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Mut zur Utopie

Mut zur Utopie

Unsere Vorstellungen erschaffen die Wirklichkeit — also stellen wir uns eine ideale Welt vor!

Wohin man auch blickt: Man sieht graue Menschen in grauen Anzügen achtlos durch die Straßen in ihre grauen Büros hetzen, um sich für irgendeinen Konzern in entfremdeter Arbeit zu schinden. Man sieht andere, die sich ihre Zweifel und Ängste von der Seele shoppen. Alle eilen sie achtlos vorbei an dem Obdachlosen, der um eine kleine Spende bittet, um am Abend etwas zu essen zu bekommen. Schaltet man den Fernseher an, sieht man Kriege, Gewalt, Katastrophen, hungernde Menschen und Armut, nicht nur in den Nachrichten. Die Krankheiten der Menschheit spiegeln sich auch in ihrer Phantasie. Filme, Videospiele und alle Arten von Kunst und Kultur sind zu einem großen Teil von Gewalt, Angst und Depression gekennzeichnet.

Wir sind gefangen in einer Gesellschaft des beständigen Kampfes, des ewigen Gegeneinanders. Während Staatenlenker Kriege vorbereiten, um Absatzmärkte und Rohstoffe zu sichern, findet sich der Rest der Bevölkerung im allgegenwärtigen Konkurrenzdenken gefangen. Wir konkurrieren um die bessere Arbeit, das höhere Einkommen — oder überhaupt ein Einkommen —, das teurere Auto, den schöneren Partner, die besseren Noten. Doch dieser ewige gesellschaftsinterne Krieg führt zu Ängsten, Mangel, Depressionen, Gewalt und Zerstörung. Leider prägen diese Dinge unsere Gesellschaft heute deutlich mehr als positive Triebkräfte wie Schönheit, Liebe, Glück und Zufriedenheit.

Durch das mittlerweile unvermeidliche Mantra der Alternativlosigkeit scheint jede andere Art und Weise des Zusammenlebens in weite Ferne gerückt. Ganz allgemein fehlt offensichtlich die Vorstellung, dass ein anderes Leben überhaupt möglich wäre. Zu sehr hat sich das Gegenwärtige in unser Bewusstsein, in den Geist der Menschen hineingefressen.

Sicher dazu beigetragen haben auch Betonkopfmarxisten, die linke Utopien in den Augen der Mehrheit diskreditiert haben, und einfallslose Anarchisten, die stets davor warnten, eine Utopie zu skizzieren und sich Vorstellungen über eine bessere Welt zu machen, weil sie sich in ihrem dagegensein eingerichtet haben. Zu sehr auf die Marx’sche Dialektik vertrauend behaupteten sie allesamt, dass im Zuge der Revolution sich die Dinge so ordnen würden, wie es vorgesehen sei. All dies führte zu einer Verödung der menschlichen Vorstellungskraft und in der Folge dazu, dass selbst nach einer etwaigen Revolution wahrscheinlich höchstens die gegenwärtigen Verhältnisse reproduziert würden.

Wollen wir etwas an den heutigen Umständen ändern, müssen wir diese Vorstellungskraft wieder erwecken. Wenn es sich bei der Fantasie des Menschen um einen Acker handeln würde, so gliche dieser gegenwärtig einer fruchtlosen Monokultur, die nur immer wieder das ewig Gleiche produziert, kräftig gedüngt durch die mediale Berieselung und die alltägliche Propaganda der Alternativlosigkeit.

Doch ein wirklich fruchtbarer Acker benötigt keinen Dünger, sondern wächst, richtig bestellt, aus sich selbst heraus. Daher ist es notwendig, diesen Boden und damit die Fantasie der Menschen wieder zu beleben.

Jeder Mensch weiß tief in sich, was er verändern würde an der gegenwärtigen Gesellschaft — vielleicht nicht ganz klar und eindeutig. Es mag mehr ein Gefühl sein, eine unbestimmte Empfindung, ein Verdacht, dass etwas nicht stimmt mit dieser Welt, und dass sie auch ganz anders sein könnte. Diese Gedanken und Gefühle zu nähren ist eine wichtige Grundlage für eine Veränderung, denn wir können nur das ins Leben rufen, was wir in der Lage sind uns vorzustellen.

