Zum Inhalt:
Lob der Konversation

Lob der Konversation

Es fehlen uns Orte im analogen Raum, an denen wir selbstverständlich verweilen und uns austauschen können — nicht zu Politik und Philosophie, sondern zu den Alltäglichkeiten des Lebens.

Gute Orte? Der geneigte Leser mag sich fragen, wo sie sind, diese guten Orte, was sie auszeichnet, warum ihre Bedeutung so groß ist. Welzer meint Orte des Gesprächs, der Konversation, Orte, die unverdächtig sind, uns in Schablonen zu stecken oder von uns bestimmte Meinungen, man könnte auch sagen: Haltungen aufzuzwingen.

„Die kleine Kneipe“

Es ist immer so eine Sache, wenn ein Satz mit „Die Älteren werden sich erinnern ...“ beginnt, aber manchmal geht es nicht anders. „Die kleine Kneipe“ ist ein Lied aus der Feder von Peter Alexander, das man mit Fug und Recht als „zeitlos schön“ bezeichnen kann. Der Text des Liedes geht so:

Der Abend senkt sich auf die Dächer der Vorstadt
Die Kinder am Hof müssen heim
Die Krämersfrau fegt das Trottoir vor dem Laden
Ihr Mann trägt die Obstkisten rein
Der Tag ist vorüber
Die Menschen sind müde
Doch viele gehen nicht gleich nach Haus
Denn drüben klingt aus einer offenen Türe
Musik auf den Gehsteig hinaus

Die kleine Kneipe in unserer Straße
Da wo das Leben noch lebenswert ist
Dort in der Kneipe in unserer Straße
Da fragt dich keiner was du hast oder bist

Die Postkarten dort an der Wand in der Ecke
Das Foto vom Fußballverein
Das Stimmengewirr
Die Musik aus der Jukebox
All das ist ein Stückchen Daheim
Du wirfst eine Mark in den Münzautomaten
Schaust anderen beim Kartenspiel zu
Und stehst mit dem Pils in der Hand an der Theke
Und bist gleich mit jedem per du

Die kleine Kneipe in unserer Straße
Da wo das Leben noch lebenswert ist
Dort in der Kneipe in unserer Straße
Da fragt dich keiner was du hast oder bist

Man redet sich heiß und spricht sich von der Seele
Was einem die Laune vergällt
Bei Korn und bei Bier findet mancher die Lösung
Für alle Probleme der Welt
Wer Hunger hat
Der bestellt Würstchen mit Kraut
Weil es andere Speisen nicht gibt
Die Rechnung, die steht auf dem Bierdeckel drauf
Doch beim Wirt hier hat jeder Kredit

Die kleine Kneipe in unserer Straße
Da wo das Leben noch lebenswert ist
Dort in der Kneipe in unserer Straße
Da fragt dich keiner was du hast oder bist.

Harald Welzer spricht von so einer Kneipe in Berlin. Wenn er dort hingeht, muss er sich nicht erklären, nicht rechtfertigen, seine Prominenz interessiert auch niemanden. In dieser Kneipe wird nicht über Politik diskutiert oder darüber gestritten, ob Deutschland die Ukraine verteidigen muss oder wie sich Menschen fühlen mögen, die sich als junge Füchse identifizieren. Es interessiert einfach niemanden.

Konversation als tiefes Gespräch

Die Moderatorin der „Sternstunden“ fragte Welzer, ob es diese von ihm beschriebenen guten Orte nicht auch im Netz geben kann. Sie denke dabei an Communities, in denen sich die Menschen mit gleichen oder ähnlichen Interessen „treffen“ könnten. Daran glaubt Welzer nicht, weil das Treffen im virtuellen Raum einfach nicht die Qualität eines analogen Aufeinandertreffens entfalten könne.

Aber, mag man einwenden, diese Kneipengespräche haben doch keine Tiefe, sind nicht mehr als Konversation, die wirklich großen Themen werden an solchen Orten nicht diskutiert. Das mag stimmen; doch ist es eigentlich immer notwendig, die vermeintlich großen Themen zu besprechen?

Der Autor dieses Textes war circa zwei Jahre im Ausland. Die beiden Länder, in denen er in dieser Zeit gelebt hat, haben naturgemäß ihre eigenen Sprachen, und die sind in diesem Fall alles andere als leicht zu verstehen und zu erlernen. Es ist zwar schön, wenn man an der Kasse seinen Einkauf bezahlen oder nach dem Weg fragen kann, doch für echte Gespräche reicht dieses bisschen Wissen nicht aus.

