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Kulturkampf am Esstisch

Kulturkampf am Esstisch

Extreme gesundheitliche Vulnerabilität und inkompatible Ernährungsideologien machen gemeinsame, unbefangen eingenommene Mahlzeiten heute unmöglich.

Der Gedanke plagt. Im einen wie im anderen Fall. Der Gedanke plagt: Essen! Die da fürchtet jedes Gramm auf der Waage. Der da weiß nicht, wie er die letzten acht Tage im Monat rumkriegen soll. Der spart sich jeden Bissen vom Mund ab. Vielleicht hat die Bahnhofsmission heute ein paar belegte Brote. Vielleicht gibt es mittags was Vernünftiges im Kloster. Oder die Wärmestube hat süße Teilchen bekommen. Zumindest einen heißen Kaffee wird es geben. Für ein paar Cent.

Dreimal täglich was zum Auftischen zu haben, sollte eigentlich das Selbstverständlichste der Welt sein. In diesen Tagen. In unserem Land. Jeder sollte drei Mahlzeiten haben. Zum Start in den Tag. Um des Tages Mitte. Damit neue Kräfte gewonnen werden können. Zum Ausklang des Tages. Eine völlig geräuschlose Selbstverständlichkeit sollte das sein. Keiner besonderen Aufmerksamkeit wert. Doch nichts weniger als selbstverständlich ist das heute: Essen. Die einen haben zu wenig, um sich ausreichend zu ernähren. Die andere erheben die tägliche Nahrungsaufnahme zur ersatzweisen Religion.

Essen. Das ist was Schönes! Ein großer, runder Tisch. Darauf dampfende Schüsseln. Kartoffeln. Mit Petersilie obendrauf. Braten. Gemüse. Gläser mit Wein. Oma Grete wird heute 80! Die ganze Meute ist mal wieder beieinander. Kinder und Enkel. Tanten. Cousinen. Angeheiratete Verwandte. Mia, noch im Kinderwagen, das jüngste Meutenmitglied, wird zu Beginn gebührlich bestaunt. Einen ganzen Nachmittag und einen ganzen Abend sitzt man zusammen, tafelt, redet und lacht.

Einer zupft zwischendurch auf der Gitarre. Einer spielt mal kurz auf dem Klavier. Werner hat heute leider seine Mundharmonika vergessen. Schade! Je mehr Wein, umso lebhafter die Gespräche. Drüben wird es an einer Ecke des Tisches mal kurz ein bisschen laut. Hans, der Wichtigtuer, provoziert wie immer. Dann springt Onkel Gregor ein und dämpft die Gemüter. Hans weiß: Spurt er nicht, fliegt er raus. Hans schenkt sich noch mal Wein nach. Nimmt noch mal was von Braten. Isst. Und beruhigt sich. Am Ende gehen alle beglückt nach Hause. Die Familienbande sind gestärkt.

Pure Nostalgie

Dieses soeben heraufbeschworene Bild scheint, nostalgisch verklärt, aus einer völlig anderen Zeit zu stammen.

Bring heute noch mal alle zusammen, zu Oma Gretes Achtzigstem! Wie sollte das heute funktionieren? Es ist völlig undenkbar. Der da, der ist Veganer. Mit null Toleranz. Die da, die würde eigentlich am liebsten gar nichts essen. Rappeldürr ist die. Magersüchtig. Enkel André kann überhaupt nicht mehr aufzählen, wie viele Unverträglichkeiten er inzwischen hat. Die da drüben isst nur noch „Gottesnahrung“. Da fällt die mit Gewürzmischung angerührte Sauce nicht darunter. Auch nicht der Braten vom Schwein.

Nein, so eine Feier, das ginge nicht mehr. Das wäre heute im Ansatz zum Scheitern verurteilt. Jeder aus der Meute bräuchte sein eigenes Gericht. Da kann nicht mehr frei gewählt werden, was man den Gästen auftischt. An Leckereien. Nicht mal mit Sekt anstoßen, auf Oma Gretes Achtzigsten, könnten alle noch. Bei Fred ist das klar: Der hat eine Alki-Karriere hinter sich. Aber Sonja und Olli, Tina und Sebastian, die rühren keinen Tropfen Alkohol mehr an. Das halten sie für mental absolut gesundheitsschädlich.

Und so hockt Oma Grete alleine da. Ein paar Mails trudelten ein. Anrufe gab es. Das immerhin. Oma Grete ist das inzwischen gewohnt. Das geht ja schon seit ein paar Jahren so. Beim 75., als da nur noch wenige kamen, hat sie das noch mitgenommen. Da gruben sich noch Falten in ihre Stirn ein: Warum sagen so viele ab? Jetzt hat sie verstanden: Das ist heute so. Alle haben schrecklich viel zu tun. Auf der Arbeit. Mit sich. Und dann mit der Esserei.

Oma liebt Rum

Immerhin die Nachbarin kam vorbei. Man trank zusammen einen Grog und aß Kuchen. Oma Grete liebt Rum. Und sie liebt Zucker. Oma Grete isst gern. Und sie isst, was ihr schmeckt. Das ist auch der Hauptgrund dafür, dass sie „Nein!“ sagt, wenn die anderen ihr vorschlagen, in ein Heim zu ziehen. Was da gekocht wird, schmeckt ihr nicht. Die anderen lassen sie. Die anderen aus der Meute. Die anderen aus der Meute, die nicht mehr zusammenkommen. Und sich nach und nach aus dem Gesicht verlieren.

