Da setzt sich der Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen in einen leeren Bibliothekssaal und lässt sich vermutlich von seinen Studenten bei einem Monolog filmen, der dann auf YouTube veröffentlicht wird. Seine Ausführungen sollen diejenigen widerlegen, die Friedensverhandlungen im russisch-ukrainischen Krieg fordern. Also solche werden „blauäugige und ahnungslose“ Friedensapostel wie Sahra Wagenknecht, Alice Schwarzer oder Ulrike Guérot angeblich ins diplomatische Feld geführt. Professor Gestwa wird gleich erklären, dass deren Thesen keiner wissenschaftlichen Überprüfung standhalten. Nun durften wir in den vergangenen Jahren ja geradezu hautnah erleben, dass die Wissenschaft auch nicht mehr ist, was sie mal zu sein schien. Deshalb haben wir ein kleines, aber kenntnisreiches Komitee versammelt, das die Widerlegungen des Tübinger Experten unter die Lupe nimmt — Faktenchecker gewissermaßen, ohne allerdings die Anmaßung absolutistischer oder letzter Wahrheit.
Um es vorwegzunehmen: Wissenschaftlich ist an der Gegenrede von Professor Gestwa rein gar nichts. Im Gegenteil: Er wirft mit Behauptungen um sich, die der Tagespresse entnommen zu sein scheinen. So kann in seinen Augen überhaupt keine Rede davon sein, dass Russland sich von der NATO bedroht fühlen könnte. Der Westen hätte längst beschlossen, dass die Ukraine nicht in die NATO kommt, und es gäbe auch keine Militärbasen in den Ländern der NATO-Osterweiterung. Darüber hinaus glaubt er genau zu wissen, warum Wladimir Putin „imperiale Kriege“ führe. Der russische Präsident habe es nämlich nicht geschafft, sein Land „fit für das 21. Jahrhundert“ zu machen, und suche deshalb als großrussischer Feldherr nach Anerkennung.
Das alles wäre nur dumm und peinlich, doch Gestwas abstruse Gemeinheiten repräsentieren die russophobe Einstellung unserer Osteuropaexperten. Soeben hat Wolfgang Michal im Freitag vom 6. April 2023 einen Artikel über „Die Rückkehr der Osteuropaforschung“ veröffentlicht:
„Teils bewusst, teils unbewusst verfolgen sie das ehrgeizige Ziel, die bisherige Zurückhaltung der bundesdeutschen Außenpolitik durch neue imperiale Untertöne zu unterminieren. Es ist fast wie 1902, als die Geschichte Osteuropas als akademische Frontkämpfer-Disziplin geboren wurde.“
Klaus Gestwa macht der verheerenden Tradition seiner Zunft alle Ehre.
Walter van Rossum im Gespräch mit Stefan Korinth, Kees van der Pijl und Jürgen Rose
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