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Mehr Liebe wagen

Mehr Liebe wagen

Wenn wir unsere psychische Gesundheit bewahren wollen, müssen wir anfangen, besser für uns selbst und unsere Mitmenschen zu sorgen.

Fazit

Zunächst erscheint es wichtig, zu erkennen, dass nur mündige, liebesfähige, selbstwirksame und kooperativ agierende Bürger in der Lage sind, die Grundbedingungen für psychische Gesundheit angesichts globaler interessengeleiteter psychologischer Manipulationsversuche zu verteidigen. Die Pandemiesituation hat Ängste geweckt, und Kontrollstrategien wurden propagiert, die erhebliche Nebenwirkungen hatten und weiterhin haben. Im Umgang mit dieser Unsicherheit neigten die einen dazu, unkritisch Autoritäten zu vertrauen, und die anderen, gerade in diesen Autoritäten den Feind wahrzunehmen.

Um handlungsfähig zu bleiben, braucht es die Fähigkeit — wie es schon in der Aufklärung von Kant propagiert wurde —, aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszutreten, was angesichts von gezielter psychologischer Beeinflussung durch Nudging-Strategien jedoch nicht so ganz einfach ist. Es droht, dass wir in digitalen Blasen einseitige Informationen empfangen, von medialen Strategien fehlgeleitet werden und so weder den Autoritäten noch den Kritikern vertrauen können. Ohnmachtserfahrungen bergen die Gefahr des Abgleitens in Pseudoaktionismus oder Ablenkungsschleifen.

Die Kritikfähigkeit sollten wir trotz der ständigen Wiederholung bestimmter Botschaften stärken. Wir kommen nicht umhin, innezuhalten, uns gegen psychologische Angst- und Schuldstrategien zu wappnen, selbst zu denken, nein zu sagen und herauszuarbeiten, wo realistische Einflussmöglichkeiten liegen, zugleich auf die eigene Gesundheit zu achten. Dies kann niemand allein. Es braucht solidarisches Handeln und Teilhabechancen für alle Menschen. Zugleich gilt es, nicht narzisstisch überhöhten Heilsversprechen zu erliegen, sondern im täglichen Handeln psychische Gesundheit und Teilhabe zu fördern, sich weder zu überschätzen noch selbst zu verzwergen. Ganz entscheidend ist hierbei, wie wir mit den Kindern umgehen. Die Kinder sind das Wertvollste, was es in der Gesellschaft gibt. Wie beantworten wir ihre Initiativen und Gefühle?

Welche Basis geben wir unseren Kindern zur Entwicklung eines Urvertrauens, das sie lebenslang bis zum eigenen Tod tragen kann? Welche Entwicklungsbedingungen stellen wir bereit? Wie schützen wir sie individuell und gesamtgesellschaftlich vor Gewalt und Vernachlässigung, vor Armut und Ausgrenzung? Wie können wir nach den Pandemieeindämmungsmaßnahmen wieder einen ausreichenden Fokus auf ein psychisch gesundes Miteinander richten und in Bewegung bleiben?

Hierbei braucht es einen großen Aufbruch mit vielen kleinen Puzzlesteinen. Im Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Vertrauen gilt es, krankmachende Kontrollspiralen zu identifizieren und vertrauensvolle Beziehungen von Kindheit an zu stärken. Ein Urvertrauen in die Möglichkeit authentischer Beziehungen und die Einbettung der Menschheit in transzendentale Zusammenhänge kann ein Gegengewicht setzen gegen Allmachtsphantasien und Kontrollszenarien, die sich immer mehr verselbstständigen.

Es gilt, mehr Liebe zu wagen und in den persönlichen Beziehungen den anderen/die andere wirklich wahrzunehmen und zu beantworten, anstatt zu kontrollieren.

Es gilt, gesamtgesellschaftlich empathisches und solidarisches Miteinander und Teilhabe vor Ort zu leben, gewaltfrei zu kommunizieren und unterscheiden zu können, wann Begriffe wie Solidarität benutzt werden, um manipulativ Interessen durchzusetzen. Es gilt, narzisstische Manipulationsversuche und Gaslighting zu erkennen, um sich davon abgrenzen zu können und nicht komplementärnarzisstisch die eigene Entwicklung zurückzustellen.

