Jean-Ricardo Compere, der in Cap-Haitien an der Nordküste Haitis lebt, spricht stolz von der Schlacht von Vertières (Batay Vètye auf Kreolisch) im Jahr 1803, als wäre es ein Ereignis gewesen, an dem seine Vorfahren selbst teilgenommen hätten. In gewisser Weise war das auch der Fall, da dieses Ereignis den Lauf der Geschichte verändern und 1804 zur Unabhängigkeitserklärung Haitis von Frankreich führen sollte.
Es war auch ein Moment von überregionaler Bedeutung, der das Ende der Ambitionen Frankreichs in Amerika markierte und zum Kauf von Louisiana führte, der die Größe der noch jungen Vereinigten Staaten verdoppelte und die geopolitischen Machtverhältnisse verschob. Da ihm die Einnahmen aus Haiti, der damals profitabelsten Kolonie der Welt, fehlten, sah Napoleon Bonaparte keine andere Möglichkeit, als Louisiana zu verkaufen, um seine Ambitionen in Europa zu finanzieren. Für Haiti und Compere war dies der Höhepunkt der haitianischen Entschlossenheit und Widerstandsfähigkeit.
Der Kampf Haitis kann ohne den Kontext der haitianischen Revolution, die ihren Höhepunkt im Batay Vètye fand und Haiti zur ersten unabhängigen schwarzen Republik der Welt machte, nicht vollständig verstanden werden.
Die Widerstandsfähigkeit und Entschlossenheit der haitianischen Revolutionäre, sich von dem Joch des Sklaventums zu befreien, war ein Vorbild für spätere Revolutionen in Südamerika, Afrika und sogar Europa und ein lebender Beweis dafür, dass die Macht der Kolonialmächte gestürzt werden kann.
Simón Bolivar, der einen Großteil Südamerikas befreite, ließ sich von der Unabhängigkeit Haitis inspirieren und genoss die direkte Unterstützung der damaligen haitianischen Führer. Für seine enorme Leistung wurde Haiti 1825 von Frankreich dazu gezwungen, Reparationen in Höhe von 150 Millionen Goldfrancs zu zahlen, um Frankreichs Verluste auszugleichen. Nach mehreren Jahren aussichtsloser Staatsverschuldung Haitis, reduzierte Frankreich die Reparationen 1838 auf 90 Millionen. Jemima Pierre — Professor of global race, an der University of British Columbia — spricht von Rückzahlungen von 150 bis 200 Milliarden US- Dollar oder mehr, die Frankreich zu leisten hätte. Dabei rechnet sie auf die von den New York Times geschätzte Summe von 21 Milliarden US-Dollar noch 200 Jahre Zinsen dazu, aufgrund der ökonomischen Schäden, die Haiti dadurch entstanden sind.
Nach der Ermordung des letzten gewählten Präsidenten, Jovenel Moïse, am 7. Juli 2021 — angeblich durch eine Gruppe von 28 ausländischen Söldnern — wurde das Land vorübergehend von Ariel Henry geführt, der als illegitim angesehen wurde, da er drei Jahre lang versprochen hatte, umfassende Wahlen abzuhalten. Das Ausbleiben der Wahlen führte schließlich zu seinem Rücktritt im Frühjahr 2024.
Der darauf folgende Übergangs-Präsidialrat (TPC), der erneut mit der Durchführung der ersten allgemeinen Wahlen seit 2016 beauftragt wurde, derzeit von den Vereinten Nationen für die Verwaltung des Landes legitimiert ist und auf der Dringlichkeitssitzung der CARICOM (Caribbean Community) am 11. März 2024 eingerichtet wurde, sollte seine Aufgabe bis zum 7. Februar 2026 erfüllen — dem Datum, an dem der TPC zurücktreten soll. Der „Provisorische Wahlrat“ von Haiti (CEP), der mit der Organisation der Wahlen beauftragt ist, hat die ursprünglich für den 15. November 2025 angesetzten Wahlen bereits zweimal verschoben.
Sowohl die Vereinten Nationen als auch der US Chargé d’Affaires in Haiti warnten den TCP, dass seine „Position nicht auf Lebenszeit“ sei — was als Verweis auf eine Vielzahl gewählter Präsidenten in der Geschichte Haitis zu verstehen ist, sich selbst zum Präsidenten auf Lebenszeit zu ernennen — und drängten ihn, vor dem 7. Februar 2026 allgemeine Wahlen abzuhalten. Am 17. November legte die CEP einen Dekretentwurf und einen vollständigen Kalender vor, in dem der Termin für die Parlamentswahlen frühestens auf den 30. August 2026 fällt.
Für die Haitianer von heute, die in diesem hochkomplexen sozialen und politischen Umfeld und unter fast vollständiger Abwesenheit staatlicher Regulierungen leben, ist die Revolution sowohl ein Prüfstein des kulturellen Gedächtnisses als auch ein Antrieb für die Zukunft.
Die einfachen Haitianer — darunter auch Compere – sind von ihren eigenen Fähigkeiten überzeugt und sagen, dass ihr Kampf — in Bezug auf die Bandenkriege, die seit der Ermordung des Präsidenten in der Hauptstadt Port-au-Prince und den angrenzenden Regionen toben — nicht eine Frage begrenzter Ausrüstung oder Ressourcen ist, sondern vielmehr der mangelnden Bereitschaft der Politiker, tatsächliche Veränderungen herbeizuführen, da dies ihre Entmachtung bedeuten würde.
