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Rückfall ins Kriegerische

Rückfall ins Kriegerische

Ein Blick ins Jahr 1990 zeigt, wie bellizistisch es derzeit in der Politik zugeht.

Unsere Regierung, unsere Politiker waren nicht immer so. Längst nicht immer waren sie dermaßen auf Krieg gebürstet. Auf Provokation und Feindseligkeit. Vor 35 Jahren waren sie davon sehr weit entfernt: Am 9. November 1990 schlossen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow im Bonner Palais Schaumburg einen „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“. Und zwar in jenem Raum, in dem Willy Brandt 20 Jahre zuvor den Moskauer Vertrag verabschiedet hatte.

„Dieser Vertrag ist der völkerrechtliche Rahmen für die Tatsache, dass das vereinte Deutschland – als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft – auch der größte Wirtschaftspartner der Sowjetunion sein wird”, heißt es in dem Papier. Ein Schlussstrich sollte gezogen werden „unter die leidvollen Kapitel der Vergangenheit”. Der Vertrag wollte den Weg frei machen „für einen Neubeginn”: „Dabei knüpfen wir an die guten Traditionen in langen Jahrhunderten gemeinsamer Geschichte unserer Völker an.”

Die Krudität des Verhaltens im politischen Establishment dieser Tage tritt vor der Schablone dieses Vertrags deutlich zutage. Er enthält keinerlei Bellizismus. „Wir verständigen uns, gemeinsam den großen Herausforderungen, die sich heute und an der Schwelle zum dritten Jahrtausend stellen, gerecht zu werden”, heißt es darin. Konkretisiert wird dies in fünf Unterpunkten. Der Wichtigste: „Wir wollen jeden Krieg, ob nuklear oder konventionell, vermeiden und den Frieden wahren.” Umgesetzt werden sollte dieses Vertragsziel durch konkrete Verpflichtungen. Die betrafen eine friedliche Konfliktlösung, Nichtangriff, Abrüstung und Rüstungskontrolle.

Während nun wieder alles auf Krieg kalibriert wird, während Bellizismus wieder Saison hat, wollte man damals eine Kehrtwendung machen. Und zwar über Deutschland hinaus. Der Vertrag gehe „nicht nur unsere Länder und Völker an”. Er sollte einen Eckstein für die Friedensordnung in Europa setzen. „Wir sind auf gutem Wege zu einem Europa des Friedens, der guten Nachbarschaft und der partnerschaftlichen Zusammenarbeit”, hieß es optimistisch.

„Keine Abwendung“

Die Stimmung im Land war insgesamt versöhnlich. Das zeigt auch ein Redebeitrag von Alfred Dregger, Mitglied der CDU und zu jener Zeit Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, am 15. November 1990. Anlass der Rede war Deutschlands Entscheidung, Teil der westlichen Welt zu bleiben. Alfred Dregger betonte: „Die Entscheidung für den Westen bedeutet keine Abwendung vom Osten.“ Russland, erinnerte er, sei seit dem 18. Jahrhundert europäische Großmacht: „Seitdem hat sich in Europa nichts geändert, ohne dass dieses Russland, in welcher Gestalt auch immer, daran beteiligt gewesen wäre.“

Dieser Tage erlebt man allenthalben, wie Zeitgenossen sichtlich das Messer in der Tasche aufgeht, wenn sie nur das Wort „Russland“ oder gar „Putin“ hören. Der von oben durch russophobe Schlagworte gesäte Zorn trägt unten reiche Früchte. Viele Bürger empfinden reale Angst vor „dem Russen“. Gleichzeitig wird, vorbereitend, über den Krieg fabuliert, als handele es sich um ein strategisches Kartenspiel, um eine Schnitzeljagd. Jede weitere Umkrempelung der Gesellschaft gen „Zivilschutz“ wird in diesem infamen „Spiel“ als Schritt in die richtige Richtung verkauft. Und alle sind gezwungen, Mitspieler zu sein.

Unvorstellbar wären heute Bundestagsreden wie jene von Alfred Dregger im Jahr 1990. Interessant bleiben seine Erinnerungen daran, wie es zu jener Zeit überhaupt zu dem neuen, guten Verhältnis zwischen Deutschland und der Sowjetunion kam. Die Sowjetunion, erklärte Alfred Dregger, habe zugestimmt, dass Deutschland Teil der westlichen Allianz bleibt. Vereinbart worden sei weiter, dass die 380.000 damals stationierten sowjetischen Soldaten „vom Boden der ehemaligen DDR bis 1994 abgezogen werden“.

Die durch die Weltkriege gerissenen Wunden waren damals noch offen. Politisch wurde alles versucht, sie zu klammern. Statt sie wieder aufzureißen. Alfred Dreggers Rede eine knappe Woche nach der Unterzeichnung des „Vertrags über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“ ist dafür ein beredtes Beispiel: „Meine Damen und Herren, Verbündeter des Westens und bevorzugter Partner des Ostens – das bedeutet die Perspektive eines langen Friedens und einer intensiven gesamteuropäischen Zusammenarbeit”, erklärte er. Dies sei eine „Zukunftsperspektive für unser Volk und für unsere Jugend”.

Aktuell treibt die Politik mit Siebenmeilenstiefeln alles dahin, dass die Jugend – zumindest ihr männlicher Teil – bald wieder in Kasernenzimmern wohnen darf. Dass sie das Kriegshandwerk erlernt. Mit der Perspektive, an die herbeiprovozierte Front geschickt und dort verletzt, verstümmelt oder ermordet zu werden.

„Das ist wohl wahr!”

