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Sog aus der Zukunft

Sog aus der Zukunft

Soll der Kapitalismus uns nicht in den Untergang führen, ist das Nachdenken über alternative Gesellschaftsmodelle alternativlos.

Warum Menschen über Utopien nachdenken, ist klar. Wenn das Bestehende als schlecht, ungerecht, zerstörerisch, gar als lebensfeindlich oder sogar existenzbedrohend erkannt ist, dann stellt sich die Frage nach Alternativen. Wer über Alternativen nachdenkt, ist noch nicht unmittelbar bei der Utopie angekommen, denn das Ersinnen utopischer Welten geht einen Schritt weiter, als nur zu überlegen, wie es besser sein könnte. Die Überlegung wie eine bestmögliche Welt ausschauen könnte, ist die logische Fortsetzung der Frage nach Alternativen zum Bestehenden. Und gerade dann, wenn das gesamte System, ohne Hoffnung auf Änderung oder Besserung, als zugrunde liegendes Übel ausgemacht ist, werden die Fragen grundsätzlicher.

Der Anspruch ist hoch, scheint verwegen und lässt den Ansatz gleichsam anmaßend und unrealistisch erscheinen. Darunter geht es aber nicht, denn man denkt nicht über das zweitbeste System unterhalb der Utopie nach. Utopia ist ein Sehnsuchtsort, ein Gedankenkonstrukt und der Versuch, eine bestmögliche Welt zu beschreiben.

Die Geschichte von der gedanklichen Entwicklung utopischer Welten ist lang. Platon hat vor ungefähr 2.400 Jahren mit der „Politeia“ die erste umfassende Beschreibung eines idealen Staates entworfen. Im fiktiven Gespräch zwischen seinem Lehrer Sokrates und anderen zeichnet Platon einen ständischen Stadtstaat, der angeführt von den „Philosophenherrschern“ mit den Wächtern und Kriegern, sowie den Bauern und Handwerkern noch zwei weitere Stände enthält. Die Aufhebung des Privateigentums — bei Platon gilt das für die ersten beiden Stände — wird zu einer Konstanten, die in der einen oder anderen Form für viele folgende utopische Entwürfe gilt. Es dauert eine Zeit, bis der nächste große Entwurf vorgelegt wird.

Es ist das Zeitalter der Seefahrer, der europäischen Entdeckungen und Eroberungen als der englische Lordkanzler Thomas Morus im Jahr 1516 sein „Utopia“ veröffentlicht, das als ein Hauptwerk der utopischen Literatur namensgebend für das gesamte Genre wird. Ausgehend davon entstehen in den folgenden Jahrhunderten weitere Werke der utopischen Literatur, so etwa „Die Sonnenstadt“ des italienischen Mönchs und Philosophen Tommaso Campanella oder „Nova Atlantis“ von Francis Bacon. Im Zeitraum rund um die Französische Revolution ersinnen die Frühsozialisten ideale Welten, die sie im Unterschied zu ihren Vorgängern, noch zu Lebzeiten zu realisieren hoffen. Der Übergang zu den Träumen von Sozialismus und Kommunismus im 19. Jahrhundert ist nahtlos.

Utopien gehören zum Menschen dazu

Utopien haben die menschliche Zivilisationsgeschichte begleitet. Je größer und je komplexer die Systeme menschlichen Zusammenlebens werden und je mehr sie Unzulänglichkeiten und Verwerfungen gleichzeitig mit sich bringen, desto mehr kommt es zu Überlegungen, was grundsätzlich anders und besser gemacht werden könnte. Mit Beginn der Frühen Neuzeit, dem Entstehen der großen Nationalstaaten und dem Vordringen der kapitalistischen Wirtschaftsweise, nehmen die Utopien verstärkt zu.