Die Menschheit braucht dringend Utopien. Nicht unbedingt gleich eine bestimmte Vorstellung davon, wie eine bessere Gesellschaft auszusehen hat, nicht eine weitere Monokultur des Denkens, sondern unzählige Ideen. Es muss kein konkretes Gesellschaftsmodell sein. Es genügen kleine Veränderungen, die das Leben für alle besser machen würden. So bildet jede alternative Vorstellung ein Puzzleteil, aus denen wir dann das gesamte Werk eines lebenswerteren Lebens zusammensetzen können. Doch dazu benötigen wir wieder den Mut zur Utopie, müssen wir das Feld unserer Vorstellungskraft bestellen und einen bunten Garten der Ideen und Einsichten anlegen.

Es genügt jedoch nicht die reine Vorstellung. Der intellektuelle Weg ist gepflastert mit vielen „Wenns“ und „Abers“. Die Utopie muss auch gefühlt werden. Erst wenn das Gefühl sagt, dass die Vorstellung richtig ist, wenn die Vorstellung zu einer lebensbejahenden, euphorischen Grundstimmung führt, die die Hoffnung nährt und die Verzweiflung und Niedergeschlagenheit zerstreut, dann kann sie zu einem konkreten Handlungsmotor werden und dazu ermutigen, schon in der Gegenwart mit der konkreten Umsetzung zu beginnen.

Also: Haben wir den Mut zur Utopie. Stellen wir uns vor, wie eine Welt aussähe, die unseren Idealvorstellungen entspricht. Gäbe es noch Kriege, Hunger, Mord und Totschlag? Würden die Menschen sich noch immer als Feinde, als Konkurrenten betrachten? Wären Hass, Gier und Missgunst die vorherrschenden Gefühle?

Oder wäre eine ideale Welt nicht vielmehr eine, die gefüllt ist mit Überfluss? Überfluss an Liebe und Mitmenschlichkeit, an Freude, Schönheit, Essen und sauberem Wasser, sauberer Luft und sauberem, gesunden Boden, gegenseitiger Akzeptanz, Freundlichkeit, Musik, Lachen und Leichtigkeit?

Muss man in einer idealen Welt noch shoppen, um das Gefühl der inneren Leere zu füllen, muss man sich noch für fremden Profit versklaven, sich im Hamsterrad des ewig Gleichen abstrampeln? Gibt es in einer idealen Welt noch Umweltzerstörung und Plastikmüll? Gibt es noch psychische Krankheiten wie Depressionen und Burnout? Brauchen wir in einer solchen Welt noch Drogen, um uns von der alltäglichen Erniedrigung abzulenken? Behandeln wir einander noch wie Objekte, oder begegnen wir uns auf Augenhöhe und mit Mitgefühl?

All dies muss keine reine in die Ewigkeit vertagte Vorstellung bleiben. Schon heute können wir konkret anfangen, auf eine solche ideale Welt hinzuarbeiten. Wir müssen nur fühlen, dass sie richtig ist. Über das reine Wissen hinaus geht dieses Gefühl. Wissen lässt sich durch Zweifel und Unsicherheit erschüttern und verleitet zur Passivität. Doch ein Gefühl lässt sich kaum durch die vorgeblichen Sachzwänge, durch Zweifel oder Unsicherheiten täuschen. Es übersteht all die Scheinargumente der Logik unserer kapitalistischen Verwertungsgesellschaft, es trotzt der Angst der Mitmenschen, ihrem Spott und ihrer Ignoranz — und stimuliert den Willen zum Handeln.

Nähren wir also unsere Vorstellungskraft, nähren wir das Gefühl, dass die Welt eine ganz andere sein könnte, und dann fangen wir an, danach zu leben. Die Menschheit hat Utopien nötiger als jemals zuvor. Es gibt in dieser Hinsicht nichts zu verlieren, aber eine ganze Menge zu gewinnen.


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