Essen. Wie wenig selbstverständlich das sein kann, erfährt jeder, der mit einer Anorektikerin zu tun hat. Der kannst du sagen: „Du hast nichts mehr auf den Knochen!“ Vergiss es. Das glaubt die nicht. Das will sie nicht wahrhaben. An ihrem Widerstand läuft sich jede Sorge, läuft sich jeder gute Rat fest. Hungern ist zum Lebensinhalt geworden. Wie die „Gottesnahrung” zum Lebensinhalt wurde. Oder die Jagd nach Essen. Weil das Konto leer ist. An den letzten acht Tagen des Monats. Und die Tafel niemanden mehr aufnimmt. Die sind auch längst mit ihren Ressourcen am Ende.

Essen. Gibt es noch irgendjemanden, sagen wir unter 50, für den das noch etwas vollkommen Selbstverständliches ist?

Der da hat gefunden, dass nur eine vegane Lebensweise eine wahre Lebensweise ist. Alles andere ist seiner Ansicht nach, auch wenn er versucht, nicht allzu sehr zu missionieren, verdammenswert. Wer sich vegan ernährt, schützt das Klima. Lässt Tiere nicht leiden. Hält sich selbst gesund. Und rettet die Welt vor dem Hunger. Wer das nicht tut, ist im Grunde genommen, auch wenn man sich das nicht immer laut zu sagen traut, ein Verbrecher. Okay. Das klingt hart. Auf jeden Fall haftet Fleischfressern wie Oma Grete ein Makel an.

Nichts wurde besser

Natürlich gehören solche Vorstellungen ins Fabelreich. Ein Blick in die Welt genügt. All die Veganer, die aufgeploppt sind in den letzten Jahren, haben nichts in der Welt wirklich besser gemacht. Mag es auch nicht völlig umsonst sein. Ich will nicht richten. Doch im besten Fall bleibt, was diese Menschen tun, Flickarbeit. Der globalpolitisch stille, nur bei FFF-Demos laute vegane Protest verpufft. Es wurde nicht friedlicher auf dieser Welt durch die vegane Bewegung. Nicht weniger leidvoll.

Dass Ernährung-Apps boomen und auch noch so verrückte Ernährungstipps ihre Anhänger finden, kommt natürlich nicht von ungefähr. Diese Trends fördern das Gefühl: Ich kann was tun. Ich bin wirksam. Ich hab was unter Kontrolle. Ich habe zumindest einen kleinen Bereich meines Lebens im Griff. Wo doch inzwischen derart viel aus der Hand genommen wird.

Was ich esse, entscheide ich! Das entscheide ich ganz genau. Da fließt unglaublicher Gedankenschmalz hinein. Am einmal gefundenen Konzept wird gefeilt und gefeilt. Stets gibt es noch was zu verbessern. Dieses muss dazukommen. Jenes unbedingt weg. Muss auf die Verbotsliste. Die immer länger wird.

Essstörungen waren früher vor allem eine Frauenkrankheit. Inzwischen sind mehr und mehr Männer betroffen. Darauf machte zum Beispiel Psychologe Roland Müller im April in einem Interview mit dem Schweizer Rundfunk aufmerksam. „Wir haben in der niederschwelligen Beratung mittlerweile eine Zunahme von etwa fünfmal mehr als noch vor ein paar Jahren“, äußerte er. Zur strikten Diät gesellt sich bei essgestörten Männern häufig ein rigider Trainingsplan. Ein Tag ohne Training ist ein Desaster. Ein herbeifantasiertes Desaster für den Körper. Ein reales Desaster seelisch.

Krisenhafte Zeiten

In Krisenzeiten treten besondere Phänomene besonders hervor. Ein Blick auf das Thema „Essen“ zeigt, wie problematisch die aktuellen Zeiten sind. Davon zeugen die vielen Menschen mit akribischem Ernährungskonzept. Die vielen Magersüchtigen. Aber ebenso die vielen Armutsgespeisten. Die in den letzten acht Tagen des Monats keinen Cent mehr zur Verfügung haben. 970 Tafeln gibt es inzwischen. Sie haben, veröffentlichte der Tafel-Bundesverband, 1,5 Millionen „Kunden“. Das ist eigentlich eine unvorstellbare Zahl. Sie bedeutet, dass jeder 55. im Land zu wenig Geld hat, um sich den ganzen Monat über aus eigener Kraft mit Nahrungsmitteln zu versorgen.

Während sich also die einen ersatzreligiös stundenlang damit beschäftigen, wann genau sie was genau in welcher Menge genau, wo genau und wie genau, mit wem genau essen, müssen andere mit dem Vorlieb nehmen, was sonst einfach weggeschmissen würde. Angesichts der realen Armut im Land und der Tatsache der weiteren, schleichenden Verarmung verkommen all die gutmenschlichen Ernährungsideale zum ignoranten Luxusphänomen.

Mit Tunnelblick wird auf das eigene Essen gestarrt. Wie gut fühlt man sich, dass man keinem Tier ein Leid antut! Das große Elend bleibt diesem Blick verborgen.

Die einen aalen sich in Gottesnahrung. Die anderen schleppen Billigfood, 30 Prozent Rabatt, das Ablaufdatum ist heute, aus dem Discounter heim. Die einen tracken haargenau jeden Nährwert. Die andern schlafen mit nur halb gefülltem Magen ein. Es sind krisenhafte Zeiten. Das Thema „Essen“ legt ein beredtes Zeugnis davon ab.


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