Der deutsche Philosoph Ernst Bloch, der in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ auch eine Geschichte der Utopie darstellt, geht genauso wie Theodor W. Adorno davon aus, dass die utopische Intention eine zutiefst menschliche Eigenschaft ist, die einfach zum Menschen dazugehört. Das befürchtet auch der Historiker und ehemalige Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Joachim Fest, der Utopien kritisch betrachtet und der ein „durch die Jahrhunderte (…) nicht abreißendes Menschheitsgespräch über ein besseres, befriedetes Dasein“ erkennt.

In seinem Buch „Der zerstörte Traum — Vom Ende des utopischen Zeitalters“ urteilt Fest, dass „es immer wieder Einzelne oder Gruppen geben wird, die sich damit nicht abfinden und ihre Kritik zum Bild einer besseren, Gerechtigkeit und Glück verheißenden Ordnung erweitern werden“ (1). Er sagt, dass auch nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Sozialismus „die utopische Sehnsucht (…) nicht verstummt“ sei. Mit Blick auf das, was aus der Französischen Revolution geworden ist und auf die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts meint Fest, dass es besser sei, fortan ohne die Träume von einer idealen Welt zu leben.

Richtig ist, dass die utopischen Weltentwürfe aus einer Kritik des Bestehenden resultierten und dass sie nie unabhängig von der Zeit ihrer Entstehung waren und sind. Platons idealer Staat kannte noch immer die Sklavenhaltung, die Utopie des Frühsozialisten Louis-Sébastien Mercier noch einen König Louis und eine heutige Utopie käme womöglich nicht ohne die Begriffe der Nachhaltigkeit und der Ressourcenschonung aus. Die jeweils umgekehrte Vorstellung ist absurd. Platons Thema war nicht die Zerstörung der Natur und eine heute formulierte Utopie, die die Sklavenhaltung integriert, ist nicht mit mal mit äußerster Fantasie vorstellbar.

Nicht ganz unabhängig von ihrer zeitlichen Entstehung ist auch die grundlegende Kategorisierung von Utopien in solche, die ein staatliches Modell zugrunde legen, und solchen, die anarchistisch organisiert sind. Dass Platon über einen idealen Stadtstaat nachgedacht hat, ist naheliegend. Genauso ist nachvollziehbar, dass der deutsche Politologe und Utopieforscher Richard Saage vermutet, dass mit dem Jahr 1989 die autoritär-etatistische Linie des utopischen Denkens an ihr Ende gekommen ist. Aber anders als Fest, der zum gleichen Zeitpunkt das „Ende des utopischen Zeitalters“ erhoffte, empfindet Saage Utopien als nützlich, wenn nicht sogar notwendig.

Aus der Traum

Die Ideen von einer anderen Welt sind zerstoben. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten die großen linken Strömungen und Bewegungen an Kraft verloren und spätestens mit dem Ende der Sowjetunion — doch eigentlich schon viel früher — war der Traum von einer anderen Welt ausgeträumt. Auf dem Höhepunkt der Arbeiterbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Ideen von einer besseren und gerechteren Welt virulent. Sie versprachen die Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung und zeichneten das entfernte Bild einer menschlicheren Gesellschaft. Die Analyse der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse konnte als zutreffend direkt nachempfunden werden.

Eine konkrete Vorstellung von der zukünftigen Welt, vom Sozialismus und vom Kommunismus, gab es indes nicht. Das wenige, was dazu gesagt wurde, war zugleich noch sehr vage. Das Ende der Herrschaft und die vollends befreite Gesellschaft, in der jeder nach seinen Bedürfnissen und nach seinen Fähigkeiten leben und sich entfalten kann, war ein hoffnungsvolles und zugleich weichgezeichnetes Bild. Die Verbindung aus einer nachvollziehbaren Analyse des Gegenwärtigen und einer sehr unbestimmten, aber verheißungsvollen Zukunft, mobilisierte die Massen und gerade in der Unbestimmtheit der zukünftigen Welt lag gewiss eine große Stärke.

Die Geschichte hat uns eines Besseren belehrt. Es gab keinen Determinismus, der den Kapitalismus an sein Ende und den Sozialismus herbeigeführt hätte. Die Herrschaft des Proletariats ist nicht wie geplant verlaufen und der Übergang vom Sozialismus in den Kommunismus blieb eine gedankliche Wunschvorstellung.