In diesen zwei Jahren Auslandsaufenthalt habe ich viel gelernt, unter anderem, wie wichtig Konversation ist. In der deutschen Stadt, in der wir zuletzt gelebt haben, gab es einen Supermarkt, in dem ich das gesamte Personal kannte, und das Personal kannte mich. Ob an der Information, mitten im Laden, beim Leergut oder direkt an der Kasse — immer gab es ein paar Worte, die man miteinander gewechselt hat. Mal ging es ums Wetter, man um den geplanten Urlaub, manchmal aber auch um „intimere“ Dinge wie Rückenschmerzen oder die Angst vor dem Jobverlust.

Selbst die Gespräche über Rückenschmerzen und die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes bewegten sich auf einem eher niedrigen Niveau beziehungsweise wurden nicht ausgiebig thematisiert. Es ging bei diesen Gesprächen auch nicht um Lösungen; sie hatten weder sozialpädagogischen noch politischen oder gar therapeutischen Charakter, sondern dienten nur der Konversation.

Ich habe mir nie viele Gedanken über diese Form der Kommunikation gemacht — bis ich auf sie nicht mehr zugreifen konnte. Das Triviale, Banale, Oberflächliche ist eines eben nicht: wertlos. Diese Form der Konversation, die für mich immer eine Selbstverständlichkeit war, sie fehlte mir nun plötzlich so sehr, dass es mir fast körperliche Schmerzen bereitete. Zurück im deutschsprachigen Raum, stelle ich fest, dass ein Leben ohne Konversation zwar möglich, aber ganz sicher nicht erstrebenswert ist.

Gute Laune

Die deutsche Politik ist merkwürdig. Sicher, man könnte sie mit deutlicheren Attributen belegen, aber „merkwürdig“ trifft es schon ganz gut. Warum? Weil seit inzwischen einigen Monaten — aber vielleicht sind es auch Jahre — der Bevölkerung zu viel schlechte Laune unterstellt wird. Man lebe in einem der reichsten Länder dieser Erde, habe Demokratie, Meinungsfreiheit, all diese Dinge eben.

Es mag sein, dass der Leute schlechte Laune daher rührt, dass viele Menschen keinen Reichtum spüren, nicht mal Wohlstand, sondern nur ein so gerade eben mögliches Auskommen fühlen. Andere sind womöglich wenig amüsiert über die Tatsache, dass es mit der Demokratie und der Meinungsfreiheit auch nicht mehr so gut aussieht wie noch vor einigen Jahren. Und wer schon am Abend präventiv mit einem Bademantel schlafen geht, nachdem er auf X ein satirisches Meme abgesetzt hat, wird den geschliffenen Worten der Politik auch nicht mehr ohne Weiteres glauben.

Dennoch: Die Deutschen sind nicht schlechtgelaunt. Im Gegenteil, sie halten vieles aus, können eine Menge einstecken und lassen sich auch durch die brutalsten politischen Maßnahmen, die ihnen an den Geldbeutel und direkt danach an den Kragen gehen, nicht so leicht beeindrucken oder ihres Optimismus berauben. Sie fallen also nicht durch schlechte Laune auf, diese Deutschen, sondern vielmehr durch ihre Genügsamkeit.

Gut ist die Stimmung im Land trotzdem nicht, und das liegt im Wesentlichen an dauerschlechtgelaunten Politikern, die von morgens bis abends zum einen ganz, ganz schlimme Gefahren an die Wand malen: Zum Frühstücksfernsehen sterben wir am Klimawandel, mittags werden wir vor der nächsten Pandemie gewarnt und am Abend müssen wir bereit sein für die bittere Pille „Der Russe war's!“. Und wir hatten noch nicht einmal die Zeit herauszufinden, was genau der Russe denn nun gerade war, auf welche Art die nächste Pandemie uns umbringt oder ob wir schon bei einem Temperaturanstieg von 1,5 Grad Celsius oder erst bei 2,0 Grad in Flammen aufgehen werden. Längst nicht mehr jeder kann sich das Experiment leisten, die Heizung zu Hause mal für ein paar Stunden zwei Grad höher zu stellen, um zu überprüfen, ob dieser kleine Test lebensbedrohlich ist.

