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Sicher ist sicher nicht

Sicher ist sicher nicht

Eltern verfolgt heute eine fundamentale Angst: etwas zu versäumen, Entscheidungen für die Zukunft ihrer Kinder zu vermasseln. Gewissheit muss her, und deshalb gibt es einen ganzen Markt der Sicherheit — zum Wohle unserer Kinder?

Glauben Sie daran, dass Kinder mit vier Monaten in der Kita tatsächlich gebildet werden? Oder erst ab zwei oder drei Jahren oder überhaupt nicht?

Denken Sie, dass es besser ist, erst einen Erziehungskurs zu besuchen und dann Wutanfälle ihres Kindes zu unterbinden, oder machen Sie das aus dem Bauch heraus? Und wer sagt Ihnen, was dem Kind schadet und was nicht?

Oder finden Sie Wutanfälle gut? Weil sie die Durchsetzungskraft ihres Kindes stärken?

Und wie steht es mit der Familienplanung? Geschwisterkind sofort zeugen oder noch warten? Den optimalen Abstand zwischen erstem und zweitem Kind diskutieren? Wo sind die Fallstricke?

Ist vierzig zu spät für das erste Kind und zwanzig zu früh? Wo sind die Risiken?

Gibt es ein Smartphone schon in der Grundschule, damit ihr Kind nicht benachteiligt ist und ausgegrenzt wird? Und vor allem: Ist das Kind nicht viel sicherer, wenn es schnell zu Hause anrufen kann?

Geht das Kind zur Gesamtschule oder zur Realschule oder zum Gymnasium? Welche Entscheidung stellt die Weichen für eine sichere Zukunft?

Das sind nur einige der großen Fragen, von denen jede eine gewisse Sprengkraft hat. Wenn Eltern neue Eltern kennenlernen, etwa auf dem Spielplatz oder in der Kita, tasten sie sich in der Regel langsam vor und suchen Übereinstimmungen mit den oben genannten Fragen und Antworten. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sich entschiedene Impfgegner mit entschiedenen Impfbefürwortern zum Grillen verabreden. Veganer grillen eher selten. Und wer Wutanfälle der eigenen Kinder toll findet, grillt nur einmal mit.

Hingegen werden kleine Abweichungen bei weniger wichtigen Fragen schon mal toleriert. Es darf auch ein Biokeks sein, wenn er denn schmeckt. Und man hat Verständnis für eine Mutter, die fast einen Herzinfarkt bekommt, weil ihr Kind von einer kleinen Mauer geplumpst ist und weint. Schwerer ist es für diese Mutter, mit anzuschauen, wie die Kinder der anderen ohne Fahrradhelm über die Straße brettern oder auf Bäume klettern. Das verunsichert sie und bestärkt sie darin, das eigene Kind noch mehr zu beschützen. Sie wird sich andere Eltern suchen, die ihre Haltung bestärken.

Damit sind wir beim Punkt. Das Beste für das Kind, das zweifellos alle Eltern wünschen und wollen, ist heutzutage Sicherheit, ist eine Erfolgsgarantie, ist die Gewissheit: alles wird gut.

Es geht nicht mehr nur um einfache Überlebensstrategien, um das Zurechtkommen auf dieser Welt, darum, für sich zu sorgen und seinen eigenen Weg zu finden. Es geht nicht darum, zu zeigen: „Schau her, wir Eltern machen es so und uns gefällt es gut, so zu leben.“ Aus dieser Haltung spricht eine gewisse Gelassenheit und deutet darauf hin, dass es auch ganz andere Lebensentwürfe geben kann.

Heute ist die geheime Botschaft an die Kinder eine ganz andere. Sie lautet: „Wir haben große Angst um deine Zukunft, weil wir unsere auch nicht mehr einschätzen können. Das Leben muss irgendwie bewältigt werden und wird zunehmend unsicherer.“

Aus diesem Grund muss Gewissheit her. Deshalb greifen Eltern nach jedem Konzept, Rezept oder Material, das mehr Sicherheit verspricht. Dieses Verlangen bezieht sich auf nahezu alle Lebensbereiche der Kinder und beginnt bereits vor der Geburt.