Die Utopien sind verschwunden

Heute leben wir in einer Welt ohne Utopien. Es gibt keine Vorstellung von einer anderen möglichen Welt, keine gemeinsamen Visionen und keine erdachte Alternative zum kapitalistischen System. So es sie gibt, sind sie nicht weithin bekannt und spielen im Denken über Alternativen keine Rolle. Durch die real existierenden Systeme des 20. Jahrhunderts sind die Ideen vom Sozialismus und Kommunismus diskreditiert und das, was es an existierenden staatlichen Alternativen noch gibt, ist fast alles, nur nicht das, woran man denkt, wenn man von einer befreiten Gesellschaft spricht, in der jeder nach seinen Fähigkeiten und nach seinen Bedürfnissen leben kann.

Die freie Marktwirtschaft in Verbindung mit der parlamentarischen Demokratie werden als die bestmögliche Ordnung betrachtet, als zivilisatorische Krönung und „das Ende der Geschichte“. Die Verwüstungen und Ungerechtigkeiten, die Kriege, die Vertreibungen, der Hunger, die Ausbeutung von Menschen und Tieren, die Zerstörungen der Natur und die ungleiche Verteilung von Geld, Ressourcen und Lebenschancen von der globalen bis zur lokalen Ebene: Das alles wird wahrgenommen und kritisiert. Es geht aber nie so weit, dass das System selbst ins Blickfeld genommen und zum Gegenstand einer kritischen Betrachtung wird.

Genauso sind die großen und für die Menschheit existenziellen Gefahren bekannt: die Gefahr eines Atomkriegs — durch den Krieg in der Ukraine unmittelbar bewusst geworden; der Klimawandel zusammen mit der Zerstörung der gesamten Biosphäre und die Aushöhlung unserer Demokratien, die zunehmend autoritäre Strukturen gebiert. Die Probleme und Gefahren stehen auf der politischen Agenda, sie werden diskutiert und behandelt. Wirkliche Lösungen, die nachhaltige Erfolge in Aussicht stellen, gibt es allerdings keine.

Was fehlt, ist eine weithin wahrnehmbare systemische Kritik, die den Kapitalismus selbst ins Zentrum rückt. Der Raum für Gedanken, Diskussionen und Meinungen ist sehr beengt, um nicht zu sagen, fast schon kanalisiert.

Das Bewusstsein über die systemischen Ursachen ist dabei eine wichtige Voraussetzung, um grundsätzlicher zu denken und über systemische Alternativen zum Kapitalismus nachzudenken. Auf diesem Weg kann man bei einer Utopie landen.

Systemalternativen sind kein Diskussionsgegenstand

Die Frage ob und warum man über Utopien nachdenken sollte, steht an dieser Stelle noch aus. Welchen Nutzen haben also Utopien? Ist es hilfreich über alternative, gar über bestmögliche Systeme nachzudenken oder liegt darin vielleicht eher eine Gefahr und der Schaden überwiegt den Nutzen? Und ohnehin: Sind sie nicht allesamt unrealistisch und ist das Nachdenken damit nicht eine müßige und theoretische Übung, weil die Überlegungen zu weit vom Bestehenden entfernt sind und man nicht wissen kann, was bis dahin alles passieren kann?