Ich hoffe, dass ich mit diesem Buch die Dringlichkeit des persönlichen und gesamtgesellschaftlichen Aufbruchs deutlich machen konnte und einige Ideen, wo Handlungsmöglichkeiten liegen, herausarbeiten konnte. Allerdings werden einige meiner Ausführungen sicherlich Widerspruch erzeugen. Manches wird vielleicht im Lichte der zukünftigen Entwicklungen noch Anpassungen und Veränderungen erfordern.

Vergessen sollte man jedoch nicht, dass es einen erheblichen psychischen Aufwand bedeutet, sich damit auseinanderzusetzen, dass ein System, in das man Vertrauen gesetzt hat, dysfunktionale, übergriffige oder ausbeuterische Züge entwickelt. Aus der Forschung zu familiärer Gewalt ist bekannt, dass (erwachsene) Kinder oft ihre Eltern idealisieren, selbst wenn sie von ihnen misshandelt wurden (zur ausführlichen Darstellung von frühen Traumafolgen vgl. van der Kolk 2021).

Kinder sind existenziell von ihren Eltern abhängig und vertrauen ihnen. Wenn von diesen Vertrauenspersonen selbst Missbrauch ausgeht, führt dies zu unerträglichen kognitiven Dissonanzen, die verdrängt oder auf andere projiziert werden müssen. Hinzu kommt, dass nicht selten diejenigen ausgegrenzt werden, die den Missbrauch öffentlich machen, sodass sich (erwachsene) Kinder aus missbrauchenden Familien zwischen Wahrheit und Familienzugehörigkeit entscheiden müssen.

In ähnlicher Weise erzeugt es kognitive Dissonanzen, wenn jemand behauptet, in dem System, in das wir bislang recht gut integriert waren, entwickelten sich im großen Stil Übergriffe auf die psychische Gesundheit. Solange man nicht selbst existenziell davon betroffen ist, scheint es doch naheliegend, dies zunächst nicht wahrhaben zu wollen und den Überbringer der Botschaft anzugehen, sich vielleicht auch zusammenzuschließen und sich gegenseitig zu vergewissern, dass die Situation doch völlig normal sei, oder sich gemeinsam abzulenken.

Ich möchte mit diesem Argument nicht berechtigte Kritik an meinen Ausführungen abwehren, denn auch ich bin Teil dieses Systems und habe genauso wenig die Möglichkeit, alles von außerhalb zu betrachten. Auswege finden sich besonders, wenn alle bereit sind, den eigenen Standort selbstkritisch zu reflektieren, eigene mögliche Traumatisierungen und Ängste aufzuarbeiten, vertrauensvolle Beziehungen zu erhalten und von der ständigen Wiederholung von Botschaften abzusehen.

Es gilt, zunächst die eigene psychische Gesundheit zu stärken und nicht der Illusion zu verfallen, man könne den Gang der Geschichte kontrollieren. Wir sind in unserer Perspektive begrenzt und sterblich. Dennoch können wir gemeinsam zu einer Gesellschaft beitragen, die die psychische Gesundheit verteidigt.

Hippokrates werden folgende Zeilen zugeschrieben, die gerade heute, trotz allem wissenschaftlichen Fortschritt, besonders aktuell erscheinen.

Das Leben ist kurz,
die Kunst lang,
die Gelegenheit flüchtig,
die Erfahrung trügerisch und
das Urteil schwierig.


Hier können Sie das Buch bestellen: als Taschenbuch


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Die Rettung unserer psychischen Gesundheit“ auf dem Blog des Autors.


Quellen und Anmerkungen:

Das Buch: „Wie schützen und stärken wir unsere psychische Gesundheit? Wie retten wir, was zu retten ist? Und welche konkreten Hilfen brauchen Betroffene jetzt? Annemarie Jost analysiert die psychosozialen Folgen der Pandemiebekämpfung. Mit Blick auf die Gesellschaft und den Einzelnen benennt sie die akuten Probleme und zeigt Wege aus der Krise. Was es jetzt braucht, ist ein Kurswechsel: mehr Eigenverantwortung und Teilhabe für den Einzelnen, ‚gesündere‘ Strukturen und eine neue Gesprächskultur für die Gesellschaft. Doch auch die Profis brauchen jetzt massive Unterstützung. Für Fachkräfte in der Pflege, im Erziehungsbereich und in der Sozialen Arbeit gibt sie praxisnahe Hinweise. So werden individuelle Gesundheit und ein gelingendes Miteinander greifbar.“

Die Autorin: Prof. Dr. Annemarie Jost lehrt Sozialpsychiatrie an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Als Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapeutin, Coach und Supervisorin hat sie tiefe Einblicke in unser Seelenleben.


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