegeben hätte. Und was ist an dem Kompromiss, Schwangerschaftsabbrüche nur bis zum dritten Schwangerschaftsmonat und unter vormaligem Beratungsgespräch zuzulassen, so unglaublich gestrig und damit dumm? Was soll so klug sein, die Menschenwürde erst ab der Geburt anzusetzen, eine Haltung, die eben jene Frauke Brosius-Gersdorf vertritt?

Die gesellschaftliche Ressource der Altersweisheit wird abgeschafft

Man liest oft von einem Kulturkampf, der innerhalb der westlichen Staaten tobt. Der Begriff trifft sicherlich auf einer Ebene zu.

Es gibt Menschen, die traditioneller verhaftet sind und die begreifen, dass die Gegenwart ohne die Vergangenheit nicht zu verstehen ist — sie wissen, dass im Vergangenen auch Unrecht steckt. Darüber aber posthum zu richten, ist nicht nur nutzlos, sondern geschichtsvergessen.

Die Vergangenheit ist für diese Menschen nicht per se ein Unrechtsort. In der Vergangenheit wurde die Basis für unser Wissen, unsere Kultur gelegt — die zeitgenössischen „Wissenschaften“ ignorieren das häufig komplett. Mathias Brodkorb hat sich beispielsweise in seinem aktuellen, sehr lesenswerten Buch, mit „postkolonialen Mythen“ befasst und herausgearbeitet, wie einseitig die Geschichtswissenschaft den Kolonialismus beackert: Der war sicher kein Zuckerschlecken, aber dass er in Form weißer Truppen die Sklaverei nach Afrika brachte, trifft einfach nicht zu. Dennoch erzählen die führenden Völkerkundemuseen im deutschsprachigen Raum genau diese Geschichte.

Auch sie wollen das Alte stigmatisieren, die Welt von gestern als Ausdruck schlimmster Verfehlungen und Irrwege darstellen. Sie sind Teil einer spalterischen Agenda, die die Welt von morgen skizziert: Diese ist transhumanistisch, hochtechnologisch und der Mensch darin ist in der Lage, all das zu sein, was er möchte — nur politisch unzuverlässig sollte er nicht sein: So weit geht die Freiheit, alles sein zu dürfen, wonach einem ist, dann doch nicht. Dabei wird gezielt daran gebastelt, die Menschen von ihren Wurzeln und Herkünften zu isolieren. Heimatland: Auch das soll ein Wort der Alten werden, ein Wort, das in der globalistischen Weltordnung westlicher Provenienz nicht mehr nötig ist. Kulturkampf also: In den Vorgängen steckt etwas mehr, als ein Händel nur um Kultur — es geht auch um Zeit, darum wie man sie sehen darf und wer am Ende mit seiner Interpretation der Vergangenheit recht behält.

Viele Länder, die heute in unseren Gefilden als Ausbund der Dämonischen betrachtet werden, nehmen wir nur mal das Land Ungarn unter Viktor Orbán, haben verstanden, dass in der westlichen Hemisphäre ein „temporaler Kalter Krieg“ wütet — der Begriff ist der Serie Enterprise von 2001 entlehnt. Damit war ein Handlungsbogen gemeint, der einen Krieg auf verschiedenen Zeitebenen beschrieb, bei denen die Fraktionen versuchten, die Geschichte zu ihren Gunsten zu manipulieren. Der aktuelle temporale Kalte Krieg läuft ohne Zeitreisen ab, wie in jener Serie, will aber die Ressource der Altersweisheit ebenso dekonstruieren wie all das, was in der Welt unserer Vorväter geschaffen wurde und uns heute noch bereichert, also Kunst und Kultur oder eben auch Medizin, Bildung und solche Errungenschaften wie die Magna Charta und daraus resultierend die Menschenrechte. Die Aktivisten, die gegen die alte Welt agieren, folgen einer Agenda, die simuliert, dass die Menschheit nochmal neu beginnen müsse — ohne die alten Zöpfe. Sie erträumen sich eine Welt ohne Oma, eine transhumanistische Welt ohne Bindung und Herkunft. Eine kranke Welt, in der Großmutters Kriegserinnerungen nur stören beim Krieg für das Gute und Wahre und Schöne, der da dräut.


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