Gespräche über alternative Systeme dauern meist nicht lange: „Ja, du hast schon recht, die Verteilung des Reichtums ist ungerecht. Das müsste man ändern. Aber das ist typisch, die an der Spitze bereichern sich alle selbst. So ist eben der Mensch. Die Umweltzerstörung? Klar, das ist auch ein großes Problem. Es bringt aber nichts, wenn nur wir da was machen und alle anderen nicht. Das Gegenteil passiert doch gerade überall auf der Welt und willst Du den anderen den Fortschritt verwehren? Ein anderes System? Wie soll das gehen? Beschränkung von Macht? Ein Rätesystem? Anders produzieren? Das ist doch unrealistisch.“

Es stimmt, dass Utopien oft unrealistisch sind. Im besten Falle sind sie gründlich durchdacht, liefern gute Ideen und Impulse für eine bessere Welt und sind in sich konsistent. Dann sind sie zumindest in dem Sinne realistisch, dass sie denkbar sind und man sagen kann, dass so eine Welt theoretisch schon möglich wäre, wenn man nur dahin käme. Das aber ist genau das, was dann nicht mehr denkbar ist und es ist vor allem das, was gemeint ist, wenn man von unrealistisch — von utopisch — spricht: „Das klingt alles nicht schlecht, aber da kommen wir doch nie hin. Völlig unrealistisch.“ Dieser Punkt zählt. Die Utopie ist das eine, ein möglicher Weg dorthin noch etwas ganz anderes.

Utopien sind wertvoll

Der Wert, den eine Utopie haben kann, wenn sie mehr als nur ein vages Bild ist und mehr als nur ein unerreichbarer Nichtort sein soll, kann in drei eng verbundenen Teilen aufgefasst werden: Erstens liefert sie ein Zielbild und damit eine Orientierung, wohin der Weg führen könnte. Ohne ein solches Zielbild bleiben die vielen utopischen Versatzstücke, die bereits in der Gegenwart existieren und gelebt werden und die einzelnen Gedanken, wie eine bessere, eine utopische Welt ausschauen könnte, unklares und diffuses Stückwerk. Sie fügen sich in Gedanken kaum — oder nur sehr schwer — und in Gänze nicht von alleine zu einer anderen Welt. Ohne Ziel tappt man im Dunkeln und kommt nur langsam voran.

Zweitens kann eine solche ausformulierte Utopie den Gedanken festigen und verbreiten, dass eine andere Welt nicht nur ein frommer Wunsch und Hoffnung ist, sondern wirklich möglich ist. Alleine zu sagen, dass eine andere Welt möglich ist, ist wenig überzeugend. Gewiss kann man diese Überzeugung für sich gewinnen, wenn man das kapitalistische System lange genug kritisch betrachtet, ein im Grunde positives Menschenbild teilt und die Dinge auf ein einfaches Niveau herunterbricht und sich die Frage stellt, was es eigentlich für ein gutes Leben für alle braucht. Das nämlich ist nicht viel und sollte entsprechend einfach herzustellen sein.

Es bleibt aber ein großes Fragezeichen, wie denn nun wirklich eine andere Welt jenseits von Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie ausschauen könnte. Schon eine kurz gefasste, ein wenig konkreter werdende Utopie kann darauf eine Antwort geben und überzeugender wirken als ein Einzeiler. Andernfalls bleibt man gedanklich an der Stelle stehen, dass sich Politik und Ökonomie nicht besser als in Form der parlamentarischen Demokratie und der freien Marktwirtschaft organisieren lassen: „Wie denn auch sonst?“

Drittens ist es die Wirkmächtigkeit von Ideen, die für eine Utopie spricht. Wobei es schon stimmt, was Joachim Fest kritisch feststellt, dass Ideen auch schlecht sein beziehungsweise zu etwas Schlechtem führen können. Mit seiner Fragestellung, ob nicht sogar „das Scheitern“ eine „unvermeidbare, im Wesen aller idealen Ordnungskonzepte begründete Konsequenz ist“, geht er über diese Möglichkeit hinaus. Die Wirkmächtigkeit von Ideen spricht also gleichsam für und gegen die Ideen selbst. Darüber, dass Ideen Macht entfalten können, herrscht Einigkeit über politische Lagergrenzen hinweg. Fest bringt es kurz exemplarisch auf den Punkt:

„Tatsächlich hat das marxistische Heilsversprechen Generationen von Anhängern zu Akten der Hingabe gebracht, wie sie nur von den großen Religionsgründungen bekannt sind“ (2).

