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Lautes Schweigen

Lautes Schweigen

Auf einer Palästinademonstration erfuhr die Autorin Selbstwirksamkeit im Angesicht des Schmerzes und erlebte, wie Transzendenz verbindet, auch wenn sich Religionen feindlich gegenüberstehen.

Wahre Sprache ist das Schweigen.
Hermann Hesse

Die Bilder, die mich aus dem Gazastreifen erreichen, brennen sich tief in mir ein. Rauchschwaden verdunkeln die Sonne. Gebäudeskelette stehen wankend in den Trümmern der Landschaft. Die einst massiven Mauern wirken so zerbrechlich, als würden sie einen Windhauch nicht überstehen. Die Fläche ist von Hölzern, Betonplatten, Scherben und Schutt bedeckt. Eine Frau zieht ihr abgemagertes Kind eng an ihre Brust. Mit zitternden Händen schlägt sie ein Kopftuch über ihre Gesichter, als wolle sie sich und ihren kleinen Sohn vor dem Anblick dieses Alptraums schützen. Kinder irren mit Stöcken in den Trümmern umher, um nach Nahrung zu suchen.

Meine Freunde baten mich, sie auf eine Friedensdemo für Palästina nach Oldenburg zu begleiten.

„Wenn all unsere Worte nur Krümel sind, die vom Fest des Geistes herunterfallen“, schreibt Khalil Gibran, dann will ich lieber dem Schweigen Raum geben. Am liebsten wäre mir ein Schweigemarsch. Keine Parolen, keine Reden – nur Menschen mit Blumen in der Hand. Eine Blüte für jedes Kind, die auf dem Domplatz niedergelegt wird. Ein Meer aus fast 20.000 Farbtupfern des Gedenkens würde den Boden bedecken – ein eindrucksvolles Zeichen gegen die Gewalt.

Auf einem übergroßen Zeichenblock, den ich auf ein Stück Karton heftete, malte ich mit den Farben der palästinensischen Flagge eine Friedenstaube, die einen Ölzweig im Schnabel trägt, und hing mir das Plakat um den Hals. Kraft und Fülle durchströmten mich. Diese Schwingungen des Friedens verbanden sich mit einem tiefen Gefühl von Stärke. In diesem Moment verstand ich, was Gandhi meinte, als er über die wahre Machtausübung durch Gewaltlosigkeit sprach.

Ich trug mein Plakat auf der Brust und ging durch die Oldenburger Innenstadt. Menschen saßen unbekümmert zu zweit oder alleine unter Markisen und genossen ihren Kaffee – eine sorglose Normalität. Sie freuten sich auf das freie Wochenende. Ich fühlte eine zweite Welt nebenherlaufen. Während diese Menschen wohlbehütet und sicher den Tag gestalteten, war ich innerlich mit dem unvorstellbaren Leid der Palästinenser konfrontiert – mit ihrer unerträglichen Not, die wie eine finstere Wolke über ihren zerstörten Leben liegt. Zwei Welten, weit entfernt und doch so nah, die mich innerlich zerrissen.

Ein hochgewachsener, arabisch aussehender Mann sah mein Plakat mit der Friedenstaube in den Farben Schwarz, Weiß, Grün und Rot. Er legte beide Arme um meine Schultern und senkte sein Haupt zu mir herab. „Ich bin Palästinenser“, sagte er mit vom Schmerz erstickter Stimme. Ich legte ebenfalls meine Arme um ihn. In diesem Augenblick fühlten wir eine Verbundenheit, wie sie durch Worte nicht herzustellen ist.

„Free, Free Palastine“ – aus den Lautsprechern hallte die Forderung nach Freiheit und Gerechtigkeit in unsere Ohren. In der Umarmung mit dem fremden Freund hatte ich das Gefühl, als würde die gebrüllte Parole die gerade gesponnenen feinen Fäden innigsten Einverständnisses brutal zerschneiden. Ich erinnerte mich an Khalil Gibrans Worte: „Schweigen ist die Brücke zwischen den Seelen.“

Ungefähr 300 Teilnehmer, vornehmlich arabischer Herkunft, hatten sich unter Regenschirmen auf dem Domplatz versammelt. Zwischen all den Gesichtern traf mich immer wieder ein wohlwollendes Nicken – eine Zustimmung auf mein selbstgemaltes Plakat. Eine muslimische Frau kam mit offenem Lächeln auf mich zu, umarmte mich herzlich und dankte mir für die gezeigte Solidarität. „Bist du eine Deutsche?“, fragte sie und fügte zögernd, beinahe scheu hinzu: „Christin auch?“ Verblüfft bejahte ich ihre Frage – in diesem Moment erinnerte ich mich daran, dass in vielen christlichen Gemeinden zurzeit für „Gottes auserwähltes Volk“ Israel gebetet wird. Wie tief Glauben verbinden kann, erfuhr ich auf dieser Demo unter Muslimen – ich musste aber auch daran denken, wie gefährlich er ist, wenn er in Fanatismus umschlägt. Religiöser Eifer kennt kein Erbarmen.

Nach einigen überflüssigen Reden verschiedener Organisatoren und Veranstalter marschierten alle Teilnehmer unter Polizeischutz durch die Hauptstraßen von Oldenburg. Sie trugen Fahnen und Banner. Weit tönend und aufdringlich wurde im Chor: „Free Free Palastine – und „deutsche Waffen töten Kinder“ gerufen. Autos gaben hupend ihre Zustimmung. Die Stimmung war laut, hässlich und obszön. Ich trat aus der Gruppe heraus, suchte Abstand von Geschrei und Gegröle, das sich wie Hagel anhörte, der auf ein Blech prasselt. Ich bedankte mich noch bei drei Polizisten, die ohne Kampfausrüstung und mit distanziertem Abstand die Demo begleiteten. Mit einem freundliches Lächeln und einem kurzen Leuchten in ihren Augen zeigten sie Dankbarkeit für das Lob.

Auch der mystische Islam, als Sufismus bekannt, offenbart: „Das Herz findet, was es sucht.“ Wir alle suchen Frieden, oder?


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