In Cap-Haitien sieht das Leben ganz anders aus als in der Hauptstadt Haitis. Das Fehlen staatlicher Kontrolle bringt auch hier einige Herausforderungen mit sich, aber so sind zum Beispiel selbst organisierte Verbesserungen durch das Volk, für das Volk, möglich geworden. Hier hat Compere eine Vision: sein Land, seine Menschen und sein Erbe zu feiern, seinen Reichtum an natürlichen Landschaften und historischer Architektur.
Da die haitianische Wirtschaft — organisiert von einem geschlossenen Kreis wohlhabender Haitianer unter Einmischung ausländischer Mächte wie der US-Besatzung im Jahr 1915 — die einfachen Haitianer aus ihren eigenen Märkten verdrängt und ihnen den wirtschaftlichen Aufstieg erschwert hat, ist Comperes Vision eine mutige Perspektive und ganz im Sinne seiner Vorfahren.
Seine Mission ist es, ein umfassenderes Bild von Haiti in die Welt zu tragen und einseitige Darstellungen — wie die jüngste Resolution 2793 des UN-Sicherheitsrats, die die Präsenz internationaler Streitkräfte auf über 5.000 verdoppelt und damit impliziert, dass Haiti nicht in der Lage ist, das Problem selbstständig zu lösen —, in Frage zu stellen in der Hoffnung, die Selbstversorgung seines Landes zu unterstützen, um tatsächlich Veränderungen im Inneren zu bewirken.
„Viele Haitianer teilen meine Vision“, sagt Compere, „natürlich gibt es täglich Schwierigkeiten, aber es ist auch sehr bereichernd, ein besseres Selbstverständnis als selbstbewusstes Volk zu entwickeln, das zur Geschichte und Kultur der Widerstandsfähigkeit und Entschlossenheit beiträgt.“ „Deshalb ist es für uns unerlässlich, die historischen Stätten unserer Vorfahren mit ihren inspirierenden Geschichten zu besuchen und mit der reichen Natur unserer karibischen Früchte, Landschaften und Strände in Kontakt zu bleiben.“ Compere betont insbesondere die Bedeutung der „Citadelle Laferrière“ sowie des „Sans Souci-Palace“ als Teil der haitianischen Geschichte, neben der Fähigkeit, kreativ zu sein, und die am leichtesten in der Kunst gelehrt werden kann.
Die „Citadelle Laferrière“, die 1805 erbaut wurde, um eine weitere Eroberung durch die Franzosen zu verhindern, befindet sich auf dem Berg „Bonnet à L'Eveque“ und bietet einen Blick sowohl auf die Landschaft, als auch auf die Geschichte. Sie ist ein einzigartiges Wahrzeichen, das es sonst nirgendwo in Amerika gibt. Obwohl sie nie genutzt wurde, wurde sie 1982 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Sie offenbart das herausragende strategische Denken der haitianischen Revolutionäre. Jean-Jacques Dessalines, der erste Präsident der freien Nation, ordnete den Bau an diesem bestimmten Ort an, da es die sogenannten „scorched earth tactics“ (Taktik der verbrannten Erde) ermöglichte. Da sie auf dem Gipfel des höchsten Berges der Region steht, bietet sie einen Blick, der auf der einen Seite bis nach Cap-Haitien und auf der anderen Seite bis zum ursprünglichen Landeplatz der französischen Besatzer reicht. Die „Citadelle Laferrière“ macht die Geschichte der haitianischen Revolution nahezu greifbar.
Direkt unterhalb der Zitadelle Laferrière in der Stadt Milot liegen die Überreste des „Sans Souci-Palace“, der in nur drei Jahren — von 1810 bis 1813 — erbaut wurde. Um das technische Know-how für den Bau eines Palastes zu demonstrieren, der mit dem Palais de Versailles in Frankreich vergleichbar ist, und um den Geist eines unabhängigen Haiti zu visualisieren, war dieser Bau für das Selbstbewusstsein der noch jungen Nation von größter Bedeutung. Die Ruinen bewahren die Erinnerung an die Errungenschaften seines Erbauers, Henry Christophe — damals Präsident —, der in diesen Hallen Meilensteine in den Bereichen Landwirtschaft, Außenhandel und Bildung erreichte. Der Palast wurde von verschiedenen Regierungen genutzt, bis er 1842 durch ein Erdbeben zerstört wurde.
Die Academie Haitienne, besser bekannt als „Haitian Academy for the Promotion of Art and Culture“ (HAPAC), bietet Einheimischen, die nach Perspektiven suchen, eine wertvolle Gelegenheit. Jean Faguelson ist die treibende Kraft dieses Kunststudios. Er hat alle Schwierigkeiten bei der Einrichtung und dem Betrieb des Studios überwunden und ist eine wichtige Stütze der lokalen Gemeinschaft — ein weiteres Beispiel für visionäre Widerstandsfähigkeit. Er unterrichtet Kunst von Grund auf und ermöglicht es jedem, die Kunst der Malerei zu erlernen, während er selbst als Vorbild für Unternehmertum in einer ausgrenzenden Wirtschaft steht.
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