Eindrucksvoller formulierte den Gedanken Friedrich August von Hayek auf der ersten Konferenz der Mont Pèlerin Society. Das „Opening Paper“ hat von Hayek später wiederholt vorgetragen und kann als strategisches Konzept der Mont Pèlerin Society aufgefasst werden. Hayek beruft sich dabei ausgerechnet auf seinen ökonomischen Widerpart John Maynard Keynes, den er ausführlich zitiert:

„... die Ideen der Nationalökonomen und Philosophen wirken stärker, als allgemein angenommen wird, und zwar sowohl wenn sie recht haben, als auch wenn sie irren. Tatsächlich wird die Welt kaum von etwas anderem regiert. Wahnsinnige an der Macht, die Stimmen im Äther hören, holen sich ihre Fantasien aus irgendeinem akademischen Schmierer von Jahren vorher.

*Ich bin überzeugt, dass die Macht wirklicher Interessen weit überschätzt wird im Vergleich mit der langsamen Infiltration von Ideen. Freilich nicht sofort, sondern erst nach einer gewissen Zeit; denn auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Staatsphilosophie gibt es wenige, die von neuen Theorien beeinflusst werden, nachdem sie das 25. oder 30. Lebensjahr überschritten haben, sodass die Ideen, die Beamte oder Politiker oder sogar Agitatoren verwenden, gewöhnlich nicht die neuesten sind. Aber früher oder später sind es die Ideen und nicht die Interessen, die für Wohl oder Übel gefährlich werden“ (3).

Für Keynes stand ebenso wie für Hayek die Idee im Mittelpunkt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine ausformulierte Utopie als Zielbild dienen kann. Sie kann darüber hinaus zu der Überzeugung beitragen, dass eine Alternative zum Kapitalismus und zur parlamentarischen Demokratie wirklich möglich ist und letztlich kann sie als Idee das Potenzial entfalten machtvoll zu werden, Menschen zu bewegen und eine große Wirkung zu erzielen.

Macht korrumpiert — der Anarchismus bleibt

Die Ideen vom Sozialismus und Kommunismus waren in vielem nicht wirklich schlecht. Sie sind aber auch zu Recht kritisiert worden, wobei eine Kritik im Nachhinein natürlich immer einfacher ist. Gerade der Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus und die „Diktatur des Proletariats“ haben sich als übler Fallstrick erwiesen. Die Ursachen des Scheiterns waren gewiss vielfältig und doch spielt sicherlich die Frage der Macht sowohl im Übergang vom einem zum anderen System, wie überhaupt in einer alternativen Ordnung, eine zentrale Rolle.

Die Ansicht, dass Macht korrumpiert, ist erneut über politische Lagergrenzen hinweg weit verbreitet. Um das mit Blick auf eine alternative Ordnung mal positiver zu betrachten, ist das Ergebnis der Arbeit des niederländischen Historikers Rutger Bregman hilfreich, der mit seinem Bestseller „Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit“ die besseren Eigenschaften des Menschen betont, indem er sagt, dass Menschen im Grunde gute Wesen sind, die einander selbstlos helfen. Einfach, weil es in ihrer Natur liege. Diese radikale Idee könne eine Revolution entfesseln. Er sagt, dass die kürzeste Zusammenfassung seines Buches lauten würde, dass die meisten Menschen ziemlich in Ordnung sind, aber dass Macht korrumpiert. Mit Blick auf zukünftige Utopien und der Einschätzung von Richard Saage folgend, schließt sich der Kreis an dieser Stelle schon fast: Es bleibt die anarchistische Linie.

Marktwirtschaft und parlamentarische Demokratie als Utopie?

Anders als in den sozialistischen Staaten ist die kapitalistische Ordnung und sind die parlamentarischen Demokratien und die Nationalstaaten weitaus weniger das Ergebnis singulärer Ideen als eines langwierigen historischen Prozesses, der eben genau diese Ordnung hervorgebracht hat. Daraus allerdings folgt noch keine Naturgesetzmäßigkeit dieser bestehenden Ordnung. Sie ist, wie jede gesellschaftliche Ordnung, menschengemacht und damit auch durch Menschen veränderbar.