Es wird nichts dem Zufall überlassen, weil die Angst, etwas zu versäumen, etwas zu übersehen oder zu nachlässig zu sein, jede Entscheidung beherrscht. Denn wenn etwas schiefgeht, dann ist das immer die Schuld der Eltern, meint man jedenfalls.

Wenn etwas schiefgeht, dann ist das immer schlimm. Dann scheitert das Kind in der Zukunft. Wie das vermeintlich aussieht, kann man täglich den Szenarien entnehmen, die im Fernsehen, etwa bei RTL, das Leben der Abgehängten, der vermeintlich Überflüssigen und der Gescheiterten bebildern. Auch kennt man schon den ein oder anderen Jugendlichen vom Hörensagen, der die Schule abgebrochen hat und nur noch Computerspiele spielt. Grauenhaft!

Wo es ein starkes Bedürfnis bei sehr vielen Menschen gibt, ist auch der Markt nicht mehr weit. Und so werden inzwischen unzählige Produkte auf den Markt geworfen, die vor allem Sicherheit versprechen. Spezielle, mit Vitaminen angereicherte Kinderlebensmittel werden ebenso verkauft wie unzählige Erziehungsratgeber, Lerncomputer schon für die Kleinsten und Kurse zur frühen Förderung.

Kindergärten werben mit ihren Bildungsangeboten und Kursen und holen vermehrt externe kommerzielle Anbieter ins Haus.

Damit in der Kita alles optimal läuft und jedes Defizit frühzeitig erkannt und weggefördert werden kann, werden Kinder regelmäßig getestet, systematisch beobachtet, die Ergebnisse dokumentiert und die „Macken“ zu beseitigen versucht.

Das suggeriert den Eltern die Sicherheit, dass nichts anbrennen kann. Eltern haben verinnerlicht: Schon sehr früh werden die Weichen gestellt für Erfolg oder Misserfolg. Es gibt Zeitfenster. Und wehe, wenn die geschlossen sind.

Dieser „Markt der Sicherheit“ verspricht sehr großes Wachstum vor allem im Bereich der Bildung. Bildung ist das Schlüsselwort. Unablässig tönt es aus aller Munde: Bildung ist der Schlüssel zum Erfolg. Marktführer wird man dann, wenn man Eltern ein Höchstmaß an Sicherheit versprechen kann, das heißt, beispielsweise wirklich erfolgreiches, geprüftes, evaluiertes Lernen.

Dafür ist es natürlich wichtig, dass die Angst bleibt, dass die Angst geschürt wird und dass die Produkte Prüfsiegel und Garantien auf ihren Labels haben. Um die Angst wach zu halten, kaufe man sich einfach Anteile an einem Fernsehsender, gerne RTL, der die schlimmen Bilder der Abgehängten, der Gescheiterten zeigt, und sorge dafür, dass diese nicht weniger werden …

Um das Versprechen zu erneuern, dass man sich „ehrlich“ um die Bildung bemüht und allen Kindern einen sicheren Erfolg ermöglichen will, gründe man alsdann eine reiche gemeinnützige Stiftung, die maßgeblich um diese Themen kreist und immer wieder „objektive“ Studien in großer Menge in die Öffentlichkeit bringt.

Um den Markt vorzubereiten und zu sichern, beeinflusse man mit dieser Stiftung Entscheidungsträger, Medien und Wissenschaft, und trage dazu bei, dass alle Bildungsstrukturen und der Bildungsbegriff sich dem neuen Produkt anpassen.

Dann fehlt nur noch das Produkt: Bezahlbildung, Tests, Rankings und vieles andere.

Aber, wissen Sie, ich bin jetzt müde. Wir waren den ganzen Tag mit unseren Kindergartenkindern unterwegs. Wir waren am Fluss, der gerade renaturiert wird, und haben in der Sonne gespielt, Steine geworfen, Stöcke gesammelt und mit einem spontanen Picknick den ersten Frühlingstag begrüßt. Die Sonne war so stark, dass wir schon Sonnencreme auftragen mussten und auf dem Rückweg lagen alle dicken Jacken und Mützen im Bollerwagen.

Kann es nicht sein, dass Bildung ganz anders und woanders zu finden ist? Dass das nicht Bildung ist, was man uns hier zur Abwehr unserer Angst anzudienen und zu verkaufen versucht?


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