Würde ein Alfred Dregger auch heute dem Schwertergeklirr Einhalt gebieten? Wir wissen es nicht. Er, der 1939 im Alter von 18 Jahren zur Wehrmacht einberufen wurde und – was erst seit seinem Tod bekannt ist – 1940 der NSDAP beigetreten war, fand zumindest vor 35 Jahren klare Worte. „Verbündeter des Westens und bevorzugter Partner des Ostens — wenn es diese Konstellation schon 1910 oder 1930 gegeben hätte, dann hätten die beiden Weltkriege nicht stattgefunden“, erklärte er unter Beifall der CDU/CSU und der FDP. Das Plenarprotokoll notiert an dieser Stelle einen Zwischenruf von Helmut Kohl: „Ja, das ist wohl wahr!”

Das Protokoll vom 15. November 1990 gibt überhaupt eine höchst interessante Innenansicht der bundesdeutschen Politik. Nicht nur die Rede von Alfred Dregger ist vor der Kulisse des aktuellen Bellizismus bemerkenswert. Auch das, was Willi Hoss, Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen, damals sagte, lässt aufmerken. Zu jener Zeit wuchs erneut die Kriegsgefahr im Nahen Osten. Wieder mal mitgeschürt von der Bundesrepublik. Diese, prangerte denn auch Willi Hoss an, sei als jahrelanger Lieferant von Technologien und Waffen „für die Entwicklung zum Krieg am Golf mitverantwortlich“.

Jene Grüne, die jemals gewählt zu haben sich Antimilitaristen heute schämen, jene Grüne, auf deren Programm heute nicht genug Aufrüstung stehen kann, waren damals noch von Grund auf pazifistisch. Und sie stellten noch eine echte Opposition dar. „Die Bundesregierung unterstützt bis heute den Militäraufmarsch in Saudi-Arabien logistisch und finanziell”, kritisierte Willi Hoss. „Sie beeilt sich, wie gestern und vorgestern wieder, den US-Streitkräften rollendes Material aus Beständen der Bundeswehr und der NVA anzudienen. Zuverlässigkeit gegenüber dem amerikanischen Verbündeten ist ihr wichtiger als eigenständige Friedensinitiativen.”

Passiv hingenommen

Die Rede von Willi Hoss zeigt im Übrigen auch, dass es nicht urplötzlich in jüngster Zeit zu einem Einbruch der Debattenkultur kam. Schon damals war vieles im Staate faul – trotz des Vertrags über gute Nachbarschaft. Schon damals war das Sprechen über Heikles limitiert. „Weil wir hier nicht debattieren, gibt es einen Gewöhnungseffekt, wird die täglich bedrohlicher werdende Situation passiv hingenommen“, stellte der frühere Daimler-Betriebsrat fest. Und: „Wir erleben in unserem Volk schweigend, wie sich eine Situation aufbaut und zuspitzt, die aus vielerlei Gründen ein kriegerisches Inferno der Waffen nach sich ziehen kann.“

Was sich damals vollzog, war für Willi Hoss unverständlich. Und empörend. Es werde über den Einsatz von Chemie- und Atomwaffen diskutiert, als ob es Hiroshima, „als ob es den amerikanischen Krieg in Vietnam und den russischen in Afghanistan nicht gegeben hätte“. Das Gründungmitglied der Grünen, das die Partei 2001 wegen ihrer Unterstützung der Beteiligung Deutschlands am Afghanistan-Krieg verließ, geißelte in seiner Rede vor 35 Jahren jede Art von Krieg.

„Im Krieg kommen auf viehische Weise Tausende und Zehntausende junger Menschen als Soldaten um“, erklärte er. Jeder, der mit dem Krieg spiele, nehme das billigend in Kauf.

Mutig und respektabel aus heutiger Sicht waren auch die Worte, die der Grüne Julius Krizsan sieben Jahre zuvor, am 22. November 1983, dem Tag der Zustimmung zum NATO-Doppelbeschluss als „Antwort auf eine sowjetische Bedrohung”, fand. „Ich habe als Achtjähriger das Ende des Zweiten Weltkrieges erleben müssen und traumatische Erinnerungen an das Chaos, die Not, das Elend, den Tod jener Tage behalten“, erklärte er im Bundestag. Das neuerliche „kriegerische Geschrei“ mache ihm Angst: „Ich will nicht in den Machtkampf der Großmächte über die NATO hineingezogen werden.“

Julius Krizsan lebte damals sechs Kilometer vom ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen entfernt. „Hier starben unter unsäglichen Qualen Opfer des Naziregimes, aber auch, und das ist weithin unbekannt, über 50.000 sowjetische Kriegsgefangene“, erinnerte er im Bonner Bundestag. Nun würden wieder „Feindbilder aufgebaut, Gegner gesucht, Schuldzuweisungen vorgenommen, um die eigene Rüstung zu rechtfertigen, die Stationierung neuer Atomraketen zu begründen“. Er wolle in Frieden mit den Menschen der benachbarten Völker leben: „Ich brauche keine Feindbilder, keine neuen Massenvernichtungsmittel.“

Ein weiterer Grüner meldete sich bei dieser denkwürdigen Debatte mit einer angesichts der aktuellen Kriegstreiberei fast prophetischen Aussage zu Wort: Walter Sauermilch. Der erste schleswig-holsteinische Bundestagsabgeordnete der Grünen erinnerte an ein Zitat des US-amerikanischen Soziologen Charles Wright Mills. Der hatte 1958 erklärt: „Die Ursache des Dritten Weltkriegs wird vermutlich die Vorbereitung auf ihn sein."


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