Die zugrunde liegenden Ideen des freien Marktes und der parlamentarischen Demokratie klingen dabei gar nicht so schlecht und wären sie vorab als reine Ideen formuliert worden — gar in Form einer utopischen Ordnung —, wären sie vielleicht zustimmungsfähig gewesen. Auch hier gilt, dass das existierende System viel einfacher zu beurteilen ist und dass man im Zweifel gar nicht weiß, was aus einer vielleicht gut klingenden Idee einmal wird.

Die Idee von der freien Marktwirtschaft in Verbindung mit der parlamentarisch-demokratischen Ordnung, zusammen mit den demokratischen Grundrechten lässt sich überzeugend skizzieren: Der Markt reguliert sich von alleine einfach durch Angebot und Nachfrage. Jeder kann an diesem Markt als Verkäufer und Käufer teilnehmen. Durch den Wettbewerb setzen sich die besten Produkte durch und der Preis wird reguliert. Die marktwirtschaftliche Ordnung schafft Innovationen, verspricht technologischen Fortschritt und sorgt für eine Steigerung des Wohlstands.

Der politische Bereich ist naheliegend organisiert. In freien Wahlen können die Bürger ihre Vertreter wählen, die ihre Interessen vertreten sollen. Die Politiker sind den Menschen zur Rechenschaft verpflichtet und können abgewählt werden. Die Gewaltenteilung soll sicherstellen, dass zu große Macht zu keinem Missbrauch führt.

Die demokratischen Grundrechte der Meinungs- , Bewegungs- und Versammlungsfreiheit und das Koalitionsrecht bilden zusammen mit den Medien als vierter Gewalt die Basis für eine funktionierende Demokratie. Dazu noch die Rechtsstaatlichkeit und die Sozialversicherungen: Et voilà! Sogar die Frage der Machtverteilung ist in dieser Überlegung berücksichtigt. An dieser Stelle könnte nun eine Kapitalismuskritik anschließen, die aber ausbleiben soll. Damit lassen sich — und sind es ja bereits auch — Regalwände füllen.

Die radikale Linke in Deutschland ist auf der Suche

Wohin führen diese Überlegungen? Der letzte Gedanke ist ein Einwand gegen die Utopien und doch soll er nicht zu mehr führen, als zu sagen, dass eine jede Idee, die eine alternative Ordnung verspricht, skeptisch und mit Vorsicht zu betrachten ist. Der Teufel steckt mitunter im Detail, welches man vielleicht nicht sieht und vielleicht nicht einmal erahnen kann. Wohin die Reise führt, weiß man nicht. Was also tun, wenn die Utopie anderseits doch so viel verspricht und sie immer wieder aus den Menschen herausdrängt?

In der radikalen Linken in Deutschland hat in der Erkenntnis der eigenen Wirkungslosigkeit und Ohnmächtigkeit vor einigen Jahren ein Suchprozess nach neuen Strategien begonnen. Die auf Kampagnen orientierte Politik und das Gefangensein im eigenen Dunstkreis wurden dabei als zentrale Probleme ausgemacht. Resultierend aus dieser Erkenntnis rückten die lokale Arbeit und die Hilfe zur Selbstermächtigung vor Ort in den Vordergrund.

Die Verankerung einer revolutionären Praxis soll dabei nicht nur bisher unerreichte Teile der Bevölkerung einbeziehen, sondern anhand konkreter Erfahrungen zeigen, dass Widerstände überwunden werden können. Gleichzeitig geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen System. Was nicht auftaucht, sind konkrete Vorstellungen und Visionen einer anderen Welt. Es geht also nicht um den Aufbruch zu einem bestimmten Ziel, namentlich zu einer ausformulierten oder auch nur skizzierten Alternative zum Kapitalismus.