Zum anderen machen uns die schlechtgelaunten Politiker mit ihrer Rücksichtslosigkeit, Gier und Skrupellosigkeit kirre. Sie erweisen sich nahezu täglich als unehrliche Gesellen, die einzig und allein auf ihren Vorteil bedacht sind, und die Tatsache, dass sie ihre abstoßenden Charaktereigenschaften nicht einmal mehr groß vor uns verstecken müssen, lässt ihre Laune sprunghaft besser werden. Doch das Lachen verfliegt, wenn sie daran denken, dass wir, die Menschen im Land, womöglich auch mal ein bisschen lachen wollen. Sofort senkt sich das Politikerhaupt, wir hören undeutlich etwas Mürrisches und erkennen nach dem Heben des Kopfes, dass die Laune wieder im Keller ist.

Ach, hätten wir doch bloß den Mund gehalten!

Gute Orte zum Lachen und Lächeln

Kommen wir zurück zu den guten Orten. Wie gesagt, es gibt sie noch, aber ihr Raum wird beschränkt, sanktioniert und seiner kleinen Freiheit beraubt. Selbst mein Lieblings-Imbiss neben dem Supermarkt, in dem ich immer einkaufen war, muss sich mit staatlichen Auflagen herumschlagen. Der Inhaber klagte mir sein Leid über ein neues Kassensystem, das faktisch direkt mit dem Finanzamt verbunden ist. Die Energiepreise kommen hinzu, seine Lebensmittel, die er braucht, werden gleichfalls immer teurer, er müsste eigentlich die Preise erhöhen, weiß aber, dass die Leute dann nicht mehr kämen, weil sie es sich einfach nicht leisten können.

Einmal sagte er mir in einem ruhigen Moment, dass er eigentlich seinen Laden dichtmachen müsste. Die Diskrepanz zwischen Umsatz und dem, was am Ende übrigbleibt, sei zu schmerzhaft, das gehe nicht mehr lange gut. Warum er denn trotzdem weitermache, wollte ich wissen, und seine Antwort war einfach umwerfend: „Na, wegen der Kunden!“

Und wegen der Konversation!

Ich weiß nicht, wie viele Gespräche ich mit dem Mann im Imbiss und seinen Mitarbeitern geführt habe, aber ich erinnere mich nicht an Analysen über Marx, Diskussionen über das Sein nach Heidegger oder Debatten rund um Camus, Kafka oder Sartre. Dafür sprachen wir über das Wetter, die nächsten Wochenendaktivitäten, das Essen — was in einem Imbiss naheliegt -, die Registrierkasse, drückende Schuhe und die Frage, ob man Erdbeeren lieber mit Sahne oder Milch übergossen genießen sollte.

Konversation eben. Wir haben immer wieder gelacht, manchmal gelächelt, haben uns gegenseitig veralbert — solche Dinge eben. So etwas geht online nicht, der Imbiss als solcher ist sozusagen analog. Es kam sogar vor, dass wir gar nicht geredet und uns trotzdem verstanden haben. Und das geht nun im Netz wirklich nicht, nein, es funktioniert nicht.

Wir brauchen sie, die guten Orte. Ob zu Hause, in einer Kneipe, auf dem Sportplatz oder in einem Konzert. Wir brauchen diese Orte auch, um ungestört zu sein, um uns von den Anweisungen über politisch korrektes Verhalten entziehen zu können, miteinander zu sein, unüberwacht und ohne „Argus-Ohren“, die uns belauschen und darüber befinden, ob wir dieses oder jenes so sagen oder auch nur denken dürfen.

Es wäre schön, wenn wir uns überall so frei fühlen könnten, so nahe an Menschen, die uns etwas bedeuten, so unaufgeregt und irgendwie glücklich. Eben wie an einem guten Ort.


Finden Sie Artikel wie diesen wichtig?
Dann unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer Spende.

Wenn Sie für unabhängige Artikel wie diesen etwas übrig haben, können Sie uns zum Beispiel mit einem kleinen Dauerauftrag oder einer Einzelspende unterstützen.

Oder unterstützen Sie uns durch den Kauf eines Artikels aus unserer Manova-Kollektion .

Weiterlesen

Reiche gegen Arme
Thematisch verwandter Artikel

Reiche gegen Arme

Die Bundeswirtschaftsministerin und die Arbeitgeber wollen die Sozialversicherung schreddern.