Im Gegenteil: Inspiriert unter anderem von den Kämpfen der Befreiungsbewegungen in Chiapas in Mexiko oder in Rojava im nördlichen Syrien dient das Motto „fragend schreiten wir voran“ als strategische Richtschnur. Sicherlich besteht, nicht allein wegen der spürbar händeringenden Suche nach einem besseren System, eine Offenheit gegenüber utopischen Ansätzen und Ideen, eine ausformulierte Alternative allerdings trifft auf wenig Zuspruch.
Vermutlich und auch nicht zu Unrecht spielen hier die Erfahrungen mit den gescheiterten Ansätzen in der Vergangenheit eine wichtige Rolle.

Zudem gibt es genügend Mahner, die eindringlich genau davor warnen und die in allem eher den Weg der schrittweisen Emanzipation als gangbar weisen. Noam Chomsky und Rainer Mausfeld sagen unisono, dass man sich davor hüten solle, jemandem zu folgen, der behauptet, zu wissen, wie eine andere Gesellschaft ausschaue und wie man dorthin gelange.

Liegt darin eine generelle Abneigung gegenüber Utopien oder ist es auch hier die Gefahr, die in den Erfahrungen der Vergangenheit gesehen wird? Das „fragende Voranschreiten“ hat seine Berechtigung und ist als Weg nachvollziehbar. Anderseits erscheint diese Gangart anhand der akuten und drohenden „Gefahren des Untergangs“ als deutlich zu langsam und sie liefert ebenso keine Garantie an einen Ort zu gelangen, der wünschenswert ist.

Die Enden zusammenführen — Theorie und Praxis verbinden

Das „fragende Voranschreiten“ ist die emanzipatorische Praxis. Zur Praxis, die den Weg zu einer bessern Welt und einer Alternative zum Kapitalismus weisen, gehören auch die vielen kleinen utopischen Inseln und Schlaglichter, die schon heute den Weg ins Morgen weisen. Anarchistische Gemeinschaften, kollektive Betriebe, lokale Kreislaufwirtschaften, ökologische Landwirtschaft, eine vegane Ernährung, erneuerbare Energien, Repair-Cafés, Wohnungsgenossenschaften, Tauschringe oder Ideen wie das Grundeinkommen könnten Teil einer anderen Welt sein. Die Erprobung in der Praxis zeigt dabei, was möglich ist, welche Anpassungen man vielleicht vornehmen muss oder ob sich die ganze Idee in der Praxis als nicht durchführbar erweist.

Gegenüber der emanzipatorischen Praxis sind Utopien und Skizzen einer anderen Welt oder auch die Gedanken, auf welchen Wegen man dorthin gelangen könnte, eine Näherung von der anderen Seite. Es sind Ideen und theoretische Überlegungen, die mit den Bemühungen aus der Praxis zusammengeführt werden können.

Dabei spricht alles dafür, die Theorie genauso flexibel zu halten wie die Praxis und im Prozess der Näherung wechselseitige Anpassungen vorzunehmen.

Utopien als Ideen von einer möglichen anderen Welt haben einen großen Wert, indem sie deutlich machen, dass eine andere Welt tatsächlich möglich ist. Sie können die losen Fäden in der Praxis zu einem größeren Ganzen zusammenführen und auf ein Ziel orientieren, dass das Potenzial hat, Menschen anzuregen und aktiv auf diesem Weg mitzunehmen.

Genauso wie die Utopie selbst verlangt auch die theoretische Auseinandersetzung mit dem Weg zu einer anderen Welt erhöhte Aufmerksamkeit, damit nicht erneut an dieser Stelle das Stolpern und der tiefe Fall beginnt. Ohnehin hat der Weg unmittelbaren Bezug zur emanzipatorischen Praxis, denn der Weg beginnt immer im Hier und Jetzt. Theorie und Praxis gehören auch hier zusammen. Sie stehen nicht im Widerspruch, sondern können sich gegenseitig bereichern.

Lasst uns über Alternativen reden!

Was fehlt, ist eine Alternative zum Kapitalismus und auch zur parlamentarischen Demokratie oder zusammenfassend gesagt: eine Systemalternative. Vor allem fehlt es zunächst an einer Diskussion über solche Alternativen. Dazu gehörte dann auch die Diskussion über Wege in diese oder jene andere Welt und darüber, was bereits schon vorhanden ist, was daran gut ist oder was noch besser gemacht werden könnte.

Gut scheint der Gedanke, sich dabei direkt auf autonome Strukturen zu konzentrieren. So wie das etablierte Parteiensystem und die parlamentarische Demokratie nicht das geeignete Vehikel sind, um das System zu überwinden, so wenig geeignet ist alles, was sich im weitesten Sinne unter dem Begriff der bürgerlichen Medien zusammenfassen lässt, wenn man an den Raum für eine Diskussion über Alternativen zum Kapitalismus denkt.

Es fehlt eine systematische und andauernde Auseinandersetzung damit, wie wir uns vom kapitalistischen System lösen können und wohin wir uns stattdessen bewegen könnten. Und um es zur Abgrenzung noch einmal deutlicher zu sagen: Das ist keine unabhängige, aber eine andere Diskussion als die kapitalismuskritische Diskussion. Letztere ist lange und ausgiebig geführt worden, auch wenn sie im allgemeinen Bewusstsein nicht verankert ist und aus ihrem Nischendasein bisher nicht hervortreten konnte. Sie kann und muss fortgesetzt werden, und sie muss größere Kreise ziehen, aber sie ersetzt keinesfalls den Austausch über systemische Alternativen.

Wir müssen dabei nicht von vorne beginnen. Stattdessen können wir aufbauen auf den vielen Überlegungen und Ideen, die bereits existieren. Wir können in die Geschichte und in die Praxis schauen. Wie eine bessere Welt und eine Alternative zum Kapitalismus und auch zur parlamentarischen Demokratie ausschauen könnte, lässt sich aus einer Analyse des Bestehenden ableiten. Mindestens wird daraus ersichtlich, wie es nicht gehen kann.

Die Frage, die sich stellt, ist, wie eine solche Diskussion initiiert werden kann und wie es möglich gemacht werden kann, dass sie größere gesellschaftliche Kreise zieht und nicht nur, wenn überhaupt, in einer Nische — egal ob im Elfenbeinturm oder klandestin im Hinterzimmer in der verrauchten Eckkneipe — geführt wird. Was es nicht einfacher macht: Will man diese Diskussion in größerer Dimension — gar mit allen — führen, dann müsste gleichsam der Nebel um die Systemunordnung gelichtet und der Kapitalismus ins Zentrum der Kritik gerückt werden. Zu lange aufhalten sollte man sich mit dem Letztgenannten aber nicht, damit endlich die Diskussion um Alternativen beginnt.

Ja, eine andere Welt ist möglich. Aber das alleine ist zu wenig. Das Bewusstsein darüber, dass das so ist, ist neben dem Ausprobieren und dem Verfolgen der vielen kleinen Initiativen in der Praxis, der erste Schritt auf einem langen Weg. Und dieses Bewusstsein kann umso mehr reifen, je intensiver die Auseinandersetzung damit ist — eben auch auf der theoretischen Seite. Dann kommen wir vielleicht dahin, dass sich der Denkrahmen erweitert und verschiebt und dass Gespräche über systemische Alternativen nicht mehr so schnell enden, sondern weiter führen und konstruktiv werden.


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Quellen und Anmerkungen:

(1) Joachim Fest: Der zerstörte Traum: Vom Ende des utopischen Zeitalters, Siedler Verlag, 1991, S. 93.
(2) Ebenda, Seite 11.
(3) Jürgen Nordmann: Machtelite als Gelehrten-Sekte. In: Björn Wendt, Marcus B. Klöckner, Sascha Pommrenke, Michael Walter (Hrsg.): Wie Eliten Macht organisieren, VSA Verlag, 2016